Società | Mittelstand

Mittelstand, was ist das?

Alle sprechen darüber, aber keiner weiß wovon. Der sogenannte Mittelstand ist in aller Munde. Was damit gemeint ist, wüsste Stefan Perini auch gerne.
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Foto: Adobe Stock Images

salto.bz: Herr Perini, was ist Mittelstand eigentlich?

Stefan Perini: Eben, das ist das Problem. Ich wüsste selbst gerne, was viele Menschen, darunter auch die Südtiroler Entscheidungsträger, damit meinen, wenn sie dieses Wort in den Mund nehmen. Aktuell ist es noch ein Gummiwort, wie Nachhaltigkeit. Mich würde interessieren, wo der Mittelstand beginnt und wo er aufhört.

Wie ist Ihre Einschätzung?

Indikativ können wir sagen, dass es auf der einen Seite die sogenannten „oberen“ 10 Prozent gibt, dabei sprechen wir von dem wohlhabenden Teil unserer Gesellschaft, und auf der anderen Seite bzw. am anderen Rand der Gesellschaft die sogenannten „unteren“ 20 Prozent, also jene Personen, die von Armut betroffen sind und in relativer Armut leben. Der Mittelstand ist irgendwo dazwischen.

Es gibt also kleine klare Definition für den Mittelstand. Gibt es eine derartige Definition für relative Armut?

Ja, die gibt es. Relativ arm ist eine Familie, wenn sie nicht auf 60% des Einkommens eines Durchschnittshaushalts kommt. Das ist eine konventionelle Definition des Europäischen Statistiksystems. Demnach gelten 17 Prozent der Familien in Südtirol als relativ arm. Das sind meist Familien mit 3 oder mehr Kindern, Alleinerziehende oder alleinstehende Senioren. Menschen mit Migrationshintergrund sind häufiger davon betroffen als in Südtirol geborene.

Damit haben wir eine abgrenzende Trennlinie für den Mittelstand nach unten. Und nach oben?

Während es für den unteren Bereich eine Trennlinie gibt, gibt es diese für oben nicht. Dafür fehlt uns eine international anerkannte Definition. Deswegen kann man auch keine treffende, mit Daten untermauerte Aussage über den Mittelstand machen. Das AFI-Barometer erlaubt uns nur, die Wahrnehmung der Bevölkerung einzufangen. Wir fragen beispielsweise die Bevölkerung, in welche Richtung sich die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten 10 Jahren entwickelt hat, also ob sie sich geöffnet oder geschlossen hat. Laut der befragten Arbeitnehmer hat sich die Schere zwischen den Wohlhabenden und den weniger Bemittelten geöffnet. 

Was sagt die Forschung dazu?

Es gibt diverse internationale Studien aus der Ungleichheitsforschung, die zeigen, dass die Ungleichheiten bis in die 70er Jahre zurückgegangen sind. Man könnte sagen: In den 70er Jahren waren wir „am gleichsten“. Seit den 80er Jahren hat sich das Wohlstandsgefälle wieder verstärkt. Das ist ein globales Phänomen. Es besteht die berechtigte Vermutung, dass es in Südtirol nicht anders sei und dass auch hier die Schere auseinander gegangen ist. Die Asien-Krise 1997, die Internetblase 2000, die Lehman Brothers-Krise 2008 etc. führten dazu, dass die Ungleichheiten größer wurden. Dafür werden allgemein die Globalisierung und die neoliberale Politik verantwortlich gemacht. 

Woran werden Ungleichheiten festgemacht und wie werden sie gemessen?

Bei der Bewertung der wirtschaftlichen Situation ist es wichtig, nicht nur das Einkommen im Blick zu haben, sondern Vermögen und Einkommen gleichermaßen zu betrachten. Es ist so: Vermögen ist das, was man sich in den Jahren geschaffen hat. Das Vermögen ist eine Bestandsgröße. Dazu zählen u.a. Immobilien, Sparvermögen, bewegliche Güter wie Autos uvm. Bezogen auf Italien setzt sich das Vermögen der Privathaushalte, also der Familien, aus 60 Prozent Immobilien, 30 Prozent Finanzgüter und 10 Prozent bewegliche Güter zusammen.  Einkommen ist, im Gegensatz dazu, eine Flussgröße. Hier ist die Frage: Wie viel verdient ein Mensch pro Jahr? In der Regel durch Arbeit, aber auch durch Mieteinnahmen, Einkommen aus der Pacht von Grundstücken, finanziellen Einkünften uvm.
Mit der EEVE (Einheitliche Einkommens- und Vermögenserklärung der Familien, seit 2008) werden beispielsweise beide Aspekte betrachtet, wobei es bei der Erfassung vom Vermögen deutlichen Verbesserungsbedarf gibt. 

Welche Maßnahmen können ergriffen werden, um den Mittelstand zu stützen?

Da stellt sich zunächst ganz grundsätzlich die Frage: Welche Gesellschaft wollen wir, wohin soll sich diese entwickeln? Was ist für uns die ideale Gesellschaft? Wir brauchen einen Kompass, der uns in sozialpolitischen und wirtschaftlichen Fragestellungen die Richtung vorgibt. Hinsichtlich nachhaltiger Entwicklung gibt es beispielsweise die sogenannten Sustainable Development Goals (kurz: SDG), nach denen sich die UNO richtet. Die Bertelsmann Stiftung hat ihrerseits den „Index der sozialen Gerechtigkeit“ entwickelt und sechs Bereiche definiert, gemäß derer sich eine Gesellschaft weiterentwickeln sollte. Dazu zählen die Armutsvermeidung, gerechte Bildungschancen, Zugang zum Arbeitsmarkt, soziale Inklusion, Generationsgerechtigkeit und Gesundheit. Den Kompass, der uns zeigt, wohin die Reise gehen soll, haben wir also im Grunde bereits. Wir müssen uns fragen, was es zu tun gilt, um sich auf eine faire Gesellschaft hin zu bewegen. Was kann gegen Armut getan werden und wie können - gleichzeitig - die Wohlhabenden im Sinne des Gemeinwohls stärker in die Pflicht genommen werden? 

Können Sie ein Beispiel für einen Weg nennen, der unsere Gesellschaft fairer und gleicher machen könnte?

In Italien gibt es beispielsweise derzeit keinen gesetzlichen Mindeststundenlohn. Zwar sind viele Sektoren über Kollektivverträge abgedeckt, in welchen Mindeststandards definiert sind. Nichtsdestotrotz ist das Prinzip, dass ein Vollzeitjob für ein gutes Leben ausreichen müsste, nicht immer gewährleistet. Zumindest der Fall Italien zeigt, dass Kollektivverträge hier nur bedingt eine Garantie sind. Es bräuchte heute dringend eine Anpassung der Mindestlöhne, ob kollektivvertraglich ausgehandelt oder per Gesetz. Das würde Phänomene der relativen Armut eingrenzen. Natürlich gilt für Italien auch allgemein das Thema der Arbeitslosigkeit, die eine wesentliche Ursache für Armut darstellt. Für Südtirol ist diese Problematik weit weniger relevant. Hier fehlt es nicht an Arbeit, sondern an fair bezahlter Arbeit. 

Wie haben sich die Ereignisse und Krisen der letzten Jahre auf den Mittelstand ausgewirkt? 

Der Verdacht ist, dass es zu einer Aushöhlung der Mittelschicht gekommen ist. Wir können uns allerdings für Südtirol nur auf Wahrnehmungen stützen – siehe AFI-Barometer – wir haben hierzu aber keine Verwaltungsdaten. Internationale Studien, wie jene von Thomas Piketty zeigen auf, dass die untere Mittelschicht langsam auch in die Armut abrutscht. Das führt zu einer erschwerten Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Auch die Covid- und Energiekrise führten und führen dazu, dass der Mittelstand bröckelt. 

Ist ein breiter Mittelstand erstrebenswert, und wenn ja, warum?

Wie bereits erwähnt, hängt alles davon ab, welche Gesellschaft wir uns wünschen. Grundsätzlich ist eine Gesellschaft erstrebenswert, in der es allen einigermaßen gut geht und in der die allermeisten ein gutes Leben führen können, wo soziale Teilhabe, Zugang zum Arbeitsmarkt, ein funktionierendes Gesundheitswesen usw. gewährleistet sind. Ein breiter Mittelstand ist gewisser maßen das Ergebnis davon. In Ländern, in denen es eine starke wirtschaftliche Spreizung der Gesellschaft gibt, sind soziale Unzufriedenheit, Streiks und im schlimmsten Fall gewaltsame Proteste und Radikalismus an der Tagesordnung. Die mitteleuropäischen und skandinavischen Länder gelten als Vorbilder, wie man es in Sachen soziale Fairness richtig macht. 

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Josef Fulterer Ven, 02/24/2023 - 07:51

Die RÜCKSICHTs-lose NEO-LIBERALE-ART "ADELT ihre krankhafte eigene Gier als Zugpferd für die Wirtschaft" und rafft RÜCKSICHTs-los mit der gering-Schätzung / Bezahlung von zunehmend mehr Arbeiten, die auch verrichtet werden müssen um die Bedürfnisse der Menschheit abzudecken, laufend mehr Geld und Vermögen in den eigenen Rachen.
Und die "reichlich selbst/versorgten Politiker" sehen hilflos zu ...

Ven, 02/24/2023 - 07:51 Collegamento permanente
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Sepp.Bacher Ven, 02/24/2023 - 09:07

Meines Erachtens werden hier Mittelstand und Mittelschicht verwechselt. Die Defintion von Mittelstand (D): "Gesamtheit der kleinen und mittleren Unternehmen sowie der Selbstständigen"; die Defintion von Mittelschicht (D): "Zur Mittelschicht werden all jene gezählt, deren Einkommen nach Steuern und Transfers zwischen 75 und 200 Prozent des mittleren äquivalenzgewichteten Einkommens liegt."
Es werden unterschieden: Unterschicht, Mittelschicht und Oberschicht, wobei die Mittelschicht auch noch einmal dreigeteilt wird in untere MS mittler MS und obere MS.
Eine weitere Defintion lautet: "Bevölkerungsschicht mit einem gewissen Status an Kultur, Bildung, ökonomischer Sicherheit, die in der sozialen Struktur etwa in der Mitte steht"
Wenn man Mittelschicht googelt findet man dazu auch interessante Grafiken.

Ven, 02/24/2023 - 09:07 Collegamento permanente