Politica | Afghanistan

Das Scheitern des Westens am Hindukush

Warum das Scheitern des Westens in Afghanistan lange vorauszusehen war und warum es für uns langfristig noch ernste Folgen haben kann
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Um die Jahrtausendwende, jedenfalls vor 9/11, erschien ein Buch auf dem Markt mit dem Titel: "Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen.", von Siba Shakib. Sie beschreibt in einem erschütternden Werk das Leben einer Frau in Afghanistan. Angefangen vom Einmarsch der Sowjets bis zur Machtergreifung der Taliban.

Warum fange ich hier mit der Beschreibung dieses Buches an? Afghanistan ist ein Land, das seit nunmehr 40 Jahren nicht mehr weiß, was Frieden bedeutet. Nur noch die Alten können davon erzählen, dass es einmal ein buntes, friedliches Land am Hindukusch gab. Ohne Zerstörung, Terror und Tod. Die große Mehrheit der Afghanen ist weit jünger als 40 Jahre alt und hat so noch nie einen Tag Frieden erlebt. Für Deutschland ist der 30 jährige Krieg von 1618 bis 1648 bis heute ein nationales Trauma. Im Land am Hindukusch wird es wohl auch nach über 40 Jahren kein friedliches Leben geben.

Wie konnte es, oder schlimmer, wie konnte es jetzt wieder dazu kommen? Nach einer 20 jährigen Präsenz des Westens und Billionen von Dollars, die in das Land geflossen sind.

Afghanistan ist ein Land, dass man nicht so einfach verstehen kann. Man kann es nicht einfach mit den Staaten der westlichen Welt vergleichen, die schon zum Teil seit Jahrhunderten als fest zusammengewachsene Nationalstaaten bestehen. Das Land in Zentralasien ist eines, in dem verschiedene Volksgruppen und Stämme das Geschick etlicher Provinzen kontrollieren. Dazu kommen auch die Teils strengen, Teils liberalen Auslegungen des Islam. Die Zentralregierung in Kabul hatte nie wirklich die absolute Kontrolle über das Land. Deshalb musste der Plan der westlichen Allianz, vor allem der USA, scheitern, aus Afghanistan ein zentralistisch regiertes Land wie Frankreich zu machen. Oft sprachen westliche Militärs auch von zwei verschiedenen Einsatzgebieten. Von Afghanistan und von Kabulistan
 

Wer verstehen will, warum der Einsatz am Hindukusch auch scheitern musste, muss sich vor allem vor Augen führen, dass es in der Geschichte nie wirklich gelungen ist, das Land dauerhaft zu erobern und zu beherrschen. Man bedenke einfach die Tatsache, dass der letzte dem dies einigermaßen gelungen ist, Alexander der Große war. Das war vor fast 2500 Jahren. Danach haben es zwar immer wieder andere Mächte versucht, aber Mongolen, Perser, Briten und zuletzt die Sowjets scheiterten an diesem Volk und seinem unwirklichen Land.

Vor allem die Briten, die 2001 zu den primären Verbündeten der USA im Krieg gegen den Terror avancierten, hätten aus ihrer Geschichte wissen müssen, dass man in Afghanistan keinen Blumentopf gewinnen kann. Schon gar nicht einen Krieg. Das Empire erlebte 1842 ein Desaster am Hindukusch. Eine aus Kabul ausbrechende Division der Briten mitsamt Familien und Hilfskräften wurde in den Schluchten gnadenlos abgeschlachtet. Dieses Massaker klang damals bis nach Deutschland durch, wo Theodor Fontane dem einzigen Überlebenden, einem Militärarzt, eine Ballade widmete. "Mit Dreizehntausend der Zug begann; nur einer kam aus Afghanistan." Diese Zeilen hätten manchen schon 2001 zu Denken geben sollen.

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass ein blühendes Land, das in den 1960er Jahren vor allem bei den europäischen Hippies ein Sehnsuchtsort war, zu einem gescheiterten Staat, einem failed state werden konnte.

Der freie Lebensstil, den die Hippies suchten,war damals fast ausschließlich in und um Kabul zu finden. Der Rest des Landes war immer noch in den alten Stammes- und Clantraditionen verhaftet. Der damals regierende König hatte in den Provinzen kaum Einfluss.

Afghanistan war von 1919 bis 1973 eine konstitutionelle Monarchie. Seit 1933 stand Mohammed Zahir Schah an der Spitze des Landes und verfolgte eine prowestliche Ausrichtung. Er führte freie Wahlen, ein Parlament mit zwei Kammern und sogar das Frauenwahlrecht sowie Pressefreiheit ein. Allerdings war diese fortschrittliche Politik im Land nicht unumstritten. Vor allem die Provinzfürsten lehnten sie zum großen Teil ab.  1973 wurde die Monarchie dann durch den sowjetfreundlichen Mohammed Daoud Khan gestürzt und eine Republik ausgerufen. Doch Daoud wurde schon 1978 durch die sog. Sauerrevolution wieder gestürzt und Nur Mohammed Taraki  brachte die kommunistisch geprägte Demokratische Volkspartei Afghanistan an die Macht. Sie wollte einen gesellschaftliche Umgestaltung mit Hilfe mit Hilfe Moskaus umsetzen, in dem sie zum Beispiel die Alphabetisierung der Landbevölkerung voran trieb. Allerdings stieß dies schon bald auf militärischen Widerstand. Und so entschloss sich die Sowjetunion 1979 zum Einmarsch nach Afghanistan, um das Regime in Kabul zu stützen und an der Macht zu halten.

Aus diesem Einmarsch der Roten Armee entwickelte sich ein brutaler Stellvertreterkrieg am Hindukusch.Für die damalige UdSSR wurde er zum eigenen Vietnam. Denn die Rote Armee traf auf ein zum erbitterten Widerstand entschlossenes Volk. Ein hoher Vertreter Moskaus sagte schon 1980 zum deutschen Außenpolitiker der SPD Egon Bahr: "Wir trafen auf ein Volk, das zum Kommunismus gar nicht bereit war."  Die Russen wurden in einen Guerillakrieg gegen die Mudschaheddin gezwungen, die vor allem von den USA und Saudi-Arabien ausgerüstet und finanziert wurden. Die damals größte Militärmacht der Welt verstrickte sich immer mehr in einen Konflikt, der nicht zu gewinnen war. Der endgültige Wendepunkt kam, als die USA dazu übergingen, die Mudschaheddin mit tragbaren Boden-Luft Raketen, den sog. Stinger auszurüsten. Nun war es den Afghanen möglich Hubschrauber und sogar Kampfflugzeuge abzuschließen. Das brach endgültig die Moral der russischen Soldaten. 1989 musste die UdSSR dann einen kläglichen Rückzug antreten, der auch ihr eigenes Ende besiegelt hat.

Aber der Krieg in Afghanistan ging weiter. Es war ein grausamer Bürgerkrieg. Lokale Warlords, religiöse Extremisten und lokale Provinzfürsten kämpften um die Macht am Hindukusch. Der noch vom Kreml eingesetzte Präsident Mohammed Nadschibullah hielt sich noch bis 1993 an der Macht. Kabul wurde dann in einem grausamen Krieg zwischen dem islamistischen, von Pakistan unterstützten Warlord Gulbuddin Hekmatyar und dem afghanischen Staat nahezu vollständig zerstört.

Die Taliban traten erstmals 1994 im Erscheinung. Und zwar südlich der Provinz Kandahar. Taliban bedeutet soviel wie Koranschüler und ihre Bewegung bildete sich in den Koranschulen afghanischer Flüchtlinge in Pakistan. Während des Jahres 1994 eroberten diese Gotteskrieger große Teile des Landes und kamen 1996 schließlich an die Macht. Sie errichteten mit Hilfe Pakistans das Islamische Emirat Afghanistan und führten eine der extremsten, ja nahezu mittelalterliche Auslegung der Scharia ein. Sie verübten grausame Massaker an der Zivilbevölkerung. Vor allem Frauen verloren nahezu alle Rechte. Ihnen wurden die Fingerkuppen abgetrennt, wenn sie Nagellack trugen. Waren sie geschminkt, drohte ihnen sogar der Tod. Bilder und Musik wurden bei Todesstrafe verboten.

Unter dem Deckmantel der traditionellen afghanischen Gastfreundschaft gewährten die Taliban einer Organisation und ihrem Anführer Unterschlupf vor der Verfolgung durch die USA. Diese Organisation wurde dann für die Anschläge von 9/11 verantwortlich gemacht. Al Quaida und. Osama Bin-Laden.

Nach 9/11 gerieten die Taliban ins Fadenkreuz der USA in ihrem Krieg gegen den Terror. Hier machte man schon 2001 den ersten gravierenden Fehler. Niemand wollte oder durfte, und das gilt bis heute, zur Kenntnis nehmen, dass die Attentate vom 11. September nicht das Werk afghanischer Freischärler, sondern saudischer Studenten war. Al Quaida war keine afghanische, sondern eine saudische Organisation. Finanziert zu einem wesentlichen Teil durch den Trust Dar El Maal el-Islami des hochangesehenen Prinzen Mohammed el-Feisal. Und man sollte wissen, dass Bin Laden und seine Grüne Fremdenlegion in enger Zusammenarbeit mit der CIA stand, um gegen die Russen zu kämpfen. Aber wer geht schon gegen seinen größten Öllieferanten vor? Sogar an der Aufstellung der Taliban waren U.S. und pakistanische Geheimdienste beteiligt. Viel zu spät erkannte man, worauf man sich eingelassen hatte.

Spätetstens als die ersten deutschen Soldaten in Afghanistan fielen, Zivilisten entführt wurden, musste ein Umdenken beginnen. Natürlich konnte man ein strategisches Projekt nicht einfach aufgeben, weil es Soldaten kosten könnte. Das gehört nun einmal zu Militäreinsätzen dazu. Erst recht darf sich ein Staat nicht von Terroristen erpressen lassen. Auch wenn es schmerzhaft ist. Aber bereits 2004 musste die Frage, ob der NATO Einsatz in Zentralasien Sinn macht, klar beantwortet werden. Mit NEIN.

Ein deutscher General sagte zu der Zeit vor laufenden Kameras, wenn Deutschland nicht in Afghanistan bliebe, käme Afghanistan nach Deutschland. Vielleicht hätte er einmal auf die Landkarte blicken sollen, was sich gerade im Irak, im Nahen Osten, in Libyen abspielte. Das war weitaus wichtiger für Europa als die Behauptung irgendwelcher Stützpunkte am Hindukusch.

Aber was war noch entscheidend für die Blamage des Westens?
Der Westen hat nie wirklich aus seinen Militäreinsätzen etwas gelernt. Sei es Vietnam oder Somalia. Aber man darf auch Algerien 1963 nicht übersehen. Damals weigerten sich die Franzosen mit der Nationalen Befreiungsfront Algeriens zu verhandeln und schickten immer mehr junge Wehrpflichtige in einen brutalen Krieg, der ebenso nicht zu gewinnen war. Auch wenn Algerien damals unbestritten einigermaßen befriedet und stabilisiert werden konnte, musste de Gaulle, weil er erkannte, wie ausweglos die Situation tatsächlich war zum Wohle Frankreichs Algerien preis geben.

Dieser Weitblick fehlt heute fast sämtlichen Politikern. Auch weil sie nie wirklich verstanden haben, wie die Seele des afghanischen Volkes wirklich aussieht. Unsummen wurden in den Aufbau einer Armee und Polizei gesteckt, mit dem Ziel, das Land neu zu erschaffen. Man verließ sich darauf, dass die Afghanen irgendwann auf eigenen Beinen stehen, kämpfen und für Ordnung sorgen werden. Eine unglaubliche Illusion. Solange der Sold floss, funktionierte das auch einigermaßen. Doch Milliarden Dollar erreichten fast ausschließlich nur einige wenige Eliten des Landes. Die Moral der afghanischen Truppen und Polizisten existierte schon bald nicht mehr. Warum für etwas kämpfen und sterben, wenn man nicht einmal Geld bekommt? Dazu kamen noch die horrenden Verluste bei unzähligen Anschlägen. Und wer an die Dankbarkeit oder grenzenlose Loyalität der Afghanen glaubte, hätte sich nur einmal das afghanische Sprichwort merken müssen:" Einen Afghanen kann man nicht kaufen, nur mieten."

Das Land liegt in einer geostrategisch äußerst umkämpften Region. Viele fragen sich, wo die Taliban seit 2001 geblieben sind. Sie waren nie wirklich weg. Ein großer Teil zog sich in die Grenzregion zu Pakistan zurück. Dort konnten sie einigermaßen ungestört ihr Dasein führen, weil die pakistanische Regierung ihre Armee zum Konfliktherd Kaschmir gegen Indien verlegt hat. Und man muss erkennen, dass man auf Pakistan nicht einfach so Druck ausüben konnte. Pakistan ist immerhin eine Atommacht. Ein weiterer Teil der Taliban tauchte einfach in der Bevölkerung unter. Unter den Paschtunen genossen und genießen sie weiterhin großen Rückhalt, da die Provinzen der künstlich eingesetzten Regierung in Kabul  zutiefst misstrauten. Was war das schon für ein Parlament in der Hauptstadt? Es war eine bunt gescheckte Versammlung aus Warlords, ehemaligen Mudschaheddin, ehemaligen Kommunisten usw. Dann setze man Gouverneure in den einzelnen Provinzen ein, die fast nie der ethnischen Zusammensetzung vor Ort entsprachen und den Posten nur auf Grund von Korruption erhielten. Wenn jetzt Joe Biden davon spricht, es wäre ja nie das Ziel der USA und des Westens gewesen, eine neue Nation aufzubauen, ein sog. Nation Building durchzuführen, sondern nur die Auslöschung diverser Terrororganisationen, dann lügt er. Nach dem Krieg gegen den Terror sollte sehr wohl ein westlich geprägtes Afghanistan entstehen. Aber das funktioniert nicht. Weder am Hindukusch, noch in Ägypten, in Tunesien oder dem Irak. Nicht einmal in der Türkei. Jeder sieht doch, dass der sog. Arabische Frühling nur eine Illusion geblieben ist.

Was bedeutet der Fall Afghanistans jetzt aber für die Zukunft?
Abgesehen vom grausamen Leid der Bevölkerung des Landes, kann es eine ganze Region destabilisieren. Angefangen von Pakistan über Tadschikistan bis hin zum Iran und sogar der Türkei. Gerade der Iran ist zurzeit wirtschaftlich und durch die Corona Pandemie arg geschwächt und könnte durch tausende afghanischer Flüchtlinge noch weiter destabilisiert werden. Das birgt enormen Sprengstoff für das Mullahregime in Teheran.Auch die Türkei ist gefährdet, da auch hier viele Flüchtlinge ankommen können, um den Weg nach Europa zu suchen. Kann Ankara eine neue Flüchtlingswelle verkraften? Muss man wieder mit Erdogan verhandeln, sprich ihm Milliarden Euro anbieten, damit er die Flüchtlinge zurückhält? Es ist schwer vorauszusagen.

Abstossend bleibt aber vor allem das schäbige Verhalten des Westens gegenüber den vielen ehemaligen Mitarbeitern der Verbündeten. Jeder wusste, was ihnen nach Abzug der westlichen Truppen blühen wird. Man hat ihnen keinerlei Hilfsangebote gemacht. Und wenn, dann waren die bürokratischen Hürden fast nicht zu überwinden. Sie wurden buchstäblich dem Tod überlassen. Der Westen hat nun Endgültig seine Glaubwürdigkeit in der Welt eingebüßt. Niemand wird der westlichen Wertegemeinschaft mehr glauben, dass sie nur im Interesse der Menschen vor Ort handelt, wenn sie militärisch eingreift. Das Scheitern des Westens in Afghanistan ist auch der Blindheit vieler Politiker und Militärs geschuldet. Warum sollte man etwas schaffen, was schon 130.000 Russen mitsam zigtausenden Panzern in einem Zermürbungskrieg nie gelungen ist? Glaubten die deutschen Militärs wirklich, dass sie mit Leopard Panzern, die für die Norddeutsche Tiefebene gebaut wurden und nicht einmal im Kosovo funktionierten, am Hindukusch was erreichen konnten? Das muss einem sehr naiv vorkommen.

Selbst die deutsche Bevölkerung hat schon früh erkannt, spätestens 2004, dass es besser gewesen wäre, diesen sinnlosen Einsatz zu beenden. Aber wie wir wissen, ist es Mode unter Politikern geworden, die Meinung des Bürgers geringzuachten, gemäß der abschätzigen Redensart von einst: " Vox populi, vox Rindvieh!"

Afghanistan wird uns noch sehr lange beschäftigen. Dagegen war Vietnam nur halb so schlimm was die Spätfolgen betrifft. Man hätte es verhindern können und müssen. Aber wollte man das wirklich?
Nur eine Macht wird wohl nachhaltig von diesem Desaster profitieren. Das Reich der Mitte. CHINA.