Cronaca | Mordfall

Justizirrtum & Wiedersehen

Cuno Tarfusser fordert die Wiederaufnahme des Prozesses zum Mehrfachmord von Erba. Kommt es dazu, wird ausgerechnet Guido Rispoli die Anklage vertreten.
Cuno Tarfusser
Foto: CT
Cuno Tarfusser war nie ein Mensch, der sich ein Blatt vor der Mund nimmt.
Daran hat sich nichts geändert.
In tutto coscienza, per amore di verità e di giustizia e per l'insopportabilità del pensiero che due persone, probabilmente vittime di errore giudiziario, stiano scontando l'ergastolo“, beschreibt der heute 68-jährige Meraner Jurist in seinem Schriftsatz sein Leitmotiv.
Tarfusser, seit zwei Jahren als stellvertretender Staatsanwalt am Oberlandesgericht in Mailand tätig, schickt sich an, einen der aufsehenerregendsten Mordfälle Italiens der letzten zwei Jahrzehnte neu aufzurollen. Der Staatsanwalt geht davon aus, dass die Ermittlungsbehörden schlampig gearbeitet haben und die Gerichte zwei Menschen zu lebenslänglicher Haft verurteilt haben, die unschuldig sind.
Die Geschichte ist seit Tagen in den Schlagzeilen. Alle nationalen Medien berichten groß über den Revisionsantrag. Cuno Tarfusser, der sich seit langem sehr kritisch über das italienische Justizsystem und den Einfluss der verschiedenen „correnti“ in der Gerichtsbarkeit äußert, wird so über Nacht ins Scheinwerferlicht katapultiert.
Da es absolut nicht alltäglich ist, dass sich ein Staatsanwalt so offen auf die Seite der vermeintlichen Justizopfer stellt, bringen alle großen Zeitungen ein ausführliches Porträt des Südtiroler Staatsanwalts. „Dal mostro di Merano alla Corte penale internazionale“, betitelt etwa der Mailänder "Corriere" einen Artikel über den unerschrockenen Staatsanwalt.
 

Die Tat

 
Am Abend des 11. Dezember 2006 wird die Feuerwehr in dem Weiler Erba am Comer See zu einem Hausbrand gerufen. In einer der ausgebrannten Wohnungen werden drei Leichen gefunden. Raffaela Castagna (30), ihr zweijähriger Sohn Youssef Marzouk sowie ihre Mutter Paola Galli (60) wurden brutal zusammengeschlagen und dann mit unzähligen Messerstichen ermordet. Ebenso mit Messern angegriffen werden die Nachbarn. Die 55-jährige Valeria Cherubini stirbt wenig später im Krankenhaus, während ihr Mann Mario Frigerio (65), der ebenfalls mit einer Schnittwunde am Hals aufgefunden wird, als einziger schwerverletzt die Tat überlebt.
 
 
 
Die Ermittlungen konzentrieren sich anfänglich auf den Ehemann von Raffaela Castagna, Azouz Marzouk, der wegen Drogenhandels vorstraft ist und nur wenige Tage vorher vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden war. Marzouk aber kann ein Alibi erbringen: Er hält sich am Mordtag in Tunesien bei seiner Familie auf.
Damit beginnen zwei Nachbarn ins Fadenkreuz zu geraten. Olindo Romano (heute 60) und Rosa Bazzi (heute 55) hatten mit der Verstorbenen einen Gerichtsstreit und es kam zu handgreiflichen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Anzeigen. Die Tatsache, dass beide leichte Verletzungen aufweisen, und ihr Verhalten nach der Tat - sie zeigen sich völlig uninteressiert - machen sie in den Augen der ermittelnden Carabinieri verdächtig. Nachdem ein Lauschangriff nichts Konkretes ergibt, untersuchen die Ermittler das Auto des Ehepaares und finden einen kleinen Blutfleck. Obwohl dieser keineswegs zuordenbar ist, werden beide am 8. Jänner 2017 schließlich verhaftet. Zwei Tage später gestehen sowohl Olindo Romano als auch Rosa Bazzi in getrennten Verhören die Tat, beschreiben den Ablauf und erklärte beide, jeweils allein gehandelt zu haben. Fast gleichzeitig belastet sie der einzige Überlebende und Augenzeuge Mario Frigerio schwer.
Neun Monate später ziehen sowohl Olindo Romano als auch Rosa Bazzi in der Verhandlung vor dem Voruntersuchungsrichter ihre Geständnisse wieder zurück. Sie seien unter Druck der Ermittler zustande gekommen.
Ende November 2008 werden die beiden Eheleute in erster Instanz zu lebenslänglicher Haft und drei Jahre Einzelhaft verurteilt. Im Berufungsverfahren und später in der Kassation wird das Urteil bestätigt. Olindo Romano und Rosa Bazzi sitzen damit seit 17 Jahren im Gefängnis.
 

Die Revision

 
Sicher ist aber auch, dass die Ermittlungen in diesem Fall alles andere als mustergültig durchgeführt wurden. Das ergibt viel Spielraum für die Verteidigung. Schon 2014 versuchten die Anwälte der beiden Verurteilten erfolglos, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen.
Jetzt aber haben Fabio Schembri und Luisa Bordeaux, die Olindo Romano und Rosa Bazzi vertreten, neue Beweise, Aussagen, Indizien und Sachverständigengutachten vorgelegt, auf deren Grundlage sie die Revision des Prozesses verlangen. Der Schriftsatz der Verteidiger scheint Cuno Tarfusser überzeugt zu haben. Denn der Staatsanwalt hat die zentralen Punkte der Verteidigung in seinem 58 Seiten langen Antrag auf Wiederaufnahme des Prozesses und der Ermittlungen übernommen. „Dieses Urteil ist anhand von Fehlern in den Akten und im Verfahren so ausgefallen“, urteilt Cuno Tarfusser in seinem Antrag. Der stellvertretende Mailänder Staatsanwalt lässt dabei kein gutes Haar an den Ermittlern.
 
 
 
Am 12. April 2023 hat Cuno Tarfusser den Antrag - wie gesetzlich vorgesehen - der Mailänder Generalstaatsanwältin Francesca Nanni und leitenden Staatsanwalt Lucilla Totodonati übergeben. Formell muss die Generalstaatsanwaltschaft den Wiederaufnahmeantrag hinterlegen.
Zuständig für eine mögliche Wiederaufnahme des Prozesses ist dann die Oberstaatsanwaltschaft von Brescia. Und dort gibt es ein überraschendes und nicht ganz unproblematisches Wiedersehen.
 

Das Dream Team

 
In den 1980er und 1990er Jahren gab es in der Bozner Staatsanwaltschaft eine Art Dream Team. Cuno Tarfusser und Guido Rispoli, zwei junge stellvertretende Staatsanwälte, beide aus Meran und beide gefördert vom leitenden Staatsanwalt Mario Martin.
Dabei könnten Cuno Tarfusser und Guido Rispoli kaum unterschiedlicher sein. Tarfusser, der Aufbrausende, der Lässige und der Draufgänger, der schon mal über Stränge schlägt. Rispoli, der Überlegte, der Musterschüler, der jeden Beistrich des Strafgesetzbuches auswendig kennt. Zusammen bilden sie viele Jahre ein mehr als nur effektives Tandem, das Dutzende von wichtigen Ermittlungen führt, unzählige Anklagen erhebt und am Ende auch den Großteil der Verfahren gewinnt.
 
 
 
 
Beide machen zusammen auch Karriere. Zuerst wird Cuno Tarfusser leitender Staatsanwalt in Bozen. Nach seiner Beförderung zum Richter an den internationalen Strafgerichtshof nach Den Haag übernimmt Guido Rispoli dieses Amt. Schon bald aber kommt es zu größeren Differenzen.
Cuno Tarfusser hatte versucht, die Bozner Staatsanwalt durch einige organisatorische Änderungen zu einem Vorzeigemodell in der italienischen Gerichtsbarkeit aufzubauen. Später beschuldigt er von Den Haag aus seine Nachfolger - zuerst Guido Rispoli und dann den heute amtierenden Chefstaatsanwalt Giancarlo Bramante -, sein Lebenswerk bewusst zu zerstören.
Als Tarfusser auch noch als Entlastungszeuge der Verteidigung im Prozess gegen Luis Durnwalder auftritt, in dem Guido Rispoli die Anklage vertritt, wird das als klarer Affront empfunden. Die Freundschaft zwischen dem früheren Dream Team Rispoli-Tarfusser ist seitdem Geschichte.
 

Die Eskalation

 
Weil Cuno Tarfusser zuerst unter Rispoli und dann unter Bramante immer wieder versucht, seinen Einfluss im Gerichtspalast gelten zu machen und sich über seine vertrauten früheren Mitarbeiter auch über Ermittlungsdetails informieren lässt, kommt es schließlich zu einem dramatischen Bruch. Die Ermittlungen rund um ein Pizzaessen und eine missbräuchlichen Verwendung von Dienstfahrzeugen durch die Gerichtspolizei, aber auch das Bekanntwerden der Chats des römischen CSM-Kopfes Luca Palamara mit Giancarlo Bramante haben den Konflikt dann eskalieren lassen.
 
 
 
Cuno Tarfusser hat erst vor einigen Monaten in einer Pressekonferenz Guido Rispoli frontal angegriffen. Zudem geht der seit eineinhalb Jahren in Mailand tätige Staatsanwalt gegen seinen langjährigen Weggefährten auch vor Gericht vor.
Guido Rispoli war vier Jahre lang Generalstaatsanwalt in Campobasso, bevor er vom obersten Richterrat für dasselbe Amt in Brescia nominiert wurde. Für die Generalstaatsanwaltschaft in Brescia hatte sich aber auch Cuno Tarfusser beworben. Weil Tarfusser sich als Opfer einer Intrige im CSM sieht, hat er zuerst vor dem Verwaltungsgericht und dann vor dem Staatsrat gegen die Rispoli-Ernennung Rekurs eingelegt. Beide Rekurse wurden abgelehnt.
Dass Guido Rispoli jetzt ausgerechnet für die Wiederaufnahme des Mehrfachmordes von Erba zuständig sein wird, den Cuno Tarfusser fordert, ist ein absurder Wink des Schicksals.
Vielleicht aber auch die Chance, eine Feindschaft endlich zu begraben.