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Im Kampf um Geschichte(n)

Der Historiker Sebastian De Pretto hat ein Buch über die Erinnerungsorte des Abessinienkriegs in Südtirol veröffentlicht. Ein Gespräch dazu. Auch über Indro Montanelli.
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Foto: Bolzano Antifascista

salto.bz: In Ihrem eben erschienenen Buch „Im Kampf um Geschichte(n)“ geht es um Erinnerungsorte des Abessinienkrieges in Südtirol. Wie wichtig sind solche Erinnerungsorte für eine Gesellschaft, die aus mehreren Gründen nicht über jene totalitären Jahre spricht?

Sebastian De Pretto: Da sich geschichtspolitische Akteure über Erinnerungsorte Ausdruck verschaffen, sind sie für die von ihnen vertretenen Erzählkonventionen ausgesprochen aussagekräftig. Innerhalb sogenannter „Gedächtnisräume“ bilden Erinnerungsorte demnach Kristallisationspunkte gemeinsam geführter Vergangenheitsdebatten. Innerhalb von solchen können polarisierte Geschichtsauffassungen aufeinandertreffen und teils verstrittene, teils harmonische Vergangenheitsbilder generieren. Brüche und Übereinstimmungen in der Erinnerungskultur eines Gedächtnisraumes werden somit sichtbar, anhand  welcher sich Aussagen über geschichtspolitische Kraftfelder machen lassen. Da sich gerade umkämpfte Gedächtnissorte für derartige Untersuchungen eignen und der Abessienkrieg in Südtirol seit jeher höchst ambivalent erinnert wird, haftet auch dessen erinnerungskulturellen Hinterlassenschaften eine hohe Aussagekraft an. An diesen zeigt sich die in Südtirol lange Zeit vorherrschende, kulturnationalistische Geschichtspolitik überdeutlich.


Wie mehrdeutig wurden solche totalitär erdachten Südtiroler Erinnerungsorte im Lauf der Nachfolgejahrzehnte interpretiert?

Erinnerungsorte werden immer den zeitgegebenen, soziopolitischen Umständen nach mit Bedeutung(en) aufgeladen. Deren Interpretation hängt somit wesentlich davon ab, wer im Gedächtnisraum Südtirol jeweils über die Deutungshoheit der Geschichte verfügte. War dafür während der faschistischen Herrschaftszeit Mussolinis Staatsideologie ausschlaggebend, so erhielten zwischen 1943 und 1945 die Nationalsozialisten kurze Zeit das Sagen, wie die Vergangenheit allgemein verstanden werden sollte. Nach 1945 öffnete sich um das kollektive Geschichtsverständnis in Südtirol relativ rasch ein kulturnationalistischer Frontverlauf, auf dessen beiden Seiten sich italienisch- und deutschnationalistische Zivilorganisationen und Parteien gegenüberstanden und sich um die in ihren Augen rechtmäßige Zugehörigkeit ihrer Heimat stritten. Es dauerte danach einige Jahrzehnte, bis sich ein dritter, differenzierter – aber zugleich auch versöhnender – Weg im Umgang mit der umkämpften Geschichte abzeichnete. Dieser wird spätestens seit den 90er-Jahren von Medien und Institutionen wie Geschichte & Region / Storia e regione, dem Südtiroler Landesarchiv sowie einigen kritischen Fachhistoriker*innen erfolgreich beschritten und zeigt sich öffentlich beispielsweise in der Kontextualisierung des Siegesdenkmals oder des Piffrader-Reliefs am Gerichtsplatz. Es ist zu wünschen, dass sich dieser dritte Weg irgendwann gegenüber den engstirnigen, kulturnationalistisch-verhafteten Geschichtsinterpretationen durchsetzen wird.

Dass Aktivist*innen Montanellis Denkmal nun aus Frust um postfaschistische Geschichtsbilder – und dem damit verbundenen Rassismus – im öffentlichen Gedächtnisraum mit Farbe anprangern, ist meiner Meinung nach nachvollziehbar.

Ein Denkmal das an den Journalisten Indro Montanelli erinnert, wurde vor wenigen Tagen Ziel einer Farb-Attacke. Das Attentat auf das Denkmal will Montanellis Rassismus der 1930er Jahre an den Pranger stellen. Ist die Aktion Ergebnis auf das schweigsame Dulden von Montanellis dunklen Flecken in seiner Lebensgeschichte?

Über die genaue Intention der Farbattacke auf das Montanelli-Denkmal müssten eigentlich besser die daran beteiligten Aktivist*innen Auskunft geben. Feststeht jedenfalls, dass Indro Montanelli eine äußerst unkritische Version seines Kriegseinsatzes in Äthiopien von sich gab, womit er die von Italien verübten Kriegsverbrechen stets verleumdete. Zweifellos ist ein solch schönfärberisches Geschichtsbild, in welchem die Leiden und Opfer des Vernichtungskriegs auf Kosten eines erinnerungskulturellen Dienstes an der Nation verschwiegen werden, inakzeptabel. Folglich machte Montanelli auch seiner Stimme als angesehener Journalist gebrauch, als er sich in den 90er-Jahren dafür einsetzte, dass kritische Kolonialhistoriker wie Angelo Del Boca trotz jahrzehntelanger Forschung öffentlich angezweifelt wurden. Unter dem Vorwand der Zeitzeugenschaft trat Montanelli damals als Verfechter rechtsnationalistischer Geschichtsbilder auf, obwohl er es eigentlich besser hätte wissen sollen. Dadurch stand er der kritischen Aufarbeitung der italienischen Kolonialgeschichte zu einem entscheidenden Zeitpunkt im Weg. Dass Aktivist*innen Montanellis Denkmal nun aus Frust um postfaschistische Geschichtsbilder – und dem damit verbundenen Rassismus – im öffentlichen Gedächtnisraum mit Farbe anprangern, ist meiner Meinung nach nachvollziehbar.

In Südtirol gibt es mehrere Erinnerungsorte, die an die „Erfolge“ der Faschisten in Ostafrika erinnern. Auch an den Rassismus und die bemitleidenswerte Arroganz des totalitären Regimes. Was haben Sie dazu im Speziellen recherchiert?

In meinem Buch habe ich untersucht, wie der Abessinienkrieg in Südtirol an vier Erinnerungsorten zu bestimmten Zeitpunkten erinnert worden ist. Hierfür habe ich das Alpinidenkmal in Bruneck, die Straßennamen in Bozen, die Südtiroler Heimatbücher sowie die um den Abessinienkrieg kursierenden Kollektiverzählungen analysiert. Darin zeigte sich, wer an den dortigen Geschichtsdebatten jeweils mehr oder weniger prominent teilnahm und was für Erzählungen dabei aus welchen Motiven vorgetragen wurden. Ich hoffe, die unterschiedlichen Funktionen des Abessinienkriegs für die umstrittene Erinnerungskultur in Südtirol somit verständlich herausgearbeitet zu haben.

 

Wie wird der gelebte Alltags-Rassismus der faschistischen Kämpfer im Abessinienkrieg deutlich?

Meine Studie konzentrierte sich auf die öffentliche Erinnerung an den Krieg, wodurch der Fokus mehr auf Bilder und Narrative ruhte, die nach dessen Ende in Südtirol zu zirkulieren begannen. Der Rassismuss faschistischer Kämpfer in Abessinien wurde dadurch nur am Rande angesprochen, zumal die meisten Südtiroler als Armeeangehörige und nicht als Schwarzhemden am Krieg teilnahmen. Aus den überlieferten Zeitzeugnissen der Südtiroler Soldaten – wie beispielsweise Tagebüchern oder Fotografien – spricht aber durchaus ein tief in ihnen verwurzelter Rassismus gegenüber der abessinischen Zivilbevölkerung. Dieser war allerdings mehr von den damaligen, kolonialen Stereotypen geprägt, als von einer durch und durch faschistischen Weltanschauung. Die wechselhafte Einstellung der Südtiroler Abessinienkämpfer gegenüber ihren italienischen Kameraden, den Schwarzhemden, den Kolonialtruppen oder den Äthiopiern ist allerdings hochkomplex, sodass sich darüber kaum Pauschalaussagen machen lassen.

Wie prägen jahrzehntealte Mahnmale die Geschichte eines Landes, welches Geschichte gerne nach Sprachgruppen getrennt aufarbeitet und aufbereitet?

An solchen Erinnerungsorten zeigt sich die Ambivalenz polarisierter Geschichtsbilder überdeutlich. Dass sich kulturnationalistische Erinnerungsaktivisten immer wieder an solchen Denkmälern stoßen, macht den konfliktreichen Umgang mit diesen offensichtlich. Letztendlich stellen solch erinnerungskulturelle Provokationen im öffentlichen Raum aber auch eine dankbare Plattform dar, um die eigene Weltanschauung zu propagieren. Eine kritische Kontextualisierung der Denkmäler, wie sie in Bozen und Bruneck vorgenommen wurde, nimmt ihnen jedoch dieses Streitpotential und ist daher zu begrüßen.

Der Abessinienkrieg war ein Vernichtungskrieg, der mit Giftgas und wütenden Soldaten Mord und Vergewaltigungen nach Äthiopien brachte. Insofern war er weder eine selbstlose Zivilisierungsmission noch ein Pfadfinderlager, auch wenn das die faschistische Regimepropaganda so darzustellen versuchte.

Sie haben auch Straßennamen und Straßenumbenennungen untersucht. Inwieweit ist faschistische Kolonialisierungs- und bestehende Erinnerungskultur in Südtirol mit jener in Ostafrika zu vergleichen?

In der Erinnerungskultur Ostafrikas kenne ich mich leider zu wenig aus, um diese mit derjenigen Südtirols zu vergleichen. Was ich sagen kann, ist, dass Südtirol als inmitten Europas gelegene Region in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sicherlich ungleich weniger Leid und Not erfahren musste, als die Länder Ostafrikas. Somit war in Südtirol allerdings auch mehr politischer Freiraum vorhanden, um sich um eine „korrekte“ Lesart der Geschichte zu streiten, womit die öffentliche Erinnerungskultur hier wahrscheinlich heftiger und lauter ausgetragen wurde. Eine abschließende Antwort bedarf hierzu aber zusätzlicher Forschungsarbeit.

 

Welche neuen Quellen zum Abessinienkrieg haben Sie in Ihrem Buch einarbeiten können?

Da die vier Erinnerungsorte bis dahin noch kaum untersucht waren, durfte ich bei meinen Recherchen weitgehend unbearbeitetes Quellenmaterial auswerten. In Südtirol habe ich das Landesarchiv und das Stadtarchiv in Bozen, die dortigen Bibliotheken sowie das Stadtarchiv in Bruneck aufgesucht. In Rom und in Verona habe ich außerdem noch Dokumente in staatlichen Archiven eingesehen, aus welchen sich die behördliche Denkmalpolitik der Nachkriegszeit stellenweise herausarbeiten ließ.

Je differenzierter eine Geschichtsschreibung demnach ausfallen möchte, desto mehr sollte sie auch auf die „kleinen Geschichten“ eingehen.

In der kollektiven Erinnerung wurde der Krieg in Abessinien als Abenteuer zahlreicher mutiger Männer geschildert. Was war er tatsächlich?

Der Abessinienkrieg war ein Vernichtungskrieg, der mit Giftgas und wütenden Soldaten Mord und Vergewaltigungen nach Äthiopien brachte. Insofern war er weder eine selbstlose Zivilisierungsmission noch ein Pfadfinderlager, auch wenn das die faschistische Regimepropaganda so darzustellen versuchte. Dass Veteranen in ihren Erinnerungen an den Kriegseinsatz dieses Narrativ trotzdem lange Zeit weitererzählt haben, ist sowohl in Italien als auch in Südtirol unterschiedlichen Motiven geschuldet, die sich teils aus deren privaten Lebensverhältnissen- teils aus der sie umgebenden Geschichtskultur herleiten lassen. Daher sind Erzählungen vom Abessinienkrieg – liegen diese nun als Zeitzeugnisse oder nachträgliche Erinnerungen vor – stets quellenkritisch zu lesen.

Den Satz von Claus Gatterer „Die wahre Geschichte, das sind die kleinen Geschichten“ haben Sie an den Anfang Ihres Buches gestellt. Wie unwahr kann Geschichte und Geschichtsschreibung sein, beispielsweise im Hinblick auf die Journalistenfigur Indro Montanelli…?

Claus Gatterers Satz verweist darauf, dass sich abseits von Meistererzählungen immer unzählige, historische Einzelschicksale verbergen, die facettenreiche Einblicke in die Vergangenheit versprechen. Je differenzierter eine Geschichtsschreibung demnach ausfallen möchte, desto mehr sollte sie auch auf die „kleinen Geschichten“ eingehen. Da Geschichte jedoch grundsätzlich erzählt werden muss, kommt sie nie ohne die dahinterstehende Intention einer Erzählinstanz aus, womit sie letztendlich keine endgültige, historische Wahrheit für sich beanspruchen kann. Gewiss verfügen dazu die Quellen über das entscheidende Vetorecht, über das sich zumindest wissenschaftliche Erzählweisen nicht hinwegsetzen dürfen. Je mehr sich Schilderungen der Vergangenheit von den vorhandenen Quellen distanzieren bzw. diese gar nicht erst berücksichtigen, desto schwieriger wird es freilich mit dem Wahrheitsanspruch. Wenn dazu noch eine bestimmte Ideologie im Hintergrund die Richtung der Geschichtserzählung vorgibt, wie das bei Montanelli zweifellos der Fall war, dann verläuft die Suche nach historischer Wahrheit darin vergeblich.