Società | Sigmundskron 1957

Eine langweilige Rede

Die Kundgebung von Sigmundskron ist eng mit einem Mann und seiner Rede verbunden: Silvius Magnago. Dieser Tag hat Magnago zum Mythos gemacht.
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Foto: Privat
 
 
„Der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort“
Franz Widmann über Silvius Magnago
 
 
Wolfgang Pfaundler hat den Blick für Motive. Der Nordtiroler Fotograf, Journalist und spätere Südtirol-Attentäter war einer der 35.000 Menschen, die sich an diesem Samstag im November 1957 ins Schossrund von Sigmundskron drängten. „Allein schon, wie er da hinaufgestiegen ist, das war schon eine bühnenreife Szene“, erinnert sich Pfaundler, „ein Vertreter der Kriegsgeneration, der im Krieg ein Bein verloren hat, wie er mit einem Hax diese Leiter auf das Podium hinaufsteigt, das war beeindruckend.
Es die wohl eloquenteste Beschreibung der Figur Silvius Magnago. Der Mann macht wie kaum ein Politiker allein durch sein Erscheinungsbild betroffen. Großgewachsen, hager, beinamputiert und mit den zwei Krücken macht er den Eindruck eines Asketen, der jede Sekunde zu stürzen droht. Diese Figur, die aus Don Quichotte zu entstammen scheint, zieht einen unweigerlich in ihren Bann. Dazu kommt eine Stimme, die sich immer wieder überschlägt und zwischen dem Brustton der Überzeugung und dem hysterischen Akkusativ hin- und herpendelt.
Diese Figur, die aus Don Quichotte zu entstammen scheint, zieht einen unweigerlich in ihren Bann.
Silvius Magnago kennt seine Wirkung, und er hat sie zeit seins Lebens bewusst ausgenutzt und eingesetzt. Auch am 17. November 1957 auf Schloss Sigmundskron. „Ich bin spät gekommen, und habe ein kochende, aufgebrachte Menge erlebt“, sagt er fast 40 Jahre später in einem Interview mit dem Autor, „deshalb musste ich mit meiner Rede die Leute eher beruhigen.
Dabei ist und war Silvius Magnago nie ein großer Redner.
 
 

Mitläufer, Wehrmacht, NS-Beamter

 
Als Sohn eines Trentiner und einer Vorarlbergerin, 1914 geboren. ist Silvius Magnago im wahrsten Sinne ein Kind des alten Tirol. In Meran und Bozen aufgewachsen, tendiert der junge Silvius, den damals alle nur „Nino“ rufen, zum Italienischen. Magnagos Vater, der Bezirksrichter war, arrangiert sich mit dem hereinbrechenden Faschismus und lässt den Sohn in die italienische Volksschule gehen. Auch deshalb schreibt und spricht Silvius Magnago besser Italienisch als Deutsch.
Inmitten der Schwarzhemden in der Schule ist Magnago ein Mitläufer. Auch dann, als es darum geht, bei der Option sich für das „Bleiben“ oder das „Gehen“ ins Deutsche Reich zu entscheiden. Silvius Magnago optiert als Einziger seiner Familie für Deutschland und wird, nachdem er 1938 in Bologna zum Doctor iuris promoviert hatte, Beamter des NS-Regimes. Zuerst in Bozen, dann in Innsbruck arbeitet er für die so genannte „Wertfestsetzungskommission“. Es sitzt damit im Organisationszentrum der für Südtirol so verhängnisvollen Option für Großdeutschland. Eine Tatsache, die Silvius Magnago nachhaltig geprägt und später zum persönlichen Verdängen dieses Themas geführt hat. Der öfters gebrauchte Satz „Lei net aufrougglen“ war nicht nur Ausdruck einer kollektiven Geschichtsklitterung, sondern auch die Angst vor der persönlichen Biographie.
 
Im Jänner 1943 wird Silvius Magnago zur Wehrmacht eingezogen. Der damals 28-Jährige hätte an seiner Arbeitsstelle bleiben können, aber der Jurist wollte nicht als „Drückeberger“ gelten, sondern an der Front seinen Mann stehen. Eine Entscheidung, die Magnago mit der eigenen körperlichen Unversehrtheit bezahlen sollte. Im Dezember 1943 wird der Gebirgsjäger bei Nikopol in der Ukraine schwerstens verwundet. Nach mehreren Operationen muss ihm schließlich das linke Bein amputiert werden. Noch auf dem Krankenbett unterschreibt er als NS-Beamten 1944 den „Eid auf den Führer“. Eine Routinesache? Oder auch nicht.

 

Reorganisation einer Volksgruppe

 
Südtirol gehört nach dem Krieg eindeutig zu den Verlierern. Von den Alliierten vor allem wegen der Option für Großdeutschland mit großem Argwohn bedacht, muss die Bevölkerung um eine eigene politische Vertretung kämpfen. Als im Mai 1945 die Südtiroler Volkspartei (SVP) gegründet wird, ist es nur möglich, weil die wenigen Südtiroler Widerständler und Anti-Nazis bei den Alliierten geschickt vorgeschoben werden. In Wirklichkeit ist es Staffage. Denn dahinter stehen die alten Eliten mit kaum geänderter ideologischer Einstellung.
Das„Los von Trient“ und die Forderung nach einer eigenen Landesautonomie, die Silvius Magnago an diesem Tag in das Schlossrund schreit, waren längst von anderen vorgedacht und vorbereitet worden.
Auch der kriegsversehrte Silvius Magnago findet schnell unter dem Dach der jungen Volkspartei Zuflucht. Zuerst als Übersetzer, später als erfolgloser Parlamentskandidat wird der junge Jurist 1948 zum Bozner Vizebürgermeister und schon wenig später zum Landtagspräsidenten und stellvertretenden Regionalsratspräsidenten gewählt. Auch innerhalb der Partei macht Magnago Karriere und wird zum Vizeobmann bestellt.
Es ist die Zeit der Reorganisation einer Volksgruppe. Weil einerseits der Großteil der politischen Eliten wegen ihrer Option noch keine Staatsbürgerschaft besitzt, anderseits das „Heimatland“ Österreich weder eine innen- noch eine außenpolitische Souveränität besitzt, bewegt man sich wie in einem politische Korsett.
Mehr als deutlich wird diese Situation bei den Friedensverhandlungen in Paris. Zwischen Alcide Degasperi und Karl Gruber wird dort ein Vertrag ausgehandelt, der später die Grundlage der Südtirol Autonomie bilden wird. Der Trentiner Degasperi setzt eine Regionalautonomie durch, die Südtirol und das Trentino verbindet. Dass ihm das gelungen ist, liegt nicht nur an seinem Verhandlungsgeschick und den geopolitischen Überlegungen der US-Amerikaner. Vor allem haben die Italiener einem Trumpf, den die Italiener in der Hand hatten und in den Verhandlungen auch genüsslich spielten: die kaum widerlegbare Behauptung, dass sich 90 Prozent der Südtiroler freiwillig für Hitler-Deutschland entschieden hatten.
Natürlich war Genugtuung da, dass alles gut gegangen ist, aber gleichzeitig habe ich mich geärgert, dass ich nicht mehr Feuer und Begeisterung hineingebracht habe.
Silvius Magnago
Die Regionalautonomie erweist sich in den darauffolgenden Jahren für Südtirol als schwieriges Gebilde. Zum einen fährt die Trentiner DC und mit dem zunehmenden Rechtsruck der italienischen Politik auch die Zentralregierung einen eindeutigen Italianisierungskurs gegenüber Südtirol, anderseits stellt sich die damalige SVP-Führung als relativ schwach und konziliant heraus.
Mit der Erreichung des österreichischen Staatsvertrages und einer Schutzmacht im Rücken beginnen sich Mitte der Fünfzigerjahre die Vorzeichen zu ändern und die Töne sich zu radikalisieren. Man schwenkt ganz bewusst auf einen Konfrontationskurs um, der am 17. November 1957 mit der Kundgebung auf Schloss Sigmundskron seinen vorläufigen Höhepunkt erlebt.
 

Die Vordenker

 
Dabei sind das „Los von Trient“ und die Forderung nach einer eigenen Landesautonomie, die Silvius Magnago an diesem Tag in das Schlossrund schreit, längst von anderen vorgedacht und vorbereitet worden. Allen voran von Hans Dietl und Franz Widmann. Der Göflaner SVP-Politiker Dietl macht bereits 1955 mit seinem Rücktritt als Regionalassessor – gegen den Willen der SVP-Führung – die Bankrotterklärung des Modells „Regionalautonomie“ öffentlich. Der Bozner SVP-Funktionär Franz Widmann ist es dann, der die Initialzündung zur so genannten „Palastrevolution“ innerhalb der SVP gibt und gleichzeitig den Aufstieg Silvius Magnagos zur historischen Figur einleitet.
 
 
Dem Duo Widmann/Dietl ist klar, dass mit der amtierenden SVP-Führung eine politische Wende kaum zu schaffen sei. Deshalb plant man im Geheimen und mit Dutzenden von Absprachen für die SVP-Landesversammlung im Mai 1957 eine nachhaltige personelle Veränderung innerhalb der Volkspartei. Die alte, konziliante Parteiführung soll von jüngeren und vor allem radikaleren Politikern abgelöst werden.
Der junge SVP-Obmann besteht  in Sigmundskron seine politische Feuertaufe. Die 35.000 Menschen im Schloss haben ein Integrationsfigur gefunden und die SVP eine Art Ikone, die ihre Geschichte für die nächsten drei Jahrzehnte bestimmen wird.
Als Führungsfigur suchen Widmann und Dietl dabei ganz bewusst Silvius Magnago aus. Politisch in beiden Lagen beheimatet, ohne Privatinteressen und ein Mensch, der mit seinem Auftreten einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt, traut man ihm zu, als Parteiobmann den neuen politischen Kurs umzusetzen. Der Plan geht voll auf: Die alte SVP-Führung wird am 25. Mai 1957 abgewählt und Magnago zum SVP-Obmann gekürt. Kein halbes Jahr später besteht der junge SVP-Obmann in Sigmundskron seine politische Feuertaufe. Die 35.000 Menschen im Schloss haben ein Integrationsfigur gefunden und die SVP eine Art Ikone, die ihre Geschichte für die nächsten drei Jahrzehnte bestimmen wird.

Die Bomben

 
In den ersten Jahren der Ära-Magnago, der 1960 auch zum Landeshauptmann gewählt wird, ändert sich dabei politisch kaum etwas. Die Linie der SVP wird zwar deutlich härter, das großangekündigte „Los von Trient“ wird von Silvius Magnago aber politisch vorerst nicht umgesetzt. Es ist Österreich und vor allem der junge sozialistische Außenminister Bruno Kreisky, der das Südtirol-Problem in diesen Jahren zweimal auf die Tagesordnung der Vereinten Nationen bringt. Es ist bezeichnend, dass nach New York nicht etwa Silvius Magnago mitfliegt, sondern SVP-Unterhändler aus der zweiten Reihe. Das politische Misstrauen gegenüber dem Sozialdemokraten Kreisky ist innerhalb der SVP und auch bei ihrem Obmann so groß, dass es wenige Jahre später zum Bruch mit Kreisky führte.
Durch das Auftreten und Losschlagen des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS) verschärft sich die Lage in Südtirol ab 1959 deutlich. Was man heute dabei gerne vergisst: Die Attentate richten sich nicht nur gegen den italienischen Staat, sondern ebenso gegen die zögerliche Haltung der von Magnago geführten SVP. Mit der Feuernacht 1961 setzt der BAS ein wichtiges Zeichen, das Italien nicht nur zum polizeilichen, sondern noch mehr zum politischen Handeln herausfordert.
Silvius Magnago weiß nichts von den Anschlägen. Der Hauptgrund: Die Attentäter misstrauen dem SVP-Obmann und Landeshauptmann zutiefst. Als der BAS-Kern rund um Sepp Kerschbaumer verhaftetet wird und die Häftlinge in den Carabinierikasernen gefoltert werden, vergisst Silvius Magnago, Sepp Kerschbaumer & Co persönlich gekannt zu haben. Der Realpolitiker rührt keinen Fingen für die Attentäter, hat er doch längst einen Deal mit dem italienischen Staat geschlossen.
 
Silvius Magnago weiß nichts von den Anschlägen. Der Hauptgrund: Die Attentäter misstrauen dem SVP-Obmann und Landeshauptmann zutiefst.
Spätestens mit der Feuernacht und der Aussprache mit dem italienischen Innenminister Mario Scelba wenige Tage später wird Silvius Magnago zum Garanten einer Befriedung in Südtirol. Diese Rolle spielt der SVP-Obmann in den nächsten Jahren meisterhaft. Der Lohn: politische Verhandlungen, 19er-Kommission und schließlich das Paket. Silvius Magnago hat als Person und Figur die Glaubwürdigkeit, mit Politkern wie Aldo Moro, Giulio Andreotti oder Amintore Fanfani zu verhandeln. Und er setzt sie ein.
 
 

Der Abschluss

 
Als die SVP am 22. November 1969 nach 14-stündiger Diskussion im Meraner Kursaal mit knapper Mehrheit dem Paket zustimmt, ist Silvius Magnagos risikoreicher Plan aufgegangen und seine persönliche, politische Karriere gekrönt. In Meran schließt sich ein Kreis, der im November 1957 in Sigmundskron begonnen hat. Diese zwölf Jahre haben Silvius Magnago zum Mythos gemacht. Was danach folgt, ist die Ausgestaltung der Südtirol-Autonomie, politisches Tagesgeschäft, in dem der „große Alte der Südtirol-Politik“ von dem zehrt, was 30 Jahre zuvor in Sigmundskron begonnen hat.
In Meraner Kursaal schließt sich ein Kreis, der im November 1957 in Sigmundskron begonnen hat. Diese zwölf Jahre haben Silvius Magnago zum Mythos gemacht.
Dabei ist Silvius Magnago am Abend nach der Kundgebung todunglücklich, wie er sich 40 Jahre später erinnert: „Mich hat es noch den ganzen Abend gewurmt, dass ich so nüchtern gesprochen habe, dass ich so langweilig war. Natürlich war Genugtuung da, dass alles gut gegangen ist, aber gleichzeitig habe ich mich geärgert, dass ich nicht mehr Feuer und Begeisterung hineingebracht habe.
So stand am Beginn des wohl wichtigste Stückes Südtiroler Geschichte im 20. Jahrhundert eine langweilige Rede.