Società | Terror

Das Leben der Anderen

Über Paris und Beirut, Flüchtlinge und Terroristen, Kriege und den Islam.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.

Ich weiß, dass das Letzte, was es jetzt braucht, ein weiteres besserwisserisches Posting über die Geschehnisse der vergangenen Tage ist. Und mehr als ein paar wirre Assoziationen habe ich auch nicht zu bieten. Loswerden möchte ich sie irgendwie trotzdem.

Die „europäischen Werte“, die wir jetzt alle durch den IS angegriffen sehen, beruhen im Wesentlichen auf der Allgemeinen Erklärung der Menschrechte. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Warum sind aber Terroranschläge nur dann ein „Anschlag auf die Humanität“ und rufen „uneingeschränkte Solidarität“ hervor, wenn sie in Westeuropa oder Nordamerika passieren?

Warum haben wir von den über 40 Toten in Beirut (mich eingeschlossen) kaum Notiz genommen und keine Dauersondersendung vorgesetzt bekommen? Warum hat Facebook kein Overlay der türkischen Fahne zur Verfügung gestellt, als 95 Teilnehmer einer Friedensdemo in Ankara einem Terroranschlag zum Opfer fielen? Wo waren die „Ich bin Russland“-Profilbilder und „Wir sind vereint“-Sprüche der Politiker als über 200 russische Zivilisten in einem Flugzeug aller Wahrscheinlichkeit nach wegen einer IS-Bombe ihr Leben lassen mussten? Zu ihnen allen hatten wir wohl genau so viel/wenig Bezug wie zu den Opfern in Frankreich. Es ist sehr schwierig, nicht von Heuchelei zu sprechen, wenn dann auch noch auf die „europäischen Werte“ Bezug genommen wird.

Wobei – ganz so eine europäische Eigenart ist diese selektive Solidarisierung auch nicht. Wenn Israel Gaza bombardiert, erleben wir auf der ganzen Welt – und auf Facebook – Solidaritätskundgebungen von Muslimen. Die Verbundenheit zu den palästinensischen Glaubensbrüdern wird beschworen. Israelische Flaggen werden verbrannt. Der IS hat tausende Muslime niedergemetzelt. Dennoch hab ich noch kaum brennenden IS-Flaggen bei Massenprotesten in arabischen Städten gesehen.

Die Länder der europäischen Union sind zusammengenommen hinter den USA die größten Waffenexporteure der Welt. Von 2005 bis 2009 waren wir sogar die Nummer 1. Vor den USA und Russland. Westliche Waffentechnik hat im Mittleren Osten wohl zigmal mehr Zivilisten auf dem Gewissen als alle islamistischen Terrororganisationen zusammengenommen. Das ist irgendwie so, wie wenn ein Zigarettenhersteller zum Krebskranken sagt: „Was kann ich dafür, wenn du die Dinger rauchst, die ich dir verkauft habe?“

In Saudi Arabien werden regelmäßig (vielleicht sogar freitags) Menschen geköpft oder verstümmelt. Die Praktiken sind ident mit jenen des IS. Saudi Arabien ist ein wichtiger Verbündeter, die IS-Schergen sind mittelalterliche Barbaren. Wie gesagt, es ist sehr schwierig, nicht von Heuchelei zu sprechen. Die offensichtliche Heuchelei ist jedoch ein hervorragender Nährboden für den IS. Dieser Umstand wäre einmal ein guter Anknüpfungspunkt im „War on Terror“. Nach Frankreichs „Kriegserklärung“ befürchte ich aber, wir werden es neuerlich mit jenen Mitteln versuchen, die den IS erst florieren ließen. Die finanzielle Unterstützung aus Saudi Arabien und das jahrelange „Gewährenlassen“ des IS durch den Westen, in der Hoffnung, diese Spinner würden helfen, Assad zu stürzen, bräuchte es dann wahrscheinlich gar nicht mehr.

Wobei das mit der „Kriegserklärung“ auch so eine Sache ist. „Der IS hat dem Westen den Krieg erklärt“, heißt es. Wir sehen uns wieder einmal im Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Dabei sind „wir“ bislang doch nur eine Nebenfront. Die Hauptopfer des IS-Terrors sind Iraker, Syrer, Kurden usw. Meist also Menschen muslimischen Glaubens. Die erleben Paris tagtäglich. Tausende sind bereits ums Leben gekommen.

Umso zynischer ist es, wenn jetzt manche die Flüchtlinge in Europa mit dem Terrorismus in Frankreich in Verbindung bringen. Der Großteil der Menschen, die zu uns kommen, flieht genau vor dem, was in Paris passiert ist. Natürlich werden sich unter den Flüchtlingen auch Menschen mit bösen Absichten befinden. Aber das kann doch kein Grund sein, Hilfesuchenden pauschal Hilfe abzusprechen. Nach der gleichen Logik müssten wir alle Männer prophylaktisch ins Gefängnis stecken, weil mit Sicherheit auch Kinderschänder unter ihnen sind.

Überdies ist der IS kein Problem, das ausschließlich „von außen“ kommt. Viele Kämpfer und Attentäter der Terrormiliz sind in Europa geboren bzw. sind europäische Konvertiten.

Schlimm ist auch, dass wir in der Beurteilung der Attentate die Mitte verloren haben. Wenngleich sich alle einig sind, dass solche Taten durch nichts zu rechtfertigen sind, sind die Erklärungsversuche diametral entgegengesetzt. „Der Islam ist eine Religion des Friedens und die Attentate haben mit dem Islam nicht das geringste zu tun“ vs. „Der Islam ist eine rückständige, intolerante Ideologie, die Gewalt säht und nicht mit unseren Werten kompatibel ist. Gemäßigte Muslime, distanziert euch gefälligst von den Anschlägen!“. Oder „Die Kriege des Westens sind schuld, nicht der Islam“ vs. „Nur durch einen entschlossenen ‚War on Terror‘ können wir die Islamisten besiegen“.

Gemein ist allen Erklärungsversuchen, dass sie durch eine Kopf-in-den-Sand-Taktik die Augen vor Zusammenhängen verschließen und in Richtung einer exklusiven Opferrolle tendieren. Zu sagen, die Attentate hätten nichts mit dem Islam zu tun, ist wie zu behaupten Deutschland habe nichts mit dem Holocaust oder die Kreuzzüge und die Inquisition hätten nichts mit dem Christentum zu tun. So pervers die Verbindung auch sein mag, sie ist definitiv da. Der IS-Terror ist ein Problem (auch) des Islam. Viele islamisch geprägte Länder des Mittleren Ostens und Nordafrikas haben beginnend mit 1979 (Islamische Revolution im Iran, Besetzung der Großen Moschee in Mekka) in großen Teilen eine Glaubensrichtung eingeschlagen, die im Vergleich zur Mitte des vorigen Jahrhunderts rückschrittlich ist. Ganz zu schweigen von der weltweiten Vorreiterrolle dieser Länder in nahezu allen Belangen vor 900 Jahren. Grob gesagt wurden intellektuelle Neugier und schöpferischer Gestaltungswille, die den Islam über Jahrhunderte prägten, durch ein unhinterfragtes Befolgen von Regeln und Autorität (Formalismus) und die hanbalitische Rechtsschule ersetzt. Dieses geistige Umfeld führt natürlich nicht notwendigerweise in den Terrorismus, aber im Gegensatz zur vorherrschenden historisch-kritischen Bibelexegese und einer gewissen Wissenschaftsaffinität des durch die griechische Antike mitgeprägten Christentums, ist letzteres heutzutage weniger anfällig für Bewegungen im Stile des IS. Daran kann auch ein Anders Breivik, der sich auf das Christentum berufen hat und dieser Tage gerne als „christlicher Vorzeigeterrorist“ strapaziert wird, nichts ändern.

Doch weder der Islam als solcher, noch die Heuchelei und Kriege des Westens tragen die alleinige Schuld an der derzeitigen Katastrophensituation. Es ist ein komplexes Zusammenspiel von „externen“ geschichtlichen Ereignissen (Angefangen von den Kreuzzügen über die Kolonialisierung  bis hin zur Installation/Unterstützung diktatorischer Regime durch den Westen sowie den militärischen Interventionen der jüngsten Vergangenheit), „internen“ arabisch/persischen Richtungswechseln und europäischem Versagen in der Integrationspolitik, die zur heutigen Situation geführt haben. Dementsprechend kann ein Ausweg nur dann gefunden werden, wenn an allen Stellschrauben gedreht wird – vorausgesetzt wir drehen in die gleiche Richtung.

Ursprünglich erschienen auf www.brennerbasisdemokratie.eu

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Franz Linter Mar, 11/17/2015 - 09:09

Danke für diesen guten Beitrag. Nur der letzte Teil des vorletzten Absatzes ist mir zu fatalistisch. Wenn man selbst keine Lösung sieht, muss man nicht gleich ein synchronisiertes Verhalten aller Beteiligten als Lösungsvoraussetzung erfordern.
Jetzt sind bedächtige Stimmen besonders wichtig, meintwegen auch mit Ironie (http://www.der-postillon.com/2015/11/franzosische-kampfjets-bringen-gew…). Mir kommt vor, dass man gerade eine überkochende Milch nur durch Hinzufühen weiterer Milch beseitigen will, deshalb braucht es Beiträge wie diesen.

Mar, 11/17/2015 - 09:09 Collegamento permanente
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Harald Knoflach Mar, 11/17/2015 - 12:28

Ich warte indes schon gespannt auf die Schlagzeile:
"Die französische Luftwaffe bombardiert seit heute Morgen gezielt IS-Strongholds im Stadtteil Molenbeek in der Dschihadisten-Hochburg Brüssel."

Mar, 11/17/2015 - 12:28 Collegamento permanente