Cultura | Salto Weekend

Tirolés

Der Autor David Casagranda stellt am Montag sein Romandebüt Tirolés vor. Salto bringt vorab einen Textauszug des authentischen, interkontinentalen Lederhosenwestern.
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Foto: edition raetia

Natürlich hatte der Toni den Josef erkannt. Und rief ihn an: „Bleib stehen, Oberkalmsteiner, ergib dich!“ Selbstverständlich rief der Toni den Josef nicht auf Hochdeutsch an, aber Tirolerisch hatte sich bislang unverständlicherweise noch nicht als Weltsprache durchgesetzt. Wir (Pluralis Majestatis für: der Schreiber) tragen diesem tragischen Umstand in der vorliegenden Erzählung Rechnung und verzichten weitgehend auf Dialektbegriffe.

Aus den Alten Bergen übers Große Wasser in die Neuen Berge: Eine Reise. Und ein Roman. Ich würd ihn lesen.
(Kurt Lanthaler)

Das würd’ euch so passen. Bloß schade um das schöne Reh. Josef warf ihm noch einen bedauernden Blick zu, dann sprang er querab talwärts, so schnell er nur konnte. Keine hundertfünfzig Fuß weiter unten begann dichtes Unterholz, da konnten sie ihn lange suchen, zumal sie keine Hunde dabeihatten. Was war denn das? Zuerst spürte er den Luftzug, ganz knapp neben seinem rechten Ohr, dann schlug die Kugel in den Baum vor ihm ein. Erst jetzt hörte er den Knall, und gleich noch einen. Die schossen ihm nach! Aber nicht mit ihm. Er ließ sich fallen, rollte hinter eine dicke Fichte und brachte den Stutzen schon wieder in Anschlag. Bei seinen Verfolgern rührte sich was. Ohne nachzudenken drückte Josef ab, zum zweiten Mal an diesem Morgen. Eine Gestalt fiel ebenso unspektakulär um wie vorhin das Reh. Noch ein Volltreffer. Mist, das war der Baron. Es gab keinen Zweifel. Jacke und Hut, wie sie sich kein Dörfler jemals würde leisten können, sowie deutlich ergrauter Spitzbart. Der Toni trug einen schwarzen Vollbart, der ihm zugegebenermaßen ganz ausgezeichnet stand und mit dem er nicht nur bei den Mägden gut ankam, die Gerüchte im Dorf wollten von wenigstens zwei adligen Damen wissen, die zu seinen Opfern gehörten. Außerdem war ihm bestens bekannt, dass der Josef einen treffsicheren Stutzen führte, und er passte wohlweislich auf. Der Rebitzki war gut zwanzig Jahre jünger als der Baron, noch dazu kampferfahren. Deshalb war er, wie auch der Toni, rechtzeitig in Deckung gegangen. Nicht so der Baron. Herrgott, was musste dieser verwöhnte Stubenhocker derart langsam sein! Kein Mensch blieb bei einem Schusswechsel einfach stehen. Damit forderte man die Kugel doch geradezu heraus. Josef war stocksauer. Half aber alles nichts. Er wusste sofort, dass er jetzt so schnell wie möglich so weit weg musste, wie’s ging. Er konnte weder ins Dorf noch auf die Alm zurück. Wahrscheinlich versuchte der Toni, ihm den Weg auf die Alm abzuschneiden, während der Polizeipinsel ins Dorf lief. Selbst wenn Josef kurz vor ihm ankommen sollte – sowieso schwer, er durfte sich ja nicht sehen lassen, sonst bekam auch er ein Stück Blei ab –, würden ihm schon wenige Minuten später die Polizisten auf den Pelz rücken, die mit dem Rebitzki aufs Sommerschlösschen gekommen waren. Dass diese hochwohlgeborenen – was waren die eigentlich? Schön, er selbst war vielleicht ein Wilddieb, weil er sich ab und zu was schoss, aber damit war er in der Gegend beileibe nicht allein. Gut, waren diese Adligen eben Tagediebe. Dass die ohne Hilfe nicht einmal dorthin kamen, wohin sogar ihr Kaiser zu Fuß geht, dabei kann der nicht einmal das Hosentürl selber aufmachen. Die Polizisten waren auch gar nicht das größte Problem, die waren alle aus der Hauptstadt, die konnte er mühelos abhängen. Aber da waren die Jagdhelfer, die kannten sich in der Gegend genauso gut aus wie der Josef. Ein paar von denen wilderten zwar nicht weniger als er selbst, aber darauf würde jetzt niemand groß herumreiten. Schau, da kamen schon vier den Weg herauf. Hätte er sich ja denken können, dass solche Hearischen gleich ein halbes Dutzend Leute brauchten, um ein einziges mickriges Reh zu erwischen und ins Tal zu bringen. Nur nichts selbst machen. Ihm jedenfalls blieb nichts anderes übrig. Er würde erst ein paar Stunden lang nach Osten um den Bergstock herum bis fast zum kleinen Weiler laufen müssen. Das konnten sie nicht vor ihm schaffen. Bis die erste Meldung das Dorf erreichte und sich berittene Boten aufmachten, musste er da schon durch sein. Aber sich ja nicht sehen lassen, nicht einmal bei der Margareth, wie schade. Sonst hätte er gleich die halbe Tiroler Gendarmerie auf dem Hals. Gendarmen gab’s zwar erst seit gut zehn Jahren, aber schießen konnten sie trotzdem. Über den südlichen Sattel könnte er in nur einem Tag das Badiotische erreichen. Dann weiter ins Ampezzanische. Nur weg.