EUROPA
Im Laufe dieser Woche wurden im Südtiroler Landtag die Siegertexte des Literaturwettbewerbs vorgelesen, den der Südtiroler Künstlerbund gemeinsam mit dem Landtag anlässlich des Europatags am 9. Mai veranstaltet hat. salto.bz hat die drei Texte veröffentlicht. Jener von Hanna Mayr (*1995) hat es nicht unter die Gewinner geschafft. salto.bz veröffentlicht den Text “EUROPA” auf Anfrage der Autorin dennoch gerne.
Ernsthaft?
Was sollen wir noch über Europa schreiben?
Was gibt es noch zu sagen?
Haben wir den Begriff Europa nicht schon langsam abgenutzt? Mancherorts leuchtet er noch strahlend. Als Schild. Als Flagge. Als Symbol. In prächtigen Häusern. In nagelneuen Institutionen. Doch andernorts hat der Name bereits alle Leuchtkraft verloren. Wie ein Wort, das auf einem Schmierzettel mit Bleistift geschrieben worden ist. Wo mangelnde Vorsicht und Pflege das Blatt abgenutzt und zerknittert haben. Durch zu viele Hände gegangen und von zu vielen Mündern zerkaut. Das Wort “Europa” ist jetzt kaum mehr zu entziffern. Bloß ein wertloser Fetzen Papier.
Ich bin fünf Jahre alt. Barfuß laufe ich über den Rasen des Lidos. Ich bin auf der Hut nicht auf eine Biene zu treten. Gleichzeitig halte ich etwas fest in beiden Händen, wie einen kleinen Vogel, der droht zu entfliehen. Oma hat mir statt den alten Lira Euros zugesteckt. Ich hoffe, dass Oma sich nicht verzählt hat und dass die Münzen für eine Kugel Eis reichen. Die Sonne brennt herunter während ich zum Eisstand sause.
Ich bin zehn Jahre alt und gehe noch zur Grundschule. Ich kann zwar nicht jedes Land in Europa sofort auf der Landkarte finden, aber ich weiß ganz genau, wie sein Geld ausschaut. Ich habe nämlich ein Sammelheft. Dank meinem wertvollen Heftchen kenne ich die einzelnen Münzen wie meine Westentasche. Luxemburg zeigt eine Person im Profil mit einer komischen Nase. Ob es eine Frau oder ein Mann ist, weiß ich leider nicht. Auf der finnischen Münze ist eine ulkige Blume drauf. Sie schaut wie eine Seerose aus. Manche Münzen sind ein bisschen langweilig, andere sehr schön. Die Münzen können prima Geschichten erzählen. Einige zumindest. Ich mag es, die Münzen unter ein Blatt Papier zu legen und dann mit gespitztem Bleistift solange darüber zu fahren, bis sich das Bild aufs Papier abfärbt. Ich bin stolz auf meine Sammlung. Sie ist schon zur Hälfte voll.
Ich bin 15 Jahre alt und ich habe die Schnauze voll von der Welt. In Europa ist immer nur von “Trennung” die Rede. Alle drohen gleich mit der Scheidung. Ist ja schlimmer als die Ehekrise meiner Eltern! Mir stinkt es gewaltig. Im Grunde genommen ist Europa ja wie eine Patchwork Familie mit dem ganzen Drum und Dran: ungeliebten Stiefkindern; Kindern, die adoptiert werden möchten, man aber noch nicht weiß, ob sie überhaupt in die Familie reinpassen; altmodischen Tanten, modernen Onkeln. Das volle Programm. Logischerweise gibt es auch die Kernfamilie mit jenen Mitgliedern, die das Sagen haben. Richtig nervig, wie sie die anderen rumkommandieren. Ich verstehe ja, dass sie mehr Geld und Erfahrung haben und über die anderen, als wären sie Minderjährige, bestimmen möchten. Dieses Gehabe geht auf Dauer aber nicht gut. Will jeder das Sagen haben, dann endet doch alles nur im Streit. Alle müssen miteinander reden, wenn es eine funktionierende Familie werden soll. Die sollten es doch schaffen, oder? Meine Eltern gehen auch zum Familienpsychologen. Der lernt ihnen “richtig zu kommunizieren”.
Ich bin 25 und frage mich, was Europa ist. Ein Wort, mit sechs Buchstaben? Zeus Geliebte? Ein Kontinent, der ein Glied Asiens ist? Wiederholte Geschichte? Gemeinsame Zukunft? Europa ist eine Idee. Ein Ideal, nach dem wir streben. Ein Stern am Firmament. Auf der Fahne der Europäischen Union sind zwölf Sterne. Sie formen einen Kreis, der über uns schwebt, wie ein Sternenzelt. Ein Gestirn voller Funken der Hoffnung. Unerreichbar erleuchtet es unsere Nacht.
Der europäische Gedanke, so strahlend schön. Aber Überheblichkeit hat schon oft hässliche Blutspuren mit sich gezogen. Geblendet vom Licht, kurzsichtig geworden. Werden die Mauerwerke, die wir schützend um uns errichtet haben, der Zeit Stand halten oder über unseren Köpfen einstürzen?
Europa, reiß dir die Binde von deinen Augen! Schau hinaus, sieh um dich! Halten wir den Blick zu eng, laufen wir Gefahr, den Rest der Welt aus den Augen zu verlieren. Die Katastrophen, die auf uns zukommen, umfassen den gesamten Globus. Wenn wir die nächsten 100 Jahre als Menschheit erblicken möchten, reicht es nicht mehr, europäisch zu sein. Nur als globale Gemeinschaft, die eine Vision teilt, gibt es einen Lichtblick.
Ernsthaft?
Was sollen wir noch über Europa schreiben?
Was gibt es noch zu sagen?
Ich bin ohne Alter und kenne keine Grenzen. Schaue ich nach oben, schaue ich gleichzeitig nach unten. Inmitten des Weltalls, umgeben von Himmelskörpern suche ich nach Sternbildern. Ein Mond umkreist Jupiter. Europa.