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Covid’s neunzehn Metamorphosen I

Der vorliegende Text ist ein erster Teil von neunzehn Momenten, die unseren schmerzhaften Rückzug von einer Welt, die gerade aufatmet, dokumentieren. Von Maxi Obexer.
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Foto: GEZETT

Auf dem Weg in den Birkenhain, der mein naher Zufluchtsort geworden ist, treffe ich auf die Mutter und ihre drei jugendlichen Kinder, die den Hof gleich nebenan betreiben. Sie hocken zu viert auf dem Stück Felsen in der Sonne. Wir wechseln ein paar Worte, lassen uns viel Zeit dazwischen, als wollten wir in unserem stillen Sinnieren die Natur mitsprechen lassen. Eine Welt, in der der Frühling beginnt, die auflebt, umso mehr, so scheint es, je mehr wir uns von ihr zurückziehen, zurückziehen müssen. Ein Himmel ohne Kondensstreifen, eine Autobahn ohne Verkehr, eine Dorfstraße ohne Autolärm und ohne totgefahrener Tiere.
Wir hocken auf sonnengewärmten Steinen, halten „Abstand voneinander“, was heute soviel heißt wie: „Wir schützen uns voreinander“. Es tut gut „unter Menschen“ zu sein, auch wenn es nur fünf Minuten sind. Zwei Bussarde kreisen hoch oben im Himmel. Eine Welt, die ganz bei sich ist, deren Geräusche und Töne klarer sind als je zuvor. Spechte hämmern um die Wette auf den hochtönernen Eschen. Schwärme von Spatzen kreischen in den Sträuchern. Um Punkt sieben morgens, und abends um neun, der melodienreiche Gesang einer Amsel auf dem aufblühenden Kirschbaum. Und von einem Tag zum nächsten ein Feld voller Grillen.
Die natürliche Welt vor unseren Augen: unfassbar schön; der Rückzug schmerzhaft, wie bei der Trennung von einer Liebesbeziehung. Die mannigfache Kontaktaufnahme zu den Dingen und den Menschen, wie es der Körper mit seinen Sinnen ermöglicht, ist gestört. Ein unmerkliches Zurückschrecken im Moment des direkten und unmittelbaren Kontakts klickt zwischen mir und der Welt. Wie falsch die Aufklärer à la Descartes lagen, als dieser die fundamentale Trennung zwischen den Menschen und der kreatürlichen Welt festlegte, zeigt sich einmal mehr jetzt. Und noch mehr dessen Setzung: „Ich denke, also bin ich.“ Jetzt, wo uns noch der Dialog geblieben ist, die Stimme, das Sprechen, die Begegnung im Austausch von Gedanken.
Und auch dieser Text hier ist nur eine Replik auf die hundert Dialoge, die ich seit Beginn der Ausgangssperre mit anderen führen durfte, verteilt über den Globus, vereint in der Sorge umeinander, um die Frage, wie es weitergeht, mit uns und mit unseren Systemen in dieser Welt, in die die Menschheit bisher gnadenlos vorgeprescht ist.
Das Leid ist enorm, und es trifft uns unterschiedlich hart, doch etwas mag besänftigend sein: wir sind alle betroffen. Und: nur das gemeinschaftliche Handeln hilft uns jetzt noch weiter. Bisher war die Konkurrenz die Praxis, das Trennen und Spalten das Leitmotiv neoliberaler Kräfte, das überallhin vorgedrungen ist, in den öffentlichen Raum, in die Berufe und in die letzten Winkel persönlicher Beziehungen. Ausbeutung und Verdrängung.
Als Konsumenten und wahlweise Produzenten definiert, und nicht als Bürger, bangen wir fortwährend, dass wir den ständig steigenden Konsum- Wohn- und Lebenskosten nicht gerecht werden. Leisten, oder produzieren immer mehr für immer weniger Geld, etwas, das intellektuelles, künstlerisches Arbeiten genauso betrifft wie landwirtschaftliches.
Und gescheitert wird allein im Individualismus kapitalistischer Prägung. Der Druck, den neoliberale Strukturen erzeugen, fand seine ideologische Fortsetzung im Rechtspopulismus und seinem reflexhaften Hass auf Migranten (die wir alle sind), oder auf den Wolf. Wir sind tief gespaltene Gesellschaften inzwischen.
Die Pandemie wirft uns wieder zusammen. Das Innehalten, unser Dahocken hier auf dem sonnigen Stück Felsen birgt die Chance zu überlegen, welch andere Ausgänge wir finden, als wieder dorthin zurück, wohin wir uns hineinmanövriert haben, frei nach der Logik von Ausbeutung und Verdrängung.
Kurzer Blick zurück an den Anfang der Ausgangssperre. „Wir haben ja noch den Balkon. Und den Frühling. Und die Sonne auf dem Balkon.“ Das schickte ich gerade als WhatsApp an meine Freundin, da drang ein beißender Gestank in meine Nase. Es roch nach Pest, oder der flüssigen Verdauung von Silage. Schnell rein, schnell die Wäsche rein, schnell alles schließen und von drinnen rausschauen. Sie rückten an, sie rückten aus, wie so oft inzwischen. Die Artillerie der Jauche-Panzerwagen, die immer größer werden. Ich sah den Hügel hoch, zu den terassenförmig angelegten Feldern, ganz oben, am obersten Feld zog einer seine Bahnen, er spritzte über vier Felder gleichzeitig herab. Und ich sah zwei alte Frauen im Gegenlicht zur Sonne, sie lehnten am untersten Weg am Holzzaun. Der Strahl Jauche spritzte über ihre Köpfe hinweg, sie hielten sich das Kopftuch fest und suchten Deckung am inneren Rand des Weges.
Auf dem Weg zum Einkauf traf ich auf den Bauern, der sich gerade wieder mit einer neuen Ladung Jauche ans Werk machte. Ob denn angesichts der Tatsache, dass wir gerade mal 200 Meter Auslauf haben und mit etwas Glück einen Balkon, nicht etwas Rücksicht angebracht sei? Er drehte sich sogleich von mir weg, und mit gleicher Werfe wieder zu mir zurück. „Das sind unsere Felder, damit tun wir, was wir wollen!“ Ich versuchte es noch einmal vorsichtig. Er unterbrach: „Da musst du gar nicht erst anfangen, Da musste du gar nicht erst reden.“ Wir werden reden müssen. Und wir werden gemeinschaftlich handeln und denken müssen, wenn wir einen für überlebensfähigen Umgang mit der Pandemie und nicht nur damit hinkriegen wollen. Wir sind zum solidarischen Handeln verdammt, wenn man so will. Wenn nicht, gehen wir unter. Wir können damit anfangen uns zu fragen, wer denn die Ausbeuter sind und die Verdränger, oder: wer wird ausgebeutet und was wird verdrängt? Die Antwort läuft immer auf selbe hinaus: Wir alle sind Ausbeuter und Ausgebeutete und wir verdrängen die natürliche Welt auf eine Weise, dass zuerst sie – aber zuletzt wir die Verdrängten sind.

aus: Momenten die uns bloßlegen, Momenten die uns verändern