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EUROPA

Ernsthaft? Was sollen wir noch über Europa schreiben? Was gibt es noch zu sagen?
Europa
Foto: Pixabay

Im Laufe dieser Woche wurden im Südtiroler Landtag die Siegertexte des Literaturwettbewerbs vorgelesen, den der Südtiroler Künstlerbund gemeinsam mit dem Landtag anlässlich des Europatags am 9. Mai veranstaltet hat. salto.bz hat die drei Texte veröffentlicht. Jener von Hanna Mayr (*1995) hat es nicht unter die Gewinner geschafft. salto.bz veröffentlicht den Text “EUROPA” auf Anfrage der Autorin dennoch gerne.

 


 

Ernsthaft? 

Was sollen wir noch über Europa schreiben? 

Was gibt es noch zu sagen? 

Haben wir den Begriff Europa nicht schon langsam abgenutzt? Mancherorts leuchtet er noch  strahlend. Als Schild. Als Flagge. Als Symbol. In prächtigen Häusern. In nagelneuen Institutionen.  Doch andernorts hat der Name bereits alle Leuchtkraft verloren. Wie ein Wort, das auf einem  Schmierzettel mit Bleistift geschrieben worden ist. Wo mangelnde Vorsicht und Pflege das Blatt  abgenutzt und zerknittert haben. Durch zu viele Hände gegangen und von zu vielen Mündern  zerkaut. Das Wort “Europa” ist jetzt kaum mehr zu entziffern. Bloß ein wertloser Fetzen Papier. 

Ich bin fünf Jahre alt. Barfuß laufe ich über den Rasen des Lidos. Ich bin auf der Hut nicht auf eine  Biene zu treten. Gleichzeitig halte ich etwas fest in beiden Händen, wie einen kleinen Vogel, der  droht zu entfliehen. Oma hat mir statt den alten Lira Euros zugesteckt. Ich hoffe, dass Oma sich  nicht verzählt hat und dass die Münzen für eine Kugel Eis reichen. Die Sonne brennt herunter  während ich zum Eisstand sause. 

Ich bin zehn Jahre alt und gehe noch zur Grundschule. Ich kann zwar nicht jedes Land in Europa  sofort auf der Landkarte finden, aber ich weiß ganz genau, wie sein Geld ausschaut. Ich habe  nämlich ein Sammelheft. Dank meinem wertvollen Heftchen kenne ich die einzelnen Münzen wie  meine Westentasche. Luxemburg zeigt eine Person im Profil mit einer komischen Nase. Ob es  eine Frau oder ein Mann ist, weiß ich leider nicht. Auf der finnischen Münze ist eine ulkige Blume  drauf. Sie schaut wie eine Seerose aus. Manche Münzen sind ein bisschen langweilig, andere sehr  schön. Die Münzen können prima Geschichten erzählen. Einige zumindest. Ich mag es, die  Münzen unter ein Blatt Papier zu legen und dann mit gespitztem Bleistift solange darüber zu  fahren, bis sich das Bild aufs Papier abfärbt. Ich bin stolz auf meine Sammlung. Sie ist schon zur  Hälfte voll.

Ich bin 15 Jahre alt und ich habe die Schnauze voll von der Welt. In Europa ist immer nur von  “Trennung” die Rede. Alle drohen gleich mit der Scheidung. Ist ja schlimmer als die Ehekrise  meiner Eltern! Mir stinkt es gewaltig. Im Grunde genommen ist Europa ja wie eine Patchwork Familie mit dem ganzen Drum und Dran: ungeliebten Stiefkindern; Kindern, die adoptiert werden  möchten, man aber noch nicht weiß, ob sie überhaupt in die Familie reinpassen; altmodischen  Tanten, modernen Onkeln. Das volle Programm. Logischerweise gibt es auch die Kernfamilie mit  jenen Mitgliedern, die das Sagen haben. Richtig nervig, wie sie die anderen rumkommandieren.  Ich verstehe ja, dass sie mehr Geld und Erfahrung haben und über die anderen, als wären sie  Minderjährige, bestimmen möchten. Dieses Gehabe geht auf Dauer aber nicht gut. Will jeder das  Sagen haben, dann endet doch alles nur im Streit. Alle müssen miteinander reden, wenn es eine  funktionierende Familie werden soll. Die sollten es doch schaffen, oder? Meine Eltern gehen auch  zum Familienpsychologen. Der lernt ihnen “richtig zu kommunizieren”. 

Ich bin 25 und frage mich, was Europa ist. Ein Wort, mit sechs Buchstaben? Zeus Geliebte? Ein  Kontinent, der ein Glied Asiens ist? Wiederholte Geschichte? Gemeinsame Zukunft? Europa ist  eine Idee. Ein Ideal, nach dem wir streben. Ein Stern am Firmament. Auf der Fahne der  Europäischen Union sind zwölf Sterne. Sie formen einen Kreis, der über uns schwebt, wie ein  Sternenzelt. Ein Gestirn voller Funken der Hoffnung. Unerreichbar erleuchtet es unsere Nacht. 

Der europäische Gedanke, so strahlend schön. Aber Überheblichkeit hat schon oft hässliche  Blutspuren mit sich gezogen. Geblendet vom Licht, kurzsichtig geworden. Werden die  Mauerwerke, die wir schützend um uns errichtet haben, der Zeit Stand halten oder über unseren  Köpfen einstürzen? 

Europa, reiß dir die Binde von deinen Augen! Schau hinaus, sieh um dich! Halten wir den Blick zu  eng, laufen wir Gefahr, den Rest der Welt aus den Augen zu verlieren. Die Katastrophen, die auf  uns zukommen, umfassen den gesamten Globus. Wenn wir die nächsten 100 Jahre als  Menschheit erblicken möchten, reicht es nicht mehr, europäisch zu sein. Nur als globale  Gemeinschaft, die eine Vision teilt, gibt es einen Lichtblick.

Ernsthaft? 

Was sollen wir noch über Europa schreiben? 

Was gibt es noch zu sagen? 

Ich bin ohne Alter und kenne keine Grenzen. Schaue ich nach oben, schaue ich gleichzeitig nach  unten. Inmitten des Weltalls, umgeben von Himmelskörpern suche ich nach Sternbildern. Ein  Mond umkreist Jupiter. Europa.