Politica | Interview

„Kein Hochfest der Demokratie“

Am Tag nach der Wahl Ursula von der Leyens zur neuen Kommissionspräsidentin gibt der Südtiroler Europarlamentarier Herbert Dorfmann erste Einblicke aus Straßburg.
Herbert Dorfmann
Foto: Facebook/Herbert Dorfmann

salto.bz: Herr Dorfmann, Ursula von der Leyen ist mit 383 Stimmen aus dem EU-Parlament zur neuen EU-Kommissionspräsidentin gewählt worden. 374 wären nötig gewesen – eine knappe Mehrheit also. War es ein Sieg der Pragmatik über die Demokratie?

Herbert Dorfmann: Ein Hochfest der Demokratie war es sicher nicht, was sich in den letzten Monaten hier abgespielt hat. Dafür ist aber maßgeblich der Europäische Rat verantwortlich, der eine Kandidatin herausgezogen hat, die mit dem Wahlkampf nichts zu tun hatte.
Natürlich war bei der Abstimmung am Ende auch Pragmatik dabei. Wir mussten uns die Frage stellen: Was passiert, wenn Ursula von der Leyen nicht gewählt wird? Es wäre dann nicht so gewesen, dass stattdessen ein Spitzenkandidat zum Zug gekommen wäre. Diese ganzen Entwicklungen der letzten Wochen haben aber gezeigt, dass es dringend neue Regeln braucht, die den Wählerwillen deutlicher respektieren.

Ich hoffe, dass das Ganze ein Weckruf war. Deshalb habe ich gestern Frau von der Leyen auch unterstützt; als Vorschussvertrauen, sozusagen.

Hat das Parlament nicht selbst seine Chance verspielt, einen Kandidaten zu stellen, weil es zu zerstritten war? Der Ball musste gezwungenermaßen an den den Rat abgegeben werden...

Natürlich haben den Urfehler im Ganzen wir im Parlament gemacht, da besteht kein Zweifel. Wir als Europäische Volkspartei haben geglaubt, dass es der größten Fraktion zusteht, eine Koalition zu bilden. Davon bin ich weiterhin überzeugt. Wahrscheinlich haben wir zu spät verstanden, dass wir zwar die größte Partei sind, aber keine Mehrheit auf den Weg bringen können. Noch abenteuerlicher waren die Sozialdemokraten, die als größte Wahlverlierer geglaubt haben, den eigenen Spitzenkandidaten durchzusetzen. Mittendrin waren die Liberalen, die vollkommen vom französischen Präsidenten Macron dirigiert wurden, der mit aller Macht versucht hat, das Spitzendandidatenmodell zu torpedieren. So war es im Parlament nicht möglich, vor der Ratsentscheidung eine Mehrheit für einen Kandidaten zu finden.

Ähnlich war es vor fünf Jahren als der Europäische Rat versucht hat, im letzten Moment den Kandidat auszustauschen. Aber im Parlament gab es eine solide Mehrheit für Jean-Claude Juncker und der Rat hatte keine Chance mehr. Wenn wir dieses Mal auch im Stande gewesen wären, uns auf einen Kandidat zu einigen, der eine Mehrheit im Parlament hat, wäre der Rat ebenso chancenlos gewesen. Leider war diese Konsensfähigkeit heuer nicht gegeben.

Sie glauben aber dennoch, das Spitzenkandidatensystem muss aufrecht erhalten bleiben? Welche Reformen müssten angegangen werden, um ähnliche Blockaden zu vermeiden und die nächste Wahl „demokratischer“ zu gestalten?

Es ist klar: Das Spitzenkandidatenmodell, wie wir es die letzen beiden Male hatten, ist tot. Keiner wird sich mehr zum Spitzenkandidaten aufstellen, wenn er sieht, was mit den potentiellen Nachfolgern diesmal passiert ist. Außer es gibt ein neues Spitzenkandidatenmodell, das institutionalisiert wird, das heißt, vom Rat anerkannt. Das würde der europäischen Demokratie gut tun, und ich hoffe, dass von der Leyen, wie sie es versprochen hat, in diese Richtung arbeiten wird. Ich hoffe auch, dass die Mitgliedsstaaten einsehen, dass diese Machtdemonstrationen, wie sie in den letzen Wochen stattgefunden haben, zwar einen Machtgewinn für den Rat darstellen, dass sie aber den pro-europäischen Kräften damit sicherlich keinen Gefallen tun.

Von der Leyen darf nicht zum Spielball des EU-Rates werden, denn die Gefahr ist groß, dass Staaten Druck auf sie ausüben, mit dem Argument, dass das Parlament kaum hinter ihr steht.

Experten meinen, von der Leyen repräsentiere den perfekten Kompromiss zwischen den Mitgliedern der EU: Sie spricht östliche und baltische Länder an, weil sie die „russiche Bedrohung“ ernst nimmt, sie überzeugt als Atlantikerin Staaten wie Großbritannien oder Italien, aber durch ihre Unterstützung einer europäischen Verteidigungsunion auch pro-Europäer wie Frankreich. Kann man ihr das nicht anrechnen? Welche alternativen Kandidaten hätten eine ähnliche Mehrheit zusammenführen können?

Es ist müßig zu spekulieren, wer sonst noch eine Mehrheit gehabt hätte. Frau von der Leyen ist jetzt gewählt. Selbstverständlich ist sie ein Kompromiss, der aus dem Rat kommt. Sie spricht in der Tat viele verschiedene Seelen in der Union an und sie hat historisch immer schon gute Beziehungen auch Richtung Osten, vor allem Polen und zu den baltischen Staaten. Sie ist eine Frau, das war sicherlich auch ausschlaggebend, denn sie hat öfter darauf verwiesen und angekündigt, eine Kommission zusammenzustellen, die zur Hälfte aus Frauen besteht. Das wird zwar einen Kampf mit den Mitgliedstaaten geben, die nun gezwungen sind, mehr Frauen zu nominieren, hat aber andererseits sicherlich einige weibliche Kolleginnen dazu bewogen, ihre Stimme von der Leyen zu geben. Man darf auch nicht vergessen, dass sie mehrsprachig ist, was für diese Arbeit eine wichtige Fähigkeit ist, die ihr sicherlich auch angerechnet wurde.

Wie fanden Sie von der Leyens Rede am Morgen? Haben ihre Worte am Ende die nötigen Stimmen auch vom linken pro-eurpäischen Lager eingebracht?

Es war schon hauchdünn, und die meisten hätten sich eigentlich eine größere Mehrheit erwartet. Es hat am Montag Morgen noch einen kleinen „Betriebsunfall“ gegeben. Eine Kandidatin der Konservativen wurde nicht wie geplant zur Vorsitzenden des Beschäftigungsausschusses, weil die Linke Seite des Hauses sie nicht gewählt hat. Das hat dann wohl einen Teil der Konservativen dazu bewogen, Frau von der Leyen nicht mehr zu wählen. Dennoch haben die meisten Christdemokraten, genauso wie der Großteil der Liberalen, für sie gestimmt.

Ich bin überzeugt, dass diese neun Stimmen, die am Ende den Unterschied ausgemacht haben, Frau von der Leyen am Morgen noch auf ihre Seite gezogen hat. Die Rede war sehr in Richtung pro-eurpäisches Lager gerichtet. Von der Leyen hat versucht, sich klar von den Rechtspopulisten zu distanzieren und sagte deutlich: ‘Eure Stimmen brauche ich nicht’. Sie wollte vermeiden, dass der Anschein entsteht, sie habe ihre Mehrheit mithilfe der Rechtspopulisten erhalten. Meiner Meinung nach, hat sie sich etwas zu stark zu Grünen und Sozialdemokraten hin orientiert, denn wir brauchen auch ein bürgerliches-konservatives Lager in Europa. Aber es war natürlich klar, dass von der Leyen wusste, dass sie die EVP hinter sich hat und Stimmen im linken Lager gewinnen muss, um überhaupt eine Chance zu haben. Und das ist ihr gelungen, auch wenn nur ein kleiner Teil der Sozialdemokraten für sie gestimmt hat.

Das Spitzenkandidatenmodell, wie wir es die letzen beiden Male hatten, ist tot.

Hat die EU mit dieser „undemokratischen“ Wahl noch mehr an Glaubwürdigkeit bei den Wählern eingebüst?

Ich hoffe, dass das ganze ein Weckruf war. Deshalb habe ich gestern Frau von der Leyen auch unterstützt; als Vorschussvertrauen, sozusagen. Sie hat nämlich angekündigt, dass sie sich des Themas Demokratie sehr wohl bewusst ist, und dass sie einen zweijährigen Bürgerkongress auf den Weg bringen und das Spitzenkandidatensystem institutionalisieren will, und dass sie sich für grenzüberschreitende Listen bei der nächsten Wahl einsetzten wird. Das sind Elemente, die dazu führen sollten, dass wir 2024 mit neuen Voraussetzungen in die Wahl gehen können. Sonst wird es schwierig, den Wählern zu erklären, wozu Wahlen überhaupt gut sind.

Was muss die EU, insbesondere von der Leyen und die Komission, nun tun, um die EU Skepsis nicht weiter zu nähren und eine erneute rechtspopulistische Anti-EU-Welle zu vermeiden?

Ich glaube wir müssen uns in den nächsten Jahren solide mit der Frage beschäftigen, wie man die EU demokratisieren kann, wie man die Rollen vereteilen kann. Wir brauchen eine starke Kommission, da lasse ich mich von Frau von der Leyen mal überraschen. Ich glaube man sollte die Dinge nicht kritisieren, bevor sie begonnen haben, sondern von der Leyen eine Chance geben. Sie darf aber nicht zum Spielball des EU-Rates werden, denn die Gefahr ist groß, dass Staaten Druck auf sie ausüben, mit dem Argument, dass das Parlament kaum hinter ihr steht. Wenn sie sich darauf einlässt, wird es keine wirkliche Weiterentwicklung geben. Ich hoffe also, dass von der Leyen jetzt Mut beweist, dann wird sie das Parlament auch hinter sich haben. Wenn sie die Abgeordneten hingegen enttäuscht, werden diese neun Vorzugsstimmen bald weg sein, und das Parlament kann die Kommission blockieren. Das wird dann sehr schwer für von der Leyen.

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Karl Trojer Gio, 07/18/2019 - 10:27

Die Wahl zum europäischen Parlament ist doch in erster Linie eine Wahl von Parteien und nicht eine Wahl von Spitzenkandidaten, oder ? Demgemäß ist es durchaus demokratisch, wenn Parteien entscheiden (und die Regierungschefs der 28 EU-Staaten sind deren demokratische Vertretung) wen sie dem EU-Parlament als Präsidentschafts-Kandidatin/Kandidaten für die EU-Regierung vorschlagen. Dabei steht nirgends geschrieben, dass diese/dieser gewähltes Mitglied des Parlamentes sein muss. So gesehen, ist die Wahl von Ursula von der Leyen durchaus eine demokratische Wahl, zumal sie von der Mehrheit des gewählten EU-Parlamentes bestätigt wurde. Die Alternative wäre wohl ein monatelanges, für die EU sehr schädliches, Tauziehen gewesen. Ich beglückwünsche die EU zu dieser Wahl: eine Frau, die die Kommission erstmals paritätisch besetzen wird, den Klimaschutz und die Solidarität als vorrangig einstuft und ein gutes Maß an Dialogfähigkeit mitbringt.

Gio, 07/18/2019 - 10:27 Collegamento permanente