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Die Wunde von Pflersch – Teil 1

Die Wipptaler Bau AG will eine Schottergrube im Pflerschtal reaktivieren. Die Anrainer erfahren lange nichts von den Plänen. Dann regt sich Widerstand.
Schottergrube Lochen
Foto: Bernhard Auckenthaler

Ein trüber Frühlingstag Anfang Mai. Das Wetter – es regnet und die Temperaturen bewegen sich knapp über dem Gefrierpunkt – steht sinnbildhaft für die Stimmung im Tal. Dort macht man sich Sorgen, fühlt sich übergangen. Wer von außen nach Pflersch und auf die aktuelle Debatte um das Großprojekt einer Schottergrube blickt, kann sich schnell in einem Dickicht aus Beschlüssen, Paragraphen, technischen Unterlagen und Protokollen verlieren. In Gesprächen vor Ort hingegen wird klar, worum es in dieser Geschichte geht: um Kommunikation, Transparenz, Achtung – und die Frage nach der Zukunft eines florierenden Seitentales in den Alpen. Kurzum, um Gemeinschaftssinn.
Noch aber spaltet die Schottergrube “Lochen” und fördert einen Konflikt zutage, wie es ihn wohl überall in Südtirol geben könnte.

 

Fest in Wipptaler Hand

 

Es ist kurz vor Weihnachten 2020. Am 22. Dezember tauchen auf der Webseite der Landesagentur für Umwelt und Klimaschutz Unterlagen zur “Erneuerung und Abänderung der Abbauermächtigung der Schottergrube ‘Lochen’” auf. Am selben Tag übermittelt das Amt für Industrie und Gruben der Gemeinde Brenner den dazugehörigen Antrag und das Projekt. Es stammt von der Wipptaler Bau AG. Das in den 1970er Jahren gegründete Bauunternehmen mit Rechtssitz in der Gemeinde Brenner wird von Christian Egartner als gesetzlichem Vertreter geleitet.

Egartner ist auch abseits des Wipptals kein Unbekannter. Bei den Landtagswahlen 2008 wurde er für die SVP in den Südtiroler Landtag gewählt. Zwei Jahre später musste er ihn verlassen – wegen Unwählbarkeit. Von 1995 bis 2008 war Christian Egartner Bürgermeister der Marktgemeinde Brenner. Zu der gehört auch das Pflerschtal, wo die Wipptaler Bau AG seit ihrer Gründung Schotter abbaut. Unter anderem in der Grube “Lochen”. Diese liegt bei der Örtlichkeit Anichen, zwischen den Ortschaften Reisenschuh – dort befindet sich das Skigebiet Ladurns – und Innerpflersch am Talschluss. Die Grundstücke, auf der die Grube nun wiedereröffnet werden soll, gehören der Waldinteressentschaft Pflersch mit heute 142 Mitgliedern. Als Eigentümerin muss sie mit dem Schotterabbau einverstanden sein. Die Genehmigung dafür erteilen muss das Land.

 

1997 verlängert die Landesregierung die Abbauermächtigung für die Grube “Lochen” um acht Jahre. Eine der Bedingungen damals: In dieser Zeit muss nicht nur der Schotterabbau beendet, sondern auch das Gelände renaturiert sein. Doch die Wipptaler Bau AG baut kaum mehr Schotter ab. Der Grund: Wenige Kilometer entfernt wird mit der Grube “Pinegraben” ein Zivilschutzprojekt gestartet, das dem Unternehmen auf Jahre Schotter sichert. Dieses Projekt ist bis heute nicht abgeschlossen.

 

Mehrere Anläufe und ein Nein

 

Die Jahre vergehen. Die Renaturierung der Grube “Lochen” erfolgt nicht, im Tal nennt man sie eine “offene Wunde”, die im Hang klafft. 2005 und 2010 wird die Abbau-Konzession zwei weitere Male verlängert, 2013 läuft sie aus. Da stellt die Wipptaler Bau AG erneut einen Antrag auf Schotterabbau für die “Loche”. Am Ende wird das Projekt nicht genehmigt. Der damalige Bürgermeister Franz Kompatscher (SVP) hatte die Anrainer in Anichen über das Projekt informiert, die daraufhin eine Eingabe verfassten und beim Land einreichten. Auch die Baukommission der Gemeinde Brenner lehnt das Projekt am 22. Oktober 2013 einstimmig ab. “Es soll eine bessere Lösung im Einvernehmen mit den Anrainern gesucht werden”, so die Argumentation.  

“Wir haben uns gesagt, dass das Projekt doch einen großen Eingriff darstellt und es doch einiges an Diskussion gab”, erinnert sich Kompatscher heute an den Grund für die Ablehnung in der Baukommission. Außerdem habe der Betreiber selbst “keinen großen Druck ausgeübt”. Man sah wohl anderswo genug Möglichkeiten, um an ausreichend Schotter zu gelangen. Im Mai 2015 beschließt die Vollversammlung der Waldinteressentschaft Pflersch zwei Dinge: die Ermächtigung zum Schotterabbau wird an die Auflage gebunden, dass dieser höchstens zehn Jahre dauert; die Vollversammlung segnet den Vertrag ab, der mit der Betreiberfirma abgeschlossen wird. Der Beschluss fällt einstimmig.

Anfang 2020 werden sämtliche Akten des Ansuchens von 2013 archiviert. Die Wipptaler Bau AG stimmt der Archivierung am 26. Februar 2020 zu. Zugleich teilt sie dem Amt für Industrie und Gruben mit, dass sie demnächst erneut um Schotterabbau in der Grube “Lochen” ansuchen wird. Denn die Vorzeichen haben sich geändert: Ab 2021 stehe ihr von den Baustellen des Brennerbasistunnels BBT kein Rohmaterial mehr zur Verfügung, erklärt die Wipptaler Bau AG. Daher will man mit der “Loche” nun Ernst machen.

Was sieht dieses Projekt genau vor?

 

Die Schottergrube “Lochen”

 

Die Dimensionen sind dieselben wie 1997 und 2013: Auf 7,5 Hektar Fläche, die sich über einen offenen Steilhang erstreckt, sollen 279.410 Kubikmeter an Material ausgehoben werden. Vorgesehen ist, in Abschnitten von oben nach unten abzubauen und die jeweils angebaute Zone – den Auflagen von 1997 folgend – zu renaturieren. Die Abbaudauer beträgt zehn Jahre. Danach sollen durch Renaturierungsmaßnahmen wie Begrünung und Bepflanzung 52.000 Quadratmeter neue Wald- und 39.000 Quadratmeter neue Wiesenflächen zurückgelassen werden.
Bis dahin sollen jährlich rund 28.000 Kubikmeter Schotter (und Sand) abgebaut werden. Bei 22 Arbeitstagen im Montag kommt man auf 183 Kubikmeter am Tag. Dafür braucht es täglich 15 LKW, die das Material bis zum Zwischenlager am Fuß des Hanges bringen. Der Abbau soll ausschließlich in den Monaten Oktober bis April passieren – der Abtransport vom Zwischenlager in das betriebseigene Schotterwerk in Gasteig in der restlichen Zeit, mit acht Sattelzügen am Tag.

 

Hochgerechnet auf ein Jahr entspricht das 2.310 LKW und 1.408 Sattelzügen, die einerseits in der Grube “Lochen” und andererseits durch das Pflerschtal nach Gasteig fahren – bzw. 4.620 LKW- und 2.816 Sattelzug-Fahrten, wenn man bedenkt, dass die Fahrzeuge zunächst zur Abbaustelle bzw. der Grube und dann zum Zwischenlager bzw. der Weiterverarbeitung in Gasteig bewegt werden müssen.

Diese Zahlen haben in Pflersch viele aufgeschreckt. Auch, weil sie dadurch durch Zufall erfahren.

 

Alles anders

 

Im September 2020 wird Martin Alber (SVP) zum Bürgermeister der Gemeinde Brenner gewählt. Christian Egartner unterstützt ihn im Wahlkampf. Albers Vorgänger und Parteikollege Franz Kompatscher tritt nicht mehr für das Bürgermeisteramt an, zieht aber in den Gemeinderat ein. Anders als Kompatscher 2013 informiert der neue Bürgermeister die Anrainer der Grube “Lochen” nicht über den erneuten Antrag auf Schotterabbau der Wipptaler Bau AG. Am 9. Februar 2021 befindet die Baukommission über das Projekt. Und heißt es, anders als die von 2013, mit einigen Auflagen mehrheitlich gut.
Erst jetzt, Mitte Februar, kriegen die Bewohner von Pflersch davon Wind, dass die “Loche” reaktiviert werden soll. Eine wichtige Frist ist da schon verstrichen.

 

Für den Abbau in Gruben ist, genauso wie für jenen in Steinbrüchen oder Torfstichen, ein Gutachten der Dienststellenkonferenz für den Umweltbereich notwendig. Diese muss in einem Screening-Verfahren feststellen, ob die Pflicht besteht, das Vorhaben einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zu unterziehen. Dazu muss der Projektträger eine Umweltvorstudie einreichen. Diese wird laut Gesetz “unverzüglich auf der Webseite der Agentur (gemeint ist die Landesagentur für Umwelt und Klimaschutz) (…) veröffentlicht”. Danach haben Interessierte 45 Tage Zeit, um bei der Agentur Stellungnahmen einzureichen. Diese muss daraufhin innerhalb von 30 Tagen Erklärungen und Ergänzungen vom Projektträger verlangen. Danach sind weitere 45 Tage zur Feststellung der UVP-Pflicht Zeit.

Die Umweltvorstudie zur Grube “Lochen” wurde am 22. Dezember 2020 online gestellt. Im Februar 2021 ist es zu spät für Stellungnahmen. Am 7. April will die Dienststellenkonferenz über das Projekt befinden. Indes aber regt sich Widerstand.

 

Die Sorgen des Bauern

 

Bernhard Auckenthaler bewirtschaftet seit 2003 den “Botenhof” in Pflersch. Er hat die Milchwirtschaft, die seine Eltern im Nebenerwerb geführt haben, umgestellt und baut auf 1.200 Höhenmetern Bio-Kräuter an. Unmittelbar unter der Grube “Lochen”. Der Betrieb wirtschaftet erfolgreich und mittlerweile im Vollerwerb. Gemeinsam mit dem “Steirerhof” in Pfitsch läuft die Vermarktung als “Kräutergärten Wipptal”. 2004 erwirkt Auckenthaler bei der Wipptaler Bau AG, dass ein Teil der ehemaligen Schotter-Abbauflächen renaturiert werden – sie werden zu terrassenförmigen Kräuteranbauflächen für den “Botenhof”. 2017 erhält Auckenthaler die Genehmigung, am Fuße der Kräuterterrassen einen Hofladen und eine Struktur für Rahmenveranstaltungen zu errichten. 2018 sind die beiden Gebäude fertig. Jetzt fürchtet der 43-Jährige um seine Existenz.

 

Mit einer Mega-Schottergrube direkt hinter dem Haus könne er seine Lebensgrundlage aufgeben, sagt Auckenthaler. Sein Betrieb mit dem Schau- und Lehrgarten ist in das lokale Tourismus-Konzept gut eingebettet, zu den Kunden bzw. Besuchern zählen unter anderem IDM, Volkshochschule, KVW und Schulklassen.
Den Bio-Kräuteranbau sieht Auckenthaler genauso in Gefahr. In der Umweltvorstudie, die im Auftrag der Wipptaler Bau AG verfasst wurde, heißt es: “Die Tätigkeit des Kräuterbauern auf dem angrenzenden ‘Botenhof’ soll durch die Grubentätigkeit möglichst nicht beeinträchtigt werden.” Mit dem Abbau von Oktober bis April soll Staub auf den Kräutern vermieden werden. “Mit mir hat nie jemand gesprochen”, schüttelt Auckenthaler den Kopf. Finanzielle Entschädigungen brächten ihm auch nichts. “Kräuter am Rande einer Industriezone anzubauen passt nicht in das Konzept der ‘Kräutergärten Wipptal’.”

 

Kein Zusammenkommen und zwei Eingaben

 

Gemeinsam mit anderen wird Bernhard Auckenthaler aktiv. Abgesehen von den negativen Auswirkungen für den “Botenhof” befürchten über zwei Dutzend Anrainer große Belastungen durch Verkehr, Staub und Lärm. Die Betreiberfirma unterschätze diese Faktoren, so die Kritik. Es folgen zahlreiche Anläufe, Treffen, Aussprachen, um zu einer Kompromisslösung zu gelangen. Erfolglos. Ende März versucht die Volksanwältin zu schlichten. Doch die Zusammenkunft bleibt ohne Ergebnis. Der Betreiber “ist mit einer Reduzierung der Abbauzone nicht einverstanden”, hält Gabriele Morandell im Protokoll fest.

Niemand sei grundsätzlich gegen den Schotterabbau in der Grube “Lochen”, betont Auckenthaler. Allerdings müssten die Nachteile für die Anrainer so gering als möglich gehalten werden. Wenige Tage nach dem Schlichtungsversuch durch die Volksanwältin verschicken 30 Anrainer eine Eingabe an das Amt für Umweltprüfungen in Bozen.

 

Auch der Tourismusverein Gossensass reicht eine Eingabe ein, verlangt, dass die Langlaufloipe und der Wanderweg, die unter der Schottergrube vorbeiführen, unberührt bleiben und in der Hochsaison (von Juli bis September) auf den Abtransport des Schotters verzichtet und dieser während der Fahrt zugedeckt wird. Zusicherungen in diese Richtung gibt es bereits.
Man sei nicht gegen den Schotterabbau, hält Vereinspräsident Harald Siller fest. Allerdings müsse dieser möglichst schnell und schonend geschehen, um dem Image von Pflersch als naturbelassenem Tal keinen allzu großen Kratzer zu verleihen.

Wegen der beiden Eingaben beschließt die Dienststellenkonferenz, die Entscheidung über das Vorhaben zu vertagen. In Kürze – laut dem Bürgermeister im Laufe dieser Woche – findet ein Lokalaugenschein statt.

Die Fronten haben sich inzwischen zunehmend verhärtet.

 


 

Lesen Sie in Teil 2: Die Rolle der Waldinteressentschaft Pflersch, was die aktuelle Gemeindeverwaltung der Gemeinde Brenner den Anrainern vorwirft – und was der ehemalige Bürgermeister vorschlägt.