Società | Reportage

Ein Schwarz-Weiß Gemälde

Junge Menschen, die für ihre Rechte auf die Straße gehen, eine übermächtige Kirche: Georgien ein Land im Umbruch. Teil 1 einer Reise durch den Südkaukasus.
Tiflis
Foto: Julia Tappeiner
Und wieder zog es mich in den Osten, in den Raum der ehemaligen UdSSR. Kasachstan und Russland hatte ich bereist und immer wieder faszinierten mich die Gegensätze dieser Länder. Die Zerrissenheit zwischen sowjetischer Nostalgie und dem Streben nach Moderne, Nationalstolz und internationaler Demütigung, Kommunismus und Kapitalismus.
Zwischen patriarchalischen Strukturen und weiblicher Dominanz, emotionaler Härte und menschlicher Zärtlichkeit, zwischen harter Realität und mystischem Aberglauben. Zwischen Misstrauen gegen Jeden und doch so großem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mag sein, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken heute unabhängige Staaten sind. Doch verbindet sie ihr historisches Erbe, die heute sogenannte russische Seele, dieses besondere sowjetische Element. Seit Jahren faszinieren mich diese Region, ihre Gemeinsamkeiten und ihre Vielfalt. Ein Stück möchte ich euch Leser auf meine Reise durch den Südkaukasus mitnehmen und diesem vermeintlich fernen Orten etwas näher bringen. Denn trotz geographischer Distanz, fand ich erstaunliche Parallelen zu meinem Zuhause in Südtirol...
 
Als ich mit dem Taxi in die georgische Hauptstadt Tbilisi einfuhr, lag der Duft des Landes bereits in der Luft, die Geheimnisse und Besonderheiten Georgiens waren an den Hügeln und alten Festungen am Horizont angedeutet. Je näher wir der Stadt kamen, desto imposanter eröffnete sich mir die hügelige Stadtfassade. Antike Gebäude und Gemäuer, in unterschiedlichen Höhenabständen und Farbtönen arrangiert, wie kunstvoll übereinandergestapelte Vintage Möbel. Ästhetisch gesehen, verleihen die Hügel der Stadt zwar einen tollen Charme. Als Backpacker jedoch, mit schwerem Reiserucksack bepackt, sind die Erhöhungen in Zusammenhang mit der Schwerkraft eher ungünstig. So kämpfte ich mich meinen Weg zum Hostel bei den heißen Temperaturen hoch, Google Maps dafür verfluchend, dass es keine Höhenunterschiede in den Wegbeschreibungen anzeigt. Sobald ich meine Sachen abgelegt hatte, startete ich meine Erkundungstour.
 
 
Über den Hügeln der Stadt thront die Mutter Georgiens, eine 20 Meter hohe Aluminiumstatue, den Blick auf den alten Stadtkern gerichtet. In ihr offenbart sich bereits die ambivalente Natur des Landes, die gespaltene Seele Georgiens. In der einen Hand hält sie ein Glas Wein, ein Symbol der typisch georgischen Gastfreundlichkeit. Doch während einerseits Gäste herzlich willkommen geheißen werden, tritt im selben Atemzug die Bereitschaft hervor, Feinde zu bekämpfen- in der anderen Hand nämlich hält die Aluminiumfrau ein Schwert. Leider beschränken sich die Widersprüche nicht auf eine Statue, sondern ziehen ihre Konfliktlinien bis in die Gesellschaft. Und um das zu erleben, hatte ich wohl die brisanteste Zeit gewählt.
 
Ich saß in einem kleinen Café, mitten im Touristenviertel, und hatte viele Fragen. Ich wollte wissen, was in der Stadt gerade los war, denn wenige Tage vor meiner Ankunft hatte mich ein Video aus Georgien erreicht, das in den Nachrichten um die Welt ging: Tausende junge Menschen hatten sich vor dem georgischen Parlament versammelt. Sie tanzten zu elektronischer Musik, die aus riesigen Boxen schallte, und waren umgeben von buntem Rauch.
Durch Zufall und etwas Glück, fand ich Zugang zum Kern der Umbruchstimmung.
Die Wut und der Determinismus der jungen Leute waren über die Bilder zu spüren, man merkte- hier wird etwas von der Politik gefordert. Der Nachhall dieser politischen Stimmung war bei meiner Ankunft zu spüren. Ich merkte es in den Gesichtern der Menschen, am Leuchten in ihren Augen, und bei den Kundgebungen, die auch in den kommenden Tagen immer wieder stattfinden sollten.
 
 
Durch Zufall und etwas Glück, fand ich Zugang zum Kern der Umbruchstimmung. An den Nachbarstisch des Cafés setzte sich Zozo, ein georgischer Künstler und Aktivist, der bei den Elektro-Protesten dabei gewesen war und mit dem ich ins Gespräch kam. Er erzählte mir, was es damit auf sich hatte. Das Bassiani, ein berühmtes Nachtlokal, war am Tag zuvor von der Polizei gestürmt und geschlossen worden, angeblich wegen Drogenmissbrauchs. Das Bassiani ist nicht nur ein Elektroclub, sondern auch Treffpunkt für Homosexuelle und Insel der Freiheit im konservativen Georgien. 
Die Wut und der Determinismus der jungen Leute waren über die Bilder zu spüren, man merkte- hier wird etwas von der Politik gefordert.

Die strenge Drogenpolitik wird häufig nur als Vorwand benutzt, um solche Stimmen ruhig zu stellen, um eine liberale, kritische Masse einzuschüchtern und ist deshalb so umstritten. Die Proteste stehen daher sinnbildhaft für das Ringen zweier entgegengesetzter Kräfte des Landes: Eine korrupte Führung, die von Oligarchen kontrolliert wird und ebenso mit der konservativen orthodoxen Kirche kooperiert, die in Georgiens Politik einen hohen Stellenwert besitzt. Auf der anderen Seite stehen junge, liberale Kräfte.
 
Der Künstler Zozo erzählte mir von der Rolle der Kirche im öffentlichen Leben Georgiens. Darüber, wie diese nicht nur stark die Politik mitmischt, sondern auch ultrarechte Kräfte des Landes unterstützt. Wie bei uns vor nicht allzu langer Zeit, als der Dorfpfarrer bestimmte, was richtig war und was falsch, wird in Georgien heute noch das Wort des Patriarchats zu weltlichen Angelegenheiten stark respektiert. Auch ich bemerkte die Autorität des Patriarchats im Staat. Häufig sah ich Priester mit bodenlangen schwarzen Gewändern die Straßen entlang gehen, Boxen an jeder Ecke, die Spenden für die Kirche verlangten. Und eine kürzlich gebaute Kirche im Stadtzentrum, finanziert vom bekanntesten Oligarchen Georgiens, der nebenbei die Zügel der Regierungspartei in den Händen hält.
 
Am 17. Mai 2013, dem internationalen Tag gegen Homophobie, bekamen die Befürworter für Schwulen- und Lesbenrechte die Autorität der Kirche und die Gewalt rechtsextremer Gruppierungen besonders zu spüren. Mehrere orthodoxe Priester hatten dazu aufgerufen, die LGBT-Kundgebungen, also Kundgebungen der Lesben-Schwulen-Bisexuell und Transgender- Bewegungen, zu boykottieren.
Die friedlichen Aktivisten wurden von Rechtsradikalen attackiert und beschimpft und mussten, teils schwer verletzt, mit gelben Bussen aus dem verärgerten Mopp geführt werden. Auch Priester waren dabei gewesen. Diese Aufnahmen hat Zozo zu einer Kunstinstallation verarbeitet. Ein gelber Bus, heißt sein Werk. Auch dafür musste er von der Polizei vor rechtsextremer Gewalt geschützt werden.
Der Tag, an dem ich mit im Café saß, und über die Trennung von Staat und Kirche sprach, war der 17. Mai, der Internationale Tag gegen Homophobie, fünf Jahre nach den Attacken. Ich wollte diesen Konflikt mit eigenen Augen sehen und bat Zozo, mich zu den Protesten zu bringen.
 
Wir kamen zur Hauptstraße Tbilisis, dem Rustaveli Boulevard. Er ist politische Hauptschlagader der Hauptstadt, da sich dort das Parlaments-und Regierungsgebäude befindet. 1989 protestierten hier Jugendliche gegen die Sowjetische Besatzung. Rund 50 Menschen starben damals, sie wurden von den Sicherheitskräften vergiftet. 2013 ereignete sich die Sache mit dem gelben Bus. Ebenfalls auf dem Rustaveli Boulevard. Am 17. Mai 2018 stand ich mit Zozo etwas abseits der breiten Straße und beobachtete eine aufgebrachte, schwarz gekleidete und vorwiegend männliche Menschenmasse. Mit Zozo als Übersetzer näherten wir uns dem schwarzen Schwarm. Ich fragte einen der anwesenden Priester, was ihn an Homosexuellen so störe. Er antwortete aufgebracht: „Bei sich zuhause können Schwule machen, was sie wollen. Es gibt sogar georgische Schauspieler, die schwul sind. Aber Homosexuelle in der Öffentlichkeit sind eine Gefahr für die georgische Gesellschaft. Sie wollen unsere Söhne und Brüder zu Schwulen machen und unsere Gesellschaft verweichlichen. Im Gegensatz zu europäischen Staaten ist Georgien von Feinden umzingelt, wie der Türkei, Aserbaidschan und dem Iran. Wir brauchen starke Männer, die kämpfen. Schwule sind schwach und können unser Land nicht verteidigen.“
 
Nur mit Mühe konnte ich mir einen westlich geprägten, in diesem Moment wohl unangebrachten, Kommentar verkneifen. Religion hat sich bei uns ins Private zurückgezogen. Die georgische Gesellschaft steckt in diesem Diskurs noch in den Kinderschuhen. Die Kirche steht fast schon über dem Staat, hieß es von vielen jungen Leuten, mit denen ich sprach. Denn Religion bildet immer noch ein wichtiges Identitätselement in der heutigen georgischen Gesellschaft. Die Kundgebungen der Lesben-und Schwulenszene werden deshalb von religiösen Vertretern und Nationalisten als Provokation und Beleidigung der nationalen Identität interpretiert.
 
Während des Gesprächs versammelte sich eine Gruppe schaulustiger Männer um uns herum und starrte mich an. Die Stimmung wirkte angespannt und aggressiv, die Blicke der Männer strahlten Misstrauen aus. Ich fühlte mich unwohl, umgeben von Feindseligkeit und wollte eigentlich nur mehr weg. Hinter den Antischwulen-Protestierenden standen Sicherheitskräfte in einer Reihe und bildeten eine Art Schutzmauer. Da Zozo durch seine kritische Kunst, die auch auf Polizeischutz angewiesen ist, Sicherheitsleute kennt, konnte er mir helfen, einen Weg durch die Barrikaden zu verschaffen. 
 
Die Kirche steht fast schon über dem Staat, hieß es von vielen jungen Leuten, mit denen ich sprach.
 
Wir kämpften uns an Ellbogen vorbei, an stramm stehenden Polizisten mit Schutzscheiben, die uns durchwinkten, und gelangten endlich auf die andere Seite. Innerhalb weniger Sekunden schlug die Stimmung um, ich fühlte, wie sich mein Körper entspannte. Kinder spielten Fußball auf der Straße, nur wenige Meter entfernt von der menschlichen Sicherheitsmauer, die die Polizisten gerade wieder schlossen.
Der Anblick hier war das komplette Gegenteil: Eine bunte Masse an hauptsächlich jungen Menschen, Frauen, Mädchen, Jungen und Männern. Fröhlich lachend, friedlich, entspannt. Es erinnerte ein bisschen an ein Hipsterviertel einer beliebigen europäischen Stadt. Berlin vielleicht, oder Amsterdam. In Grüppchen standen sie zusammen, manche rauchten, andere hielten Händchen. Rednerinnen und Redner plädierten für Freiheitsrechte und Gleichheit. Sie forderten einen Stopp der Gewalt, eine Eindämmung faschistischer Gruppierungen.
 
Und wieder spürte ich den Hauch von politscher Veränderung, der bereits an meinem ersten Tag durch die Straßen und Cafés der Hauptstadt wehte. Georgien ist ein Land im Umbruch. 2003, bei der sogenannten Rosenrevolution, hatte das Land einen Schritt Richtung Meinungs-und Pressefreiheit gemacht. Bei den Elektroprotesten verlangte die Jugend mehr. Es ging nicht bloß um die Schließung eines Clubs. Sie verlangten eine gerechte und transparente Rechtsprechung, nicht gegen einen sechzehnjährigen Marihuana Raucher, sondern gegen rechtsradikale Gewalt und Ehrenmorde, die in vielen Teilen Georgiens durch traditionelle Familienstrukturen und ein konservatives Frauenbild noch weit verbreitet zu sein scheinen.
 
Ich musste an den grünen Frosch denken, der vor Jahren in Südtirol einen ähnlichen Aufschrei ausgelöst hatte.
Und dennoch gibt es, zumindest in der Hauptstadt, eine dynamische, junge Kraft, die dem entgegensteht und die, wohl seit den Bassiani Protesten, ins Rollen kommt. Ich fand mich in den nächsten Tagen in Hipstervierteln wieder, Kunstgeländen mit jungen Menschen, die Englisch sprechen, offen und neugierig sind. Ich erlebte immer wieder Kundgebungen gegen Polizeigewalt am Rustavelli Boulevard.
Zozo erzählte mir Geschichten über Familienehre und Ehrenmorde, Feindseligkeit gegenüber allem Fremden. Er erzählte mir aber auch von der Hoffnung in die neue Generation. Er sprach von der anderen Seite der Gesellschaft, die Religion und Kirche als eine Privatangelegenheit sieht und deren Einmischung in die Politik in Frage stellt: Kondome gingen vor einem Jahr in Georgien um, mit einer Maria, die sich selbst erschießt, oder einer Hand zur Segnung gestreckt, mit dem Verhütungsgummi darauf. Ich musste an den grünen Frosch denken, der vor Jahren in Südtirol einen ähnlichen Aufschrei ausgelöst hatte. Es ist eine Bruchlinie, die in Europa überwunden schien, die sich gerade aber wieder beginnt, aufzutun. Beim Brexit oder der Wahl von Donald Trump trat sie besonders offensichtlich hervor. Jung gegen Alt, Tradition gegen Moderne, Urbaner Raum gegen Peripherie, Globalisierungsanhänger gegen ihre Gegner. Als einziger Puffer dazwischen ist hier die georgische Polizei, von der man schwer einschätzen kann, auf welcher Seite sie steht. Es ist wie ein Schwarz-Weiß Gemälde. Welche Farbe das Land in Zukunft annehmen wird, ob es einen Systemwandel geben wird, ist schwer vorherzusehen. Denn es gibt weitere Gegensätze, die das Land spalten, und äußere Einflüsse, von denen ich in den kommenden Wochen noch zu spüren bekommen würde. Aber diese Geschichte lag zu der Zeit noch vor mir.