Cultura | Salto Weekend

Diese Ausgabe können Sie vergessen!

Die Autor*innen der Kulturelemente 153 unternehmen theoretische, künstlerische und literarische Ausflüge hin "Zum Vergessen". Ein Gastbeitrag aus der aktuellen Nummer.
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Foto: Kulturelemente

Hinterlassenschaften auf Papier

Das Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck – ein Ort der Literatur und der Wissenschaft.

Von Christine Riccabona

Das Forschungsinstitut Brenner-Archiv in der Innsbrucker Josef Hirnstraße 5 im zehnten Stock mit Aussicht auf Mühlau ist ein Ort der Begegnung. Die grauen Archivkassetten stehen bereit, der/die Besucher/in nimmt die weißen Mappen mit Signaturen und genauen Angaben zum Inhalt entgegen. Die im Internet zugänglichen Bestandsverzeichnisse haben es der/dem Benutzer/in leicht gemacht, die gewünschten Materialien vor dem Besuch aus dem Depot ausheben zu lassen. Die Recherche kann beginnen. Nicht selten eröffnen sich durch das Gespräch mit den ArchivarInnen vor Ort neue Perspektiven und Spuren, die in andere Bestände führen. Denn archivarische Tätigkeit bedeutet weit mehr als das Handwerk des konservatorischen Erhaltens und Ordnens, sie bedingt auch, mit allen Schritten der Überlieferungsbildung vertraut zu sein und die Erschließung des Archivgutes als einen zirkulären Prozess des Identifizierens, Benennens und Verzeichnens zu verstehen. Das heißt auch, in Zusammenhängen und Kontexten zu denken, Querverbindungen wahrzunehmen, Lücken zu erkennen. Im Mittelpunkt der archivarischen Tätigkeit steht das Bemühen, den umfangreichen Archivalienbestand benutzbar zu machen und Zugänge für Forschende freizulegen. Das macht Archive zu „Wissensorten“, die nicht als statische Speicher zu denken sind, sondern an denen die Überlieferung geformt, angereichert, ergänzt und seit geraumer Zeit auch digitalisiert und vernetzt wird.
Nicht selten fragen BesucherInnen des Brenner-Archivs, ob der Name auf den Brennerpass verweise. Das tut er natürlich. Wenn auch sehr indirekt. Zunächst: Das Brenner-Archiv heißt so, weil es das Redaktionsarchiv der Zeitschrift „Der Brenner“ beherbergt, die als wichtiges Kulturerbe Tirols und Südtirols des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts gilt. Insbesondere der Vorkriegs-„Brenner“ von 1910 bis 1914 signalisiert einen bemerkenswerten Aufbruch in die Moderne. Ludwig von Ficker hat die Zeitschrift ins Leben gerufen, um dem altvorderen, kulturkonservativen Tirolertum moderne, kritische und satirische Texte entgegenzusetzen. Ein frischer Gegenwind sollte die erstarrte und selbstgefällige Repräsentationskultur diesseits und jenseits des Brenners, der damals noch keine politische Grenze war, aufwirbeln. Ficker hatte mit der Namensgebung aber noch ein anderes im Sinn, nämlich einen der Wortbedeutung gemäßen, konkreten Bezug zur damals wohl schärfsten satirischen Zeitschrift, „Die Fackel“ von Karl Kraus, herzustellen. Denn Ficker und Kraus stimmten in ihrer ursprünglichen Intention einer prononcierten Zeitkritik überein. Und Ficker war es mit seinem Anliegen ernst. „Der Brenner“ sollte immerhin zwei Weltkriege überdauern und bis 1954 erscheinen. Die Herausgeberschaft und Redaktionsarbeit, aber auch Fickers Tätigkeit als literarischer und geistiger Mentor, Gesprächspartner und Förderer ließen eine Überlieferung entstehen, die ihresgleichen sucht. Bis zum Tod Fickers 1967 haben sich neben einer Bibliothek und biografischen Sammlungen an die 30.000 Briefe und unzählige Manuskripte von namhaften VertreterInnen der Literatur, Philosophie und Kunst des 20. Jahrhundert angesammelt. Darunter sind Namen wie Hermann Broch, Ludwig Wittgenstein, Thomas Mann, Hermann Hesse, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Martin Heidegger, Marie Luise Kaschnitz und Nelly Sachs u.v.a.m. zu finden. Von Georg Trakl stammen bekanntlich die wertvollsten Dokumente des Archivs, u.a. jener Testamentsbrief mit dem Gedicht Grodek, das als Antikriegsdokument ersten Ranges nicht nur im Deutschunterricht einen festen Platz hat. Ähnlich prominent ist auch die Korrespondenz mit Rainer Maria Rilke und dessen Verse, die Ficker im „Brenner“-Jahrbuch 1915 publizierte oder auch Else Lasker-Schülers Zeichnungen, die sie als „Brenner“-Mitarbeiterin den Briefen an Ludwig von Ficker, den sie stets als „hochverehrter Landvogt“ anschrieb, beilegte.
Über die Jahrzehnte hinweg wurde später das ursprüngliche Redaktionsarchiv durch ein Netzwerk umliegender Nachlässe erweitert, die oftmals im Zuge von Forschungsarbeiten und Editionsprojekten in das Archiv gebracht werden. Seit den 1980er Jahren wurden Nachlässe der zeitgenössischen regionalen Literatur übergeben. Seit der Herausgabe der dreibändigen Werkausgabe Norbert C. Kasers versteht sich das Brenner-Archiv unter anderem auch als (Süd)Tiroler Literaturarchiv. Insbesondere der zweite Leiter des Brenner-Archivs, Johann Holzner, förderte die Kontakte des Archivs mit der Literaturszene Nord-, Süd- und Osttirols. Während seiner Tätigkeit von 2001–2013 wurden zudem zahlreiche Projekte zur Kulturgeschichte der Region realisiert.
Das Archiv ist seit jeher in der überregionalen scientific community aktiv, was u.a. zur Übernahme des Ernst-von-Glasersfeld-Archivs führte (seither finden in Innsbruck internationale Glasersfeld-Lectures statt) und was u.a. auch die Wittgensteinsammlung Brian McGuinness und einen Teilnachlass Erwin Schrödingers nach Innsbruck brachte. Jährlich finden in Kooperation mit der Germanistik die Innsbrucker Poetik-Vorlesungen statt (u.a. mit Erich Hackl, Julian Schutting, Barbara Hundegger, und Oswald Egger). Auch konnte 2016 eine Wittgenstein-Gastprofessur eingerichtet werden.
Inzwischen (2020) verwahrt das Archiv rund 290 Nachlässe, Teilnachlässe und Sammlungen, betreut Vorlässe lebender Autorinnen und Autoren (Karl Lubomirski, Felix Mitterer, Joseph Zoderer, Rosmarie Thüminger u. a.) und beherbergt eine Bibliothek, die etwa 30.000 Buchexemplare umfasst (ein großer Teil davon in Nachlassbibliotheken) und über 300 (historische und aktuelle) Zeitschriften (in unterschiedlicher Vollständigkeit).
Gegründet wurde das Brenner-Archivs 1964 als Abteilung der damaligen Germanistik. Walter Methlagl, der das Archiv bis zu seiner Pensionierung 2001 leitete, hat in der Folge zwei wesentliche Entwicklungen in die Wege geleitet und zu erfolgreichen Ergebnissen geführt: 1979 erhielt das Brenner-Archiv den vertragsgebundenen Status eines eigenständigen Forschungsinstituts an der Universität Innsbruck, blieb aber vorerst in den beengenden Räumen der Germanistik. 1997 konnte das Institut in eigene repräsentative Räumlichkeiten samt ausgebauten Depots übersiedeln und ein Literaturhaus als einen öffentlichen Veranstaltungs- und Begegnungsort errichten. Walter Methlagls Leitidee des Dreisäulenmodells (Sammeln–Forschen–Vermitteln) ist aufgegangen: Das Brenner-Archiv verbindet bis heute die Tätigkeiten des Sammelns und Bewahrens mit jenen der wissenschaftlichen Erschließung, kulturhistorischen Forschung und Edition. An diese wissenschaftliche Ebene schließt sich die transferorientierte Vermittlung und Wirkung im kulturellen öffentlichen Raum (Werkausgaben, Ausstellungen, Sammelbände, Lesungen, Tagungen u. a.). Mit einfachen Worten: Was in den Räumen des Archivs geschieht, orientiert sich nicht nur an wissenschaftlichen Maßstäben, sondern es wird auch auf seine gesellschaftliche Relevanz hin befragt.


BesucherInnen von Archivführungen fragen oft, wie denn die Nachlässe ins Archiv kommen. Die Frage, wie sich ein Archiv formiert, ist  prinzipiell eine der spannendsten überhaupt. Denn was in einem Archiv vorhanden ist, das ist keineswegs zufällig da, sondern hat jeweils eine „Geschichte“, die mit konkreten Kontakten und Austausch verbunden ist.  Dabei sind es auch wissenschaftliche AkteurInnen im Archiv, die ihrem Interesse an spezifischen Überlieferungen folgen, Kontakte knüpfen, Nachlässe ausforschen, Bestände ins Archiv bringen, Quellen ausfindig machen. Und eben manches auch vernachlässigen. Andererseits verweisen die Bestände eines Archivs auch auf Geschichtlichkeit ihrer Herkunft und die gesellschaftlichen, sozialen Rahmenbedingungen ihres Entstehens. Dass nur etwa 16 Prozent der Bestände im Brenner-Archiv von Frauen gebildet wurden, ist nicht zuletzt den Bildungsmöglichkeiten, den sozialen und ökonomischen Ordnungen geschuldet.
Zur Geschichte der Entstehung von Sammlungen gehören auch Verlustgeschichten, die oft Verdrängungsgeschichten sind. Ein Beispiel für das „Abwesende“ im Archiv sind die Lücken, die manche Bestände für die Zeit 1933-1945 aufweisen. Dabei stellt sich die Frage nach „Verlustgeschichte“ generell: Ist das Fehlende im Archiv Zeichen eines passiven, unabsichtlichen Verlorengehens oder eines aktiven Vernichtens im Sinne einer Selbstzensur? Sind Leerstellen als Wirkspur von Herrschafts- und Machtverhältnissen zu deuten, wie sie in ihrer krassesten Form der kruden öffentlichen Bücherverbrennung zu finden ist? Das sind Fragen, die insbesondere mit Blick auf die Prozeduren des Vergessens und der Verdrängung des Nationalsozialismus wichtig sind. Verdrängung geschieht nicht selten aktiv, indem Überlieferung aus dem Verkehr gezogen wird. Solchen und anderen Lücken im Netzwerk der Überlieferungen nachzugehen, geht zumeist einher mit Forschungsfragen, die in andere Archive führen und die mitunter neue Archivmaterialien zutage fördern.
Als öffentliche, nichtkommerzielle Einrichtung ist das Archiv zwar von öffentlicher Hand finanziert, verfügt aber über kein Budget für Ankäufe von Nachlässen. Die meisten Bestände sind Schenkungen, denn mit einer Übernahme ins Archiv verbinden die meisten NachlassgeberInnen einen symbolischen Wert, der sich zumindest in Erhaltung und Vermittlung des Erbes ausdrückt.
In den letzten Jahrzehnten wurde wohl in allen westlichen Ländern Archiven (und Museen) als Ort des kulturellen Gedächtnisses (der Erinnerung und der Aushandlung kultureller Identitäten) vermehrt Wert beigemessen. In den kulturwissenschaftlichen Disziplinen war in den 1990er Jahren von einem archival turn die Rede, was dem realen und symbolischen Kapital der Archive, ihrem Ansehen und ihrer öffentlichen Bedeutung sicher nicht geschadet hat. Im letzten Jahrzehnt allerdings drängt vermehrt das Thema Digitalisierung von analogem Kulturgut, sowie die Erhaltung von Born-digital-Materialien in den Vordergrund. Zukünftige Überlieferung muss völlig neu gedacht werden und stellt die AkteurInnen vor ungeahnte neue Möglichkeiten und Herausforderungen. Vor allem zeigt sich intensiver denn je, dass Digitalisierung tatsächlich nur in Netzwerken, und das heißt vor allem in Kooperationen, gut funktioniert. Die gegenwärtige Leiterin des Archivs (seit 2014), Ulrike Tanzer, stellt sich dem aktuellen Feld der Digital Humanities, dem an der Universität ein Forschungszentrum gewidmet ist, auf mehrfache Weise, u.a. mit der Beteiligung an den Hochschulraum-Strukturmittel-Projekten „Kompetenz-Netzwerk Digitale Edition (KONDE)“ und „Digitale Transformation in den Geisteswissenschaften in Österreich“ (Lead: Universität Graz). Mit den Projekten verbinden sich einerseits konkrete, technische Hilfestellungen im Bereich „digitaler Editionen“, neuer Methoden der Datenverarbeitung und Formen der Kommentierung sowie theoretische Diskussionen von Problemen der (digitalen) Editionen, beteiligt ist insbesondere die kommentierte Online-Briefedition und Monografie Ludwig von Fickers. Digitalisierung von Beständen, digitale Plattformen, Austausch im Netz, open access prägen längst die Arbeits- und Vermittlungsformen im Archiv. Beispielsweise hat das Brenner-Archiv mit der 2016 neu gestalteten Internetplattform LiteraturTirol eine Serviceeinrichtung für die regionale Literatur eingerichtet. Unter diesem „Dach“ sind verbunden: das Lexikon der Autorinnen und Autoren aus Nord-Ost- Südtirol, das Literaturmagazin für Nord, Ost u. Süd mit Rezensionen, Interviews und Essays zum literarischen Leben, ein Textforum als open space für Schreibende, die Literatur-Landkarte und ein für alle VeranstalterInnen (Süd)Tirols offener Literaturkalender
Die virtuelle Präsenz im Netz einerseits, die greifbare, sichtbare Materialität der Bestände und die Unmittelbarkeit der Begegnungen durch Lesungen, Veranstaltungen und Arbeitstreffen andererseits charakterisieren das Archiv jenseits der Vorstellungen von grauen Depotanlagen, Registraturen und Ablagesystemen.
Spannend wird in Zukunft der archivarische Umgang mit Nachlässen, die aus Festplatten, USB-Sticks und e-mail-accounts bestehen. Die neuen digitalen Speichermedien sind nicht nur mit einer neuen literarischen Öffentlichkeit im Netz verbunden, sie verlangen neue Archivierungstechniken. Was ArchivarInnen dennoch antreibt, bleibt die Frage nach den Inhalten. Wenn man nicht weiß, was in den Kassetten oder Datenträgern enthalten ist, wäre das eine Altpapier, das andere Computerschrott. Das Archiv lebt! war der Titel einer 1997 erschienen kleinen Broschüre, die in nuce archivarische Tätigkeit an kleinsten Beispielen vorführte. Eine Art Weiterführung dieser Reihe gibt es einmal jährlich mit dem „Faksimile aus dem Brenner-Archiv“ und in jedem online-Newsletter des Brenner-Archivs. „Ins Bild gerückt“ heißt dort eine Serie, durch die Spots auf ausgewählte Stücke des Archivs geworfen werden. Dies sind kleine aber wirksame Formate der Öffentlichkeitsarbeit, die auch in den Social Medias präsent ist. Ergebnisse der Arbeit im Brenner-Archiv in jüngster Zeit zeigen u. a. Ausstelllungen aus den Nachlässen (u.a. zu Erwin Schrödinger, Karl Kraus und Otto Grünmandl), es wurde ein kommentierter Band mit Werken des in Mailand lebenden Autors Karl Lubomirski herausgegeben, wie auch das Frühwerk Gerhard Koflers, eine Sammlung von Hans Haids Dialektgedichten, der erste Band der Werkausgabe Otto Grünmandl und auch die Zoderer-Werkausgabe mit begleitenden Sammelbänden zum Werk des Autors, die die Ergebnisse eines mehrjährigen Forschungsprojekts zusammenführen. Und jährlich erscheinen auch die „Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv“. All das Genannte kann nicht mehr sein als ein Streifzug durch die Aktivitäten des Brenner-Archivs, es wäre über vieles mehr zu berichten.
Literarische kulturelle Überlieferung lebt durch die je aktuelle, gegenwärtige Auseinandersetzung und Beziehung einzelner mit den Werken, den Briefen, den Lebensdokumenten und Sammlungen der Autorinnen und Autoren.


Mit freundlicher Genehmigung: Kulturelemente