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Sachbeschädigung? Oder doch Kunst?

Harald Naegeli, Reto Hänny und die Demonstration der Kulturleichen.
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Foto: salto books

Was im Spätsommer 1981 mit einer Demonstration vor Zürichs Opernhaus gegen die Förderung ausschließlich etablierter Kultur begann - "Wir sind die Kulturleichen dieser Stadt", hieß es auf einem Transparent - endete mit einer Razzia im erst kurz zuvor gegründeten Autonomen Jugendzentrum. Bald darauf wurde die Schließung beschlossen. Bis es soweit war, kam es in der Schweizer Metropole täglich zu Protesten, die häufig in Krawalle ausarteten, auf die wiederum Hunderte von Festnahmen folgten.

Gesucht von der Zürcher Polizei wurde auch ein Unbekannter, der über den Zeitraum von drei Jahren rund 600 Strichmännchen an die Betonfassaden der vielen Hochhäuser gesprüht hatte. Doch es sollte lange dauern, bis der Gejagte seinen Häschern ins Netz ging. Festgenommen wurde der mittlerweile per internationalem Haftbefehl gesuchte Sprayer von Zürich auf der deutschen Insel Fehmarn und anschließend der Schweizer Justiz überstellt. Die verurteilte ihn ein Jahr später wegen Sachbeschädigung zu einer sechsmonatigen Haftstrafe ohne Bewährung und einer Geldstrafe von 100 000 Franken.

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits zahlreiche Proteste aus dem In- und Ausland geregt, unter anderem von Willy Brandt und Joseph Beuys: Harald Naegeli, so hieß der Unbekannte, sei doch in Wirklichkeit ein Künstler. Dass er ein solcher war, bewies Naegeli in der Haftanstalt, deren ursprünglich kahle Wände er erfinderisch gestaltete. Wer ihm wohl das Spray geliefert hatte? Harald Naegeli hat dann auch in der Freiheit weitergesprüht. Aus Sachbeschädigung wurde ganz offiziell Kunst, und selbst die spießigsten Schweizer Landsleute aus finstersten Zürcher Tagen sahen in den ‚Gespraye‘ zumindest keinen Straftatbestand mehr.

"Im Morgen-Grauen des vierten September fuhr die Polizei vor", schrieb der Chronist Reto Hänny, "von den 178 im Hause überraschten wurden 137 Personen ins Kripo-Gebäude abgeliefert - wie viele von dort aus, später, weiter ins Kantonsspital, wobei der Transport, selbstverständlich, den dorthin Transportierten verrechnet wird, steht nicht in der Zeitung."

 

 

Zwei Monate nur hatte das Experiment Bestand, den Zürcher Jugendlichen einen selbstverwalteten Treffpunkt zur Verfügung zu stellen. Das Ergebnis der Polizeiaktion war demjenigen der Rockband Ton Steine Scherben in ihrem Lied über ein autonomes Berliner Jugendhaus ein Jahrzehnt zuvor verblüffend ähnlich: "Vier Monate später stand in Springers heißem Blatt [gemeint ist die Bild-Zeitung], das Georg von Rauch-Haus ist eine Bombenwerkstatt. Der deutliche Beweis sind zehn leere Flaschen Wein, und zehn leere Flaschen können schnell zehn Mollis sein." Molotow-Cocktails und andere Brandbeschleuniger, Waffen oder harte Drogen wurden bei der auf die Räumung folgenden Durchsuchung keine gefunden, obwohl die Staatsanwaltschaft sehr bemüht war, harmlose zu gefährlichen Gegenständen hochzustilisieren.

Die Folge der Schließung waren weitere Demonstrationen enttäuschter Jugendlicher, die nun, auch provoziert von einer immer härter reagierenden Polizei, tatsächlich immer gewalttätiger wurden. Das Autonome Jugendzentrum wurde tatsächlich wieder geöffnet, wenn auch nur vorübergehend. Es bestand noch bis Mitte März 1982 weiter, dann wurde es wegen Geldmangels endgültig zugemacht. Fast gleichzeitig bewilligte der Zürcher Stadtrat 60 Millionen Franken für die Renovierung des Opernhauses.

Ein Film über die Krawalle mit dem Mundarttitel Züri brännt kam auch in deutsche Kinos und erfreute sich großen Zulaufs. Im Suhrkamp Verlag erschien Reto Hännys literarischer Bericht über die Ereignisse: Zürich, Anfang September. Er begründete den Ruhm des Aitors, der später, 1994, mit einem anderen Text (Guai) den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.

 

 

Und Harald Naegeli? Geschichte wiederholt sich! Als der Künstler sein Graffitiprojekt Totentanz, am Zürcher Grossmünster begonnen, auch auf Mauern und Wänden im restlichen Stadtgebiet fortsetzte, erhob der Kanton Anzeige wegen, nun ja, Sachbeschädigung. Die Metropole dagegen ehrte Naegeli mit dem Zürcher Kunstpreis. Auch das Kunsthaus Zürich hatte laut Wikipedia gegen Naegeli Klage geführt. Doch dann besann man sich eines Besseren: Ab dem 21. September wird dort die Dokumentation Harald Naegeli  - Der Sprayer von Zürich gezeigt. Zudem läuft, seit Anfang September, im Musée Visionnaire die Ausstellung Harald Naegelider bekannte Unbekannte.

Bereits zuvor erschien, als Zusammenarbeit der Verlage Steidl (Göttingen) und Diogenes (Zürich), der Band Wolkenpost. Vom Künstler selbst verfasst, enthält er neueste Graffiti, Cartoons, Zeichnungen und Photographien, dazu poetische Betrachtungen vor allem über Begegnungen zwischen Mensch und Tier sowie gewohnt rebellische Texte, die Naegelis unzerstörbaren Glauben an die Utopie und seine Sicht auf die Sachbeschädigung, pardon: Kunst offenbaren.