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Perfekte Symphonie ohne Dirigent

Ein Orchester ohne Dirigent und bei dem die Musiker nach jedem Stück ihre Plätze tauschen. Alexander Scheirle über das New Yorker Orpheus Chamber Orchestra.
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Foto: Privat
Alexander Scheirle ist Geschäftsführer des Orpheus Chamber Orchestra in New York. Das mehrfach preisgekrönte Orchester hat eine einzigartige demokratische Struktur, die ohne die traditionellen Hierarchien klassischer Orchester auskommt. Das fördert Kreativität, Eigeninitiative und Motivation. Dieses Organisationsmodell ist inzwischen eine eingetragene Marke und wird zunehmend auch außerhalb der Musikwelt in Universitäten, Organisationen und großen Unternehmen angewandt.Am Samstag, den 18. Mai spricht Alexander Scheirle bei den TED Talks in Bozen über den innovativen Ansatz des Orpheus Modells. 
Salto.bz hat vorab mit ihm gesprochen.

Salto.bz: Herr Scheirle, das Thema der TEDTalks Bozen ist heuer „Break Free“, über was genau werden Sie bei den Talks sprechen?

Alexander Scheirle: Über die Funktion des Dirigenten und die große Frustration von Orchestermusikern: das sind bekanntlich kreative Persönlichkeiten, die sich aber so ins Orchester einfügen müssen, dass man sie nicht heraushört. Man ist aber ist seiner Kreativität gehemmt, wenn man einen Chef vorne stehen hat, der alles entscheidet: welche Werke man spielt, wie man sie spielt und welche Solisten sie spielen dürfen. Diese Beschneidung der Kreativität staut sich über Jahre auf und ist sehr frustrierend. Das Orpheus Orchester macht es anders: es ist so strukturiert, dass die einzelnen Musiker sich entfalten können. Dabei kommt ein ganz anderes Endprodukt heraus: die Konzerte sind viel emotionaler und befriedigender. Das Prinzip ist auch auf andere Arbeitsbereiche und Unternehmen übertragbar. 
Wir zeigen in den Unternehmen, dass man die gleichen Arbeitsprozesse auch komplett anders angehen kann.
Natürlich ist es gut eine charismatische Führungsfigur zu haben, aber die Struktur dahinter kann man auch ganz anders aufbauen als nach dem Top-Down Management Prinzip. Die Qualität eines Produkts oder einer Dienstleistung verbessert sich, wenn die Einzelnen mehr Entscheidungsfreiheit und Verantwortung haben und kreativ sein dürfen.
 
Wie genau funktioniert das Orpheus Orchester und wie ist es entstanden?

Das Orpheus Orchester ist 1972 von dem Cellisten Julian Fifer gegründet worden. Anstatt eines Dirigenten, wechseln sich die einzelnen Musiker in der Leitung des Orchesters bei den Musikstücken ab. Dabei rotieren auch die Positionen im Orchester. Wenn wir z.B. an einem Abend 3-4 Stücke spielen, wird bei jedem Stück rotiert, dann gibt es einen anderen Bass, eine andere 1. und 2. Geige, eine andere 1. Oboe usw. Es gibt bei uns schon noch eine Hierarchie, wir nennen es die „core group“ (Kerngruppe). Sie hat das letzte Wort in Situationen wo es keinen Konsens gibt, damit die Diskussion nicht ins Endlose geht. Die Musiker in dieser Kerngruppe rotieren jedes Mal, also nicht nur für jedes Konzert sondern für jedes Stück. Das heißt die Musiker verlassen nach jedem Stück die Bühne und setzen sich für das nächste Stück auf eine ganz andere Position. Sonst ergeben sich immer irgendwelche eingefahrenen Strukturen. Und dadurch, dass vorne kein Dirigent steht, der das Stück zusammenhält, muss jeder Musiker hundertprozentig dabei sein und das gesamte Stück hindurch konzentriert und aufmerksam bleiben, so entsteht keine Routine, die wiederum schlecht für die Motivation wäre.
 
Sie sind der Geschäftsführer, es gibt also bei aller Hierarchielosigkeit doch noch eine höhere Entscheidungsebene, jemanden, der das letzte Wort hat?

In der Musik, auf der Bühne hat niemand, wenn nicht die rotierenden Musiker der Kerngruppe, das letzte Wort. Für die künstlerische Leitung und die Programmausrichtung, haben wir 3 Musiker die von den anderen Musikern zum künstlerischen Leiter gewählt werden. Sie werden also nicht von mir als Geschäftsführer eingesetzt, sondern vom Orchester frei gewählt. Mit diesen drei Musikern treffe ich mich einmal pro Woche und wir besprechen die Programme und alles was die Organisation betrifft. 
Auch innerhalb der Verwaltung ist die Teamarbeit extrem ausgeprägt. Natürlich könnte ich als Geschäftsführer rein theoretisch alles bestimmen und es gab vor mir auch Leute in meiner Position, die das so gemacht haben. Aber die waren nach einem halben Jahr erledigt, weil das in diesem Umfeld einfach nicht funktioniert. Wenn man das auf der Bühne nach dem demokratischen Prinzip macht, kann man es in der Verwaltung nicht komplett anders machen, das würde niemals akzeptiert. 

Der „Orpheus Process“ ist inzwischen ein patentiertes Produkt?
 
Ja, wir touren regelmäßig durch Universitäten, Business Schools und Unternehmen, die ihren Studenten und Mitarbeitern kreative Herangehensweisen in der Zusammenarbeit, Kommunikation und in der Konfliktlösung zeigen wollen.Wichtige Stichworte des Orpheus Process sind die Rotation der Positionen, gemeinsames Vertrauen, eine auf alle verteilte Entscheidungsfähigkeit und die kollektive Verantwortung für das Endprodukt.
 

Insbesondere große Unternehmen haben das Problem, dass sie sehr vertikal strukturiert sind. Das hat sich natürlich durch die Start-Up Unternehmenskultur der letzten 20 Jahre sehr gebessert, und inzwischen sind auch Open Space Büros sehr verbreitet, in denen jeder miteinander arbeitet. Aber es reicht nicht, wenn man nur die Räumlichkeiten umgestaltet, man muss auch die Arbeitskultur verändern und die richtigen Leute einstellen, die mit dieser offenen Organisationsstruktur klar kommen. Wir zeigen in den Unternehmen, dass man die gleichen Arbeitsprozesse auch komplett anders angehen kann. 

Wie sind Sie zu Orpheus gekommen? War das genau der Lebensweg, den Sie sich schon als Kind vorgestellt haben? 

Nein, gar nicht. Ich habe schon früh Cello gespielt, es hat mir auch immer Spaß gemacht und ich war auch relativ gut, aber es war nicht seit jeher mein Berufswunsch. Mit 18  habe ich einen großen deutschlandweiten Jugendwettbewerb gewonnen und daraufhin beschlossen Cello zu studieren. Was sich aber schon während des Studiums herauskristallisierte ist, dass ich oft gefragt wurde die Organisation für Konzerte zu übernehmen. Vielleicht kommt das daher, dass ich in eigenen Dingen immer recht gut organisiert bin. Dann habe ich 1990 zusammen mit anderen Musikern die Kammerphilharmonie in München gegründet, die sich am Orpheus Modell orientierte und habe auch die Verwaltung übernommen. Daraufhin wurde mir dann die Stelle im Management des Crested Butte Festival in Colorado angeboten und so hat sich das immer weiter entwickelt. Es war aber alles nicht geplant, sondern eines hat zum anderen geführt.   
 
Das Musikfestival in Colorado war sicher ein komplett anderes Zielpublikum als das des Orpheus Orchesters in New York? Wo liegen die Unterschiede als Kulturschaffender in Colorado oder in New York zu arbeiten?

Ja, das ist ein großer Unterschied. Die Besucher in Colorado sind Touristen, die wollen unterhalten und nicht herausgefordert werden. Generell ist jedes Publikum anders. Wenn wir hier in New York in der Carnegie Hall spielen ist das Publikum sehr traditionell und auch etwas älter, da muss man auch das Programm recht konservativ planen. Wenn es aber an die Westküste geht oder nach Deutschland, dann kann man schon ein anderes Programm bringen. Generell gilt, man darf als Kunstbetrieb die Programme nie für sich selbst machen, diesen Fehler machen aber viele. Wenn das Programm zu ambitioniert ist, merkt man schnell, dass die Leute wegbleiben. Das habe ich am Anfang auch erst lernen müssen, denn die Kulturszene in Deutschland ist ja ganz anders finanziert und subventioniert als hier in den USA. 
Die Musiker in dieser Kerngruppe rotieren jedes Mal, also nicht nur für jedes Konzert sondern für jedes Stück. Das heißt die Musiker verlassen nach jedem Stück die Bühne und setzen sich für das nächste Stück auf eine ganz andere Position. 
In den USA muss man viel mehr darauf achten, dass man die Programme fürs Publikum macht und nicht für sich selbst, weil man sich durch die verkauften Tickets finanzieren muss. Innerhalb des Orchesters ist das oft schwer zu vermitteln, weil exzellente, hochgebildete Musiker nicht unbedingt überblicken welche finanziellen Auswirkungen es hat, wenn dem Publikum das Programm „zu hoch“ ist. Auch das versuchen wir dann intern in unserer demokratischen Weise zu regeln.
 
Das Thema der TED Talks ist heuer „Break Free“. Was war in Ihrem Leben ein Break Free Erlebnis, etwas wo sie gemerkt haben, dass Sie den Rahmen sprengen müssen?

Ich komme aus einem kleinen Ort in der Nähe von Stuttgart, keiner aus meiner Familie hat sich besonders weit weg bewegt. Ich bin mit 18 nach England studieren gegangen, ich hatte diesen Drang ins Ausland zu gehen. Nicht, weil ich mich eingeengt fühlte, sondern weil ich etwas Neues machen wollte.  Auch der Umzug samt Familie in die USA für das Crested Butte Festival in Colorado war nochmal so ein Sprung ins Neue, der meine Sichtweise komplett verändert hat. Es ist wichtig, mehrere Perspektiven kennenzulernen. Wenn man immer nur im Altbekannten bleibt, verengt sich der Blick. 
Die Eingliederung farbiger Musiker in die klassischen Orchester sollte selbstverständlich sein und kann meines Erachtens nicht nur durch irgendwelche Quotenverordnungen erreicht werden.
Für so einen Perspektivenwechsel ist mein Leben in New York ideal, hier leben so viele verschiedene Menschen zusammen, dass man alles schon mal gesehen hat und es juckt hier keinen, ob man jetzt zum Beispiel mit blauen Haaren in der U-bahn sitzt.  Aber meine persönlichen Break Free Momente waren nicht geplant. Sie haben sich ergeben und als ich diese Entscheidungen gefällt habe, war mir auch nicht bewusst, dass es sich um einen Break Free Moment handelt. Irgendwas in mir wollte das und wenn ich jetzt zurückblicke, weiß ich auch warum diese Entscheidungen genau richtig waren. 

Sie und das Orchester sind auch in Kampf gegen den Rassimus aktiv.
 
Ein sehr gewollter und geplanter befreiender Moment hat mit dem Orpheus Orchester und mit der Diversity Debatte in den USA zu tun: in den klassischen Orchestern sind nur circa 1,8 Prozent afro-amerikanische Musiker und nur 2,5 Prozent Latino Musiker.  Es gibt aber ein Orchester, das nur aus farbigen, schwarzen und Latino Musikern besteht. Die habe ich einfach angerufen und gesagt: „lasst uns zusammen spielen!“ Und so kam es dazu, dass wir nächstes Jahr im Mai ein gemeinsames Konzert in der Carnegie Hall in New York geben.  Das ist immerhin ein erster Schritt. Die Eingliederung farbiger Musiker in die klassischen Orchester sollte selbstverständlich sein und kann meines Erachtens nicht nur durch irgendwelche Quotenverordnungen erreicht werden.