Politica | Verteilungsproblem

„Lei net rouglen"

„Lei net rouglen“: Geben wir damit das Südtiroler Verteilungsproblem aus der Hand?
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Foto: AFI-IPL

Pandemie, Krieg, steigende Energiepreise, Inflation. Stefan Perini, Direktor des Arbeitsförderungsinstituts (AFI) erklärt, warum gerade in Zeiten der Unsicherheit Verteilungsgerechtigkeit ein Thema wird und wie es in Südtirol darum bestellt ist. 

salto.bz: Die Unsicherheit, die aufgrund des Krieges in der Ukraine mitschwingt und steigende Energiepreise, es sind schwierige Zeiten und gleichzeitig haben wir coronabedingt bereits harte Zeiten hinter uns. Wie kommen die Südtiroler*innen damit zurecht?
Stefan Perini: Man kann überraschend festhalten, dass es mit Blick auf die Fähigkeit, mit dem Lohn über die Runden zu kommen, während Corona gar nicht so schlecht aussah. Unser AFI-Barometer (eine Umfrage, die jedes Quartal bei 500 Arbeitnehmer*innen gemacht wird) hat sogar gezeigt, dass Arbeitende in den düstersten Zeiten der Pandemie – also während der drei großen Lockdowns – sich leichter taten als vor Corona.

Woran lag das?
Der Grund dafür war der Einbruch der Konsumausgaben. Wir sprechen hier immerhin im Jahr 2020 von minus 16 Prozent. Man konnte aufgrund der Kontaktbeschränkungen beispielsweise nicht in den Urlaub fahren oder Veranstaltungen besuchen. Das machte es leichter, über die Runden zu kommen oder etwas auf die hohe Kante zu legen. Logisch war das nicht bei allen so. Die Schere in der Gesellschaft hat sich geöffnet. Und zwar zwischen Menschen, die einen sicheren oder „systemrelevanten“ Arbeitsplatz hatten, und jenen, die diesen branchenbedingt eben nicht hatten. Bei letzteren kam es zu Lohneinbußen durch Kurzarbeit oder im Extremfall zum Jobverlust.

Wie ging es weiter?
Die Wirtschaft hat wieder bedeutend an Schwung gewonnen. Letzten Sommer meinte man, das Schlimmste überwunden zu haben. Italien hatte es unter der Regierung Draghi in Hinsicht Wachstum europaweit an die Spitze gebracht. In den letzten Wochen eskalierte dann der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Die Probleme bei den Lieferketten und eine Erhöhung der Rohstoffpreise, mit denen man bereits vorher zu kämpfen hatte, verstärkten sich deutlich. Die Inflationsrate ist in Südtirol mittlerweile auf 8 Prozent geklettert.

Was bedeutet das nun für die Arbeitnehmer*innen?
Die Gehälter sind nicht inflationsgebunden. Vor dem Hintergrund steigender Lebenshaltungskosten bedeutet das eine geringere Kaufkraft. Das trifft vor allem Geringverdiener: Menschen, die viel mit dem Auto unterwegs sind und jene, die nicht in einem Klimahaus wohnen, sondern in einem Altbau mit Öl- oder Gasheizung. Solange sich die Inflation im niedrigen einstelligen Bereich bewegt, ist dies kein großes Problem. Hält ein Niveau wie heute über einen längeren Zeitraum an, bedeutet dies hingegen eine klare Verschlechterung für die Haushalte.

Je höher die Inflation, desto größer ist auch die Notwendigkeit, Lohnforderungen zum Thema zu machen…
So ist es. Die Gewerkschaften sind aktuell stark unter Druck. Es gibt zwei Möglichkeiten, um Verteilungsgerechtigkeit wiederherzustellen: Entweder die Privatwirtschaft reagiert mit Lohnerhöhungen, um die Inflation auszugleichen, oder Vater Staat greift ein und verteilt um, mit dem Ziel, den Wohlstand breit unter allen Gesellschaftsschichten zu streuen.

So wie der Staat auch während der Pandemie wiederholt eingegriffen hat?
Ja, aber da handelte es sich um Notmaßnahmen, welche die Kernschmelze des Wirtschaftssystems verhindern sollten. Man musste Arbeitsplätze und die Zahlungsfähigkeit der Unternehmen sicherstellen. Jetzt, wo wir wieder im Normalbetrieb sind, müssen wir die traditionellen Instrumente einsetzen.

Stichwort Verteilungsgerechtigkeit, warum braucht es sie und wie kann man sich das vorstellen?
Die Löhne haben nach Berechnungen des AFI im letzten Jahrzehnt nicht mit den Lebenshaltungskosten mitgehalten. Das ist keine gesunde Entwicklung. Wir beobachten das für die Privatwirtschaft und in verstärktem Maße für den öffentlichen Dienst, der dadurch an Attraktivität eingebüßt hat. Die Verteilungsgerechtigkeit besteht in der gerechten Verteilung der Gewinne und der Einkommen. Der Idealzustand wäre, wenn Verteilung so stattfindet, dass jeder Unternehmer einen fairen Gewinn bekommt und jeder Arbeitnehmer einen fairen Lohn, sodass im Grunde keine großen Korrekturen notwendig sind. Südtirol hat weniger ein Wachstumsproblem, sonder mehr ein Verteilungsproblem.

Südtirol hat weniger ein Wachstumsproblem, sondern mehr ein Verteilungsproblem.

Das würde der Politik viel Arbeit ersparen …
Ja, aber ich denke es ist den Politikern ganz recht, dass sie ein Budget haben, das sie verteilen können. Fakt ist, wir sind in einer Situation in der sehr viel umverteilt wird und werden muss. Internationale Studien zeigen, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet. Das Hauptaugenmerk liegt fälschlicherweise immer auf dem Wachstum, doch wir dürfen nicht nur auf die Steigerungsrate des Bruttoinlandsprodukts schauen, sondern darauf, wie die Wertschöpfung unter den sozialen Gruppen verteilt wird. 

Wie sieht die Verteilung des Volkseinkommens in Südtirol aus und inwiefern unterscheidet sich Südtirol hier von Restitalien?
Hier müssen wir uns die beiden Ebenen ansehen. Zum einen gibt es die Verteilung der Primäreinkommen, also der Unternehmensgewinne und Löhne. Bei letzteren legen die Kollektivverträge eine Untergrenze. Zum anderen die Umverteilung, die von der öffentlichen Hand gemacht wird. Südtirol ist in Italien die Provinz mit den höchsten Lebenshaltungskosten. Eine Analyse des AFI vor ein paar Jahren ergab, dass wir etwa 20 Prozent über dem staatlichen Schnitt liegen. 

Das bedeutet mit „römischen Löhnen“ wäre in Südtirol kein Auskommen?
Ja, damit die Verteilung der Wertschöpfung sozial gerecht erfolgt, muss man in erster Linie dafür sorgen, dass auch „Südtiroler Löhne“ gezahlt werden. Wir müssen durchsetzen, dass die Kollektivverträge um die höheren Lebenshaltungskosten in Südtirol korrigiert werden. Das kann über die zweite Verhandlungsebene geschehen. Neben den gesamtstaatlichen Kollektivverträgen gibt es in Italien sogenannte Gebiets-, aber auch Betriebsabkommen. Das bedeutet, man bekommt nicht nur gezahlt, wie im nationalen Kollektivvertrag vorgesehen, sondern ein Provinzelement kommt dazu. Wenn den Gewerkschaften hier gelingen würde, Lohnanpassungen durchzusetzen und die Arbeitgeber und Verbände hier zuvorkommend wären, wäre das die Basis, damit die Leute in Südtirol besser von ihrem Lohn leben können. Andernfalls muss das Land nachkorrigieren, z.B. mittels Wohnnebengeld, Mietbeitrag, finanzieller Sozialhilfe oder Zulagen im Bereich der Familie. 

Was belastet die Familien am meisten?
Größter Kostenfaktor ist das Wohnen, also die Abbezahlung eines Kredits oder die Mietkosten. Das macht zwischen 25-40 Prozent des Einkommens aus. Die Fachliteratur ordnet die Schmerzensgrenze bei etwa 30 Prozent ein.  

Wie kann die Umverteilung erfolgen, um die Haushalte zu entlasten?
Neben der Möglichkeit beim Primäreinkommen anzusetzen und über Gebietsverhandlungen oder individuelle Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber höhere Löhne zu erzielen, gibt es die Sozialtransfers. Hier interveniert der Staat, indem er Teil der Steuereinnahmen für die Umverteilung des Wohlstands einsetzt. Südtirol hat hier gewisse Spielräume. Zwei Drittel des Sozialbudgets geht in die Pflegesicherung. Der Rest entfällt auf Mietzuschüsse, Wohnnebengeld, die finanzielle Sozialhilfe sowie Familien- und Kindergeld.

Die Maxime war „Was wir selbst machen können, machen wir auch selbst.“

Was hat sich hier in den letzten Jahren getan?
Seit den 1970er Jahren war Südtirol stets sehr darauf bedacht, die Zuständigkeiten, die uns durch die Autonomie zugesprochen wurden, auszufüllen. Die Maxime war „Was wir selbst machen können, machen wir auch selbst.“ Dabei hat man oft über den Brenner geschaut und zum Beispiel eine Pflege- und Mindestsicherung nach österreichischem Vorbild eingeführt. Auch im Bereich des geförderten Wohnbaus wurden Gesetze erlassen, die von der staatlichen Regelung abweichen.

Auch die EEVE wurde von Südtirol erarbeitet, warum?
Ja, 2011 wurde die EEVE, die einheitliche Einkommens- und Vermögenserklärung, eingeführt. Das ist eine Berechnung, welche die wirtschaftliche Situation einer Familie ermittelt. Es geht darum, das Einkommen und die Vermögenssituation zu erfassen. Sie sollte das Referenzinstrument für alle einkommensabhängigen Sozialleistungen sein. 

Welche Vorteile brachte die Einführung der EEVE?
Zum einen hat man sich ein eigenes, vom Staat abgekoppeltes System aufgebaut, um die wirtschaftliche Bedürftigkeit von Antragstellern zu messen. Zum anderen wird dem Bürger damit der bürokratische Aufwand verringert. Er muss nicht mehr die unterschiedlichen Zettel ausführen und in verschiedene Ämter bringen. Die EEVE wird einmal im Jahr gemacht und ist Bezugspunkt für alle Sozialleistungen. 

Wann ist man müde geworden, sein eigenes System zu pflegen?
Das hat mit dem Bürgereinkommen angefangen, das vor einigen Jahren eingeführt wurde. Hier hätte man darauf bestehen müssen, dass Rom die Ressourcen zur Verfügung stellt, aber wir nach unserem System die Verteilung übernehmen. Es wurde aber eine Parallelität der beiden Systeme – nationales Bürgergeld und Südtiroler soziales Mindesteinkommen – zugelassen. Mit dem einheitlichen Familiengeld, das fünf verschiedene Familienleistungen vereint, hat man mit 1. März dieses Jahres nun für diese Leistungen das nationale System ISEE (Indicatore della situazione economica equivalente) übernommen. Ich stehe dem einheitlichen Familiengeld zwar positiv gegenüber, um zu bewerten, wer anspruchsberechtigt ist, hätte man allerdings am EEVE-System festhalten sollen.

Es scheint so, als wäre das Prinzip derzeit: Solange das Geld aus Rom kommt, wollen wir da nicht lange rütteln. Das übernehmen wir einfach so.

Das Ergebnis ist, dass wir nun ein Land und zwei Systeme haben. Was bedeutet das für Südtirol?
Im Wesentlichen lässt man es zu, dass das staatliche System bei einigen Leistungen dem Südtiroler System übergestülpt wird. Es scheint so, als wäre das Prinzip derzeit: Solange das Geld aus Rom kommt, wollen wir da nicht lange rütteln. Das übernehmen wir einfach so. Oder wie Silvius Magnago mal gesagt hatte: „Lei net rouglen.“

Die Vereinheitlichung und Vereinfachung, die man 2011 mit Einführung der EEVE gewonnen hat, ging also wieder verloren?
Landesrätin Waltraud Deeg würde nun sagen, es ist einfacher geworden, weil man für das Landesfamiliengeld nur die ISEE machen muss, hätte man an der EEVE festgehalten, müsste man zwei machen. Ich sehe es hingegen ein bisschen als trojanisches Pferd. Wir erlauben, dass in einigen Bereichen, bei denen wir primäre Zuständigkeiten haben, ein staatliches Instrument greift, obwohl wir es nach unseren Parametern bemessen und an der EEVE hätten festhalten können. Man gibt einen Teil des selbstkonstruierten Systems wieder auf und schafft gleichzeitig eine gewisse Verwirrung bei den Bürgern. Den Südtiroler*innen ist mittlerweile unklar, was nach der ISEE und was nach der EEVE berechnet wird. 

Worin liegt die Gefahr?
Es bestehen Befürchtungen, dass nach den Familienleistungen auch andere Leistungen, wie Bildungsleistungen, Mietzuschüsse und ähnliches nachziehen könnten. Unser mühsam erarbeitetes Südtiroler System könnte unter dem Vorwand der Vereinfachung zurückgefahren werden. Damit ließen wir uns ein gesamtstaatliches System aufstülpen, das nicht optimal auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist. Dass man die Parallelität mit dem Bürgergeld und der Mindestsicherung zugelassen hat, sehe ich als Präzedenzfall. Dadurch entstand bereits eine Zweigleisigkeit. Mit dem einheitlichen Familiengeld hat nun das staatliche System das lokale definitiv überlagert. Das könnte den Weg dafür ebnen, dass wir selbst bei primären Zuständigkeiten immer mehr die staatliche Wohlfahrt übernehmen. Und das wäre eine Rückentwicklung zu Ungunsten Südtirols und steht im Kontrast zu all dem, was wir in den letzten 50 Jahren erreicht haben.

Also sollten wir „lei awian rouglen“?
Die Stoßrichtung sollte jene sein, die EEVE weiterzuentwickeln. Denn sonst besteht die konkrete Gefahr, dass die EEVE der ISEE weicht und wir unser Südtiroler System aufgeben. Es gilt, unter die Lupe zu nehmen, wie gut unser Sozialsystem funktioniert, wer die Leistungsbezieher sind, ob es Mehrbezieher gibt und ob das Geld ankommt, wo es gebraucht wird. Wir sollten darauf pochen, diese Aufgabe nicht abzugeben und das lokale System nicht verschrotten.
 

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Josef Fulterer Dom, 04/17/2022 - 18:58

Die Politiker sollten die Gesetze so gestalten, dass normal arbeitende Bürger ohne die Zuwendungen zurecht kommen, die hauptsächlich nur zur Steigerung der Beliebtheit des Politikers eingesetzt werden, aber einen unverantwortlich hohen Verwaltungsaufwand erfordern.
Die Unterstützungstätigkeit sollte sich auf die deutlich wenigeren Fälle beschränken, die sich nicht selber helfen können.
Die Problemmatik der Politiker-Geld-Verteilung ist bei der Corona-Pandemie besonders aufgefallen. Firmen die durcharbeiten hätten können, haben um die Corona-Hilfe nicht zu verpassen, auf Kurzarbeit gesetzt und die Arbeitslosen-Kasse belastet. Auf dem Markt sind die Produkte knapp und Verteiler halten auch noch die Ware in der Hoffnung zurück, dafür einen noch höheren Preis zu erzielen.
Es gibt sogar Unternehmer die zugeben, dass die Corona-Hilfe, mehr als den erlittenen Schaden abgedeckt hat.

Dom, 04/17/2022 - 18:58 Collegamento permanente