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Propagandabilder, Akteure, Mitläufer

Teil 3 der Artikelserie zur Ausstellung "Großdeutschland ruft!", die seit 18. September auf Schloss Tirol besichtigt werden kann. Geöffnet bleibt sie bis 22. November.
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Foto: Schloss Tirol

Die Zeichnungen: Entstehung und Akteure

Die zwölf Artefakte aus dem Dorfmann‑Nachlass sind, obwohl undatiert, einem präzisen historischen Zeitpunkt zuzuordnen. Ihr „Sitz im Leben“ ist die unmittelbar dem taxativen Optionsentscheid vom 31. Dezember 1939 voraufgehende knappe Zeitspanne. Nur in diesen dramatischen Wochen und Monaten ergaben die Bilder als ein die Abwanderungsbereitschaft verstärkendes Propagandamaterial handlungsleitenden Sinn. Der VKS war Mitte Juli 1939 auf eine Linie der Nibelungentreue umgeschwenkt und hatte die Umsiedlung als unumstößliche Tatsache vollinhaltlich bejaht. Eine neuerliche Zustimmung zur Umsiedlungsbereitschaft des VKS gegenüber Heinrich Himmler erfolgte am 2. August und wurde umgehend vom Reichsführer-SS mit der Zusicherung eines „geschlossenen“ Ansiedlungsgebiets honoriert. Für die VKS‑Führung bedeutete der Gesamtvorgang nun aber auch die Gelegenheit, darauf hat Karl Stuhlpfarrer auf überzeugende Weise hingewiesen, „ihre eigenen Machtpositionen in einem Siedlungsgebiet deutscher Observanz unter neuen und verbesserten Bedingungen zu sichern und ihr angestrebtes Ziel, die Nazifizierung Südtirols, wenn schon nicht in Südtirol selbst, so doch im neuen Siedlungsgebiet zu erreichen“.
Damit waren die Ausgangsbedingungen für den weiteren Gang der Dinge einigermaßen abgesteckt. Die italienisch‑faschistischen Behörden ihrerseits sanktionierten in dieser Phase jegliche aktive Optionspropaganda und schreckten auch vor Verhaftungen von prodeutschen Aktivisten nicht zurück, wie aus einem besorgten Lagebericht des SS‑Standartenführers Otto Bene, Generalkonsuls des Auswärtigen Dienstes in Mailand und deutschen Beauftragten für die Südtiroler Umsiedlung, vom 18. August 1939 hervorgeht. Die Ereignisse überschlugen sich in der Folge: Der deutsch‑sowjetische Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939, dessen geheimes Zusatzprotokoll die entscheidende Voraussetzung für den deutschen Überfall auf Polen vom 1. September 1939 sein sollte, schürte in Südtirol die irrwitzigen Hoffnungen auf eine Wende; vielleicht würde die Region zu einem Unterpfand der Bündnistreue Italiens werden und die Umsiedlungsaktion noch eingestellt. Vor diesem Hintergrund verschärfte der VKS seine Bemühungen um eine möglichst totale „Rückwanderung“ in das Deutsche Reich und startete mit Ende September eine massierte Aktion der propagandistischen Indoktrination, um dem „Willen des Führers“ landauf, landab zum Durchbruch zu verhelfen.
Die Zeichnungen sind auf ihrer Rückseite mehrheitlich mit der finalen Destinatärsangabe „Landesführer des VKS“ versehen. Erst mit Januar 1940, wie schon erwähnt, wurde der VKS in die AdO überführt – auch dies ein Hinweis auf die Zeitstellung des Materials. Dieses ist demnach im Kontext der totalen Mobilisierung der Südtiroler Bevölkerung entstanden, vielleicht mit Blick auf die unzähligen, in den Augen der italienischen Behörden illegalen Versammlungen, die das Land überzogen. Die Organisationsstruktur des VKS war zu diesem Zeitpunkt so kapillar wie effizient und mühelos imstande, noch den kleinsten Weiler mit werbenden Aktionen zu erreichen. Dies blieb der faschistischen Geheimpolizei nicht verborgen, wie vertrauliche Meldungen über sogenannte Volksdeutsche Feste vom Oktober 1939 veranschaulichen. Die italienischen Behörden begannen nun sogar, gegenpropagandistische Maßnahmen zu fördern, etwa über die offiziöse Tageszeitung Dolomiten, die beruhigende Stellungnahmen des Präfekten Mastromattei lancierte. Die Dolomiten waren seit ihrer Wiederzulassung Ende 1926, abgesehen von ihrer katholisch‑staatskirchlichen Grundausrichtung, der sie ihren Schutzraum verdankten, zu einem dezidiert profaschistischen Verlautbarungsorgan mit einem allerdings stets üppigen und unverfänglichen Lokalteil samt lukrativen Inseraten geworden. Freilich konnten die für eine Italien‑Option ins Werk gesetzten Maßnahmen den Entscheidungsprozess kaum noch beeinflussen, da ihnen, aber auch dem traditionell meinungsbildenden Südtiroler Klerus sowie wohlhabenden Wirtschaftskreisen der größeren Städte – beide Gruppierungen waren tendenziell Gegner der Absiedlung – wenig öffentliche Glaubwürdigkeit verblieben war.
Ein an den faschistischen Meraner Amtsbürgermeister Raffaele Casati gerichteter Denunziantenbericht vom 14. November 1939 stellte fest: „Continua la propaganda a favore dell’esodo di massa.“ Italiens Außenminister Galeazzo Ciano hielt in einem Tagebucheintrag vom 21. November fest, dass die Dinge im „Hochetsch“ aus italienischer Sicht einen äußerst ungünstigen Verlauf nähmen und ein „vero e proprio plebiscito“ der „tedeschi“ und damit eine erhebliche außenpolitische Blamage zu befürchten seien. Laut einem vertraulichen Bericht für das römische Innenministerium vom 21. Dezember agiere die „propaganda nazista“ in der Provinz Bozen, auch dank der Anstrengungen der von Wilhelm Luig geleiteten deutschen Dienststellen, überaus effizient und ähnelte in ihrer Durchschlagskraft den tschechoslowakischen Vorgängen (womit wohl vor allem die sogenannte Sudetenkrise bzw. deren gezielte Eskalierung durch die deutsche Seite gemeint war).
Weder die deutsche noch die italienische Seite nahmen jedoch in diesen und weiteren Stimmungs‑ und Lageberichten Bezug auf visuelles Propagandamaterial des VKS. Dies legt den Schluss nahe, dass die Entwürfe letztlich unter Verschluss geblieben und kaum je, wenn überhaupt, zu konkreter Verwendung gelangt sind. Das ist auch deshalb plausibel, weil einerseits die strenge italienische Kontrolle eine Verbreitung des Materials zwar nicht prinzipiell unmöglich machte, aber doch das hohe Risiko der scharf geahndeten deutschen „Fremdpropaganda“ bestand. Andererseits fielen durch die sich immer stärker abzeichnende Bereitschaft zur Massenabwanderung je länger, desto deutlicher entscheidende Gründe für eine weitere Intensivierung der Optionspropaganda fort. Vielleicht waren aber auch einfach die materiellen Entstehungsbedingungen ausschlaggebend dafür, dass die Entwürfe als apologetische Fingerübungen gleichsam in die Schublade wanderten und erst 80 Jahre später wieder aufgetaucht sind. Nach den dominierenden Gebirgsmotiven (Entwürfe Nr. 1–3, 5–8, 12) bzw. der Zeltlagerumgebung (Entwurf Nr. 9) zu schließen, reflektieren die Zeichnungen Erfahrungen eines Sommer‑ oder Herbstlagers des VKS bzw. der „Hitlerjugend“ und sind entweder während der Schulungen vor Ort oder unmittelbar anschließend entstanden. Solche Lehrgänge, jenem auf Hohenwerfen vergleichbar, fanden seit der deutsch‑italienischen Umsiedlungsvereinbarung auch in Südtirol gehäuft statt und wurden als HJ‑Führerlager, als Lehrgänge für Ortsgruppenleiter oder für die Mädelschaft der AdO, deklariert. Der bereits erwähnte Entwurf Nr. 9 des Korpus illustriert ein „Sommer-Zeltlager der Hitlerjugend“ vor dem Hintergrund der Rosengartengruppe – die Versoseite des Blatts bezeichnet das Blatt ausdrücklich als einen „Entwurf [für] Sommerzeltlager, Jungvolk und HJ“. Das zentrale Bildmotiv des in eine Fanfare stoßenden Hitlerjungen oder Jungvolkjungen („Pimpf“) entspricht vollkommen den offiziellen Inszenierungen des Deutschen Reichs, wird hier aber noch mit dem mittig platzierten Bozener Stadtwappen territorialisiert. Die Blickrichtung entspricht in etwa jener, die sich von der Hochfläche des Saltens auf den Rosengarten bietet.


Für einen so gearteten kommunikativen Entstehungskontext des Gesamtmaterials sprechen auch einige der Signaturen der Bilder. Zehn von zwölf Entwürfen tragen Namenszüge oder Siglen. Mehrere davon, wie etwa „N. Hürbel“ (Entwurf Nr. 2), „S. Walch“ (Nr. 3), „A‑S‑I“ (Nr. 6), „Lieblein“ (Nr. 7) und „Klause“ (Nr. 12), sind nach jetzigem Kenntnisstand keinen historisch bekannten Personen zuzuordnen. Die eher plumpe und wenig professionelle Gestaltung lässt jedoch auf jugendliche Ausführende schließen, wie sie sich gerade in den genannten Schulungskursen versammelten.
Vier der Namen sind hingegen präziser, wenn auch nicht mit endgültiger Gewissheit zu deuten. Man wird wohl kaum fehlgehen, die Signatur „Sparer“ (Entwurf Nr. 5) mit Max Sparer, einem 1886 in Tramin a. d. Weinstraße geborenen und 1968 im Weiler Montiggl b. Eppan verstorbenen Maler und Grafiker, aufzulösen. Sein künstlerisches Schaffen war in den 1930er Jahren vermehrt an den Maßgaben der faschistischen Diktatur ausgerichtet, an deren offiziösen Bozner Kunstbiennalen und Syndikatsausstellungen er wiederholt teilnahm und auf denen er auch Preise errang. Das von ihm ins Bild gesetzte Motiv des jungen Familienvaters mit dem Sohn auf dem Arm, deren Hände bedeutungsvoll nach Norden deuten, weist eine gewisse dreidimensionale Tiefenspannung auf, die sich vor allem der Drapierung des Vordergrunds mit Steinen, einem Weinkrug und rankenden Weinreben verdankt. Auch die etwas abgesetzte, einen Mittelgrund bildende Hofgruppe wirkt durchaus wie von einer sehr geübten Hand gezeichnet. Die Pumphose des Mannes, die in engen Reiterstiefeln steckt, könnte im Übrigen auch auf eine faschistische bzw. nationalsozialistische Uniformierung rekurrieren. Auffallend an dem Bild ist das rote Blumenmotiv, da es als einziges Bildelement farbig ausgeführt ist. Die winkende Hand des Kleinkindes hält die Blume, die einer am Boden noch wachsenden roten Blume plakativ gegenübergestellt ist. Unschwer ist hier das stilisierte Geranienmotiv zu erkennen, dem bereits besprochenen Sinnbild der Optionsbewegung.
Mit hoher Vorsicht ist die zweimal vorhandene Signatur „Müller“ (Entwurf Nr. 1) bzw. „E. Müller“ (Nr. 9) auf den 1998 verstorbenen Bozener Industriepionier und Inhaber des gleichnamigen Glasherstellungsbetriebs Eugen Müller zu beziehen. Das ostentativ zur Schau gestellte Stadtwappen von Bozen im Entwurf Nr. 9 unterstreicht jedenfalls den eng gezirkelten örtlichen Bezug. Mit größerer Gewissheit hingegen verbirgt sich hinter den beiden Signaturen „Ferrari – Bz“ (Entwurf Nr. 4) und „Eddy“ (Nr. 8) der 1923 in Brixen geborene und 2000 in Verona verstorbene Kunstmaler und Grafiker Eddy von Ferrari‑Kellerhof. Sein jugendliches Alter von gerade einmal 16/17 Jahren (auf 1939/40 gerechnet) passt ohne Weiteres in das Profil von adoleszenten Schulungsteilnehmern der VKS‑ bzw. NS‑Kurse. Die beiden ihm zuzuordnen‑ den Arbeiten weisen zudem eine gewisse handwerkliche Qualität auf und lassen trotz ihrer ganzen ideologischen Schablonenhaftigkeit die künstlerische Begabung des späteren akademischen Malers aufblitzen.
Die geringsten Zweifel bestehen bei der Identifizierung der Sigle „HG.“ (Entwurf Nr. 11) – der 1914 in Bozen geborene und hochbetagt 2011 in Klausen b. Brixen verstorbene Heiner Gschwendt war ein früher Parteigänger der Südtiroler NS‑Bewegung und führender Aktivist des VKS. In den 1930er Jahren besuchte er die Kunstgewerbeschule und die Kunstakademie in München, wo er auch im völkischen Sinne sozialisiert wurde, kehrte 1937 nach Bozen zurück und stellte sich als Landesjugendführer vorbehaltslos in den Dienst der nationalsozialistischen Indoktrination. Seine eine Kette sprengende deutsche Grußhand gehört zu den verstörendsten Entwürfen innerhalb eines ohnehin durch und durch expliziten Materials. Von Gschwendt dürften auch die mit „Heiner“ gefertigten Genehmigungsvermerke auf nicht weniger als sieben Rückseiten stammen, auf deren Zeitstellung freilich noch kurz zurückzukommen ist.

Projektive Bildmotivik

Das Störpotential der zwölf Bilder liegt wesentlich in den nazifizierten Körper- und Raumimaginationen begründet, die sie so ungebrochen vermitteln. Vor dem Hintergrund des frühen Weltkriegs entwerfen sie verkitschte Visionen völkischer Zukunft und kleiden diese in den Befehlscharakter von Hakenkreuzfahne, „deutschem Gruß“ und „Heim ins Reich“‑Parolen. Sie sind daher im Sinne von Vilém Flussers kommunikologischem Modell als projektive Bilder einzustufen, deren Vorwürfe in voluntaristischer Weise nach historischer Verwirklichung drängten. Es sind gewünschte Sachlagen dargestellt, die sozusagen vierdimensionale politische Verhältnisse ins Bild setzen. Der epistemologische Gehalt der Bildentwürfe sind „Umvolkung“, kollektiver ethnischer Befehl und dessen ausnahmslose Befolgung. Es ist das „totale Volk“, das uns in den Szenerien gegenübertritt.
Das gesamte Korpus bezieht seine untergründig‑unheimliche Spannung aus dem Missverhältnis von Ordnung und Störung. Die gestörte völkische Ordnung Südtirols soll durch den kollektiven Kraftakt des deutschen Bekenntnisses wiederhergestellt werden. „Heim ins Reich“ war schon die alte Parole des deutschnationalen Akademikermilieus Österreichs vor 1914 gewesen. Der Slogan dominiert in der werbenden Schriftbildlichkeit der Entwürfe mit gut siebenmaligem Vorkommen (Entwürfe Nr. 1, 3, 5–8, 12). Er wird bisweilen ergänzt um Führer‑Parolen (Nr. 1, 12) und den nicht zufällig an militärische Rekrutierungsplakate gemahnenden Aufruf „Großdeutschland ruft!“ (Nr. 2–3). Hierbei handelt es sich um eine regelrechte Programmvokabel, die direkt auf das 1920 entworfene Parteiprogramm der NSDAP zurückgeht. Nach dem „Anschluss“ Österreichs untersagten die NS‑Behörden der Presse allerdings, die Begriffe „volksdeutsch“ und „großdeutsch“ weiterhin zu verwenden, offenbar um in der Öffentlichkeit weitere latente Territorialansprüche zu kaschieren. Erst ab Mitte Mai 1939, und dies deckt sich mit der Sprachregelung des Südtiroler Materials, wurden die Attribuierungen Großdeutsches Reich und Großdeutschland als Ablösevokabeln und Alternativbezeichnungen für Deutsches Reich und Drittes Reich neuerlich von oben legitimiert und verstärkt durchgesetzt.
„Du hast vielleicht gehört, dass unsere Jungen schon wählen müssen. Unsere aus Lajen waren besonders mutig, die marschierten singend und mit einer Hakenkreuzfahne voraus durch das Dorf“, berichtete am 10. Oktober 1939 eine Frau namens Lisl aus Klausen gegenüber Leo Neumann in München. Die von der faschistischen Postzensur abgefangene Nachricht illustriert förmlich den psychogeografischen Gehalt der Bildentwürfe. In ihnen wird der situativen Dynamik des „Gehens“ die unveränderliche Statik der Berge entgegengesetzt und damit ein spannungsgeladener Subtext in die Bilder eingebaut. In einer Art von nicht weiter reduzierbarem Eigensinn greifen sie damit die hochgradigen Ambivalenzen und Unwägbarkeiten des Optierens auf – der Ethnisierung der Natur als einer unverrückbaren Heimat stehen die ostentativen Gesten des Abschieds und des NS‑Bekenntnisses gegenüber. Die Berglandschaften des Schlern und der beiden Flankentürme von Santner und Euringer sowie die markante Rosengartengruppe durchziehen das gesamte Bildkorpus als eigentlich hilfloses Resilienzmotiv, zumal die Berge schwerlich mitsamt den Menschen abwandern konnten. Sie illustrieren vielmehr einen rassenideologisch durchtränkten und sozialdarwinistisch aufgeladenen Naturkitsch, der die geistige Basis der Blut‑und‑Boden‑Ideologie darstellte. In den Südtiroler Bildern spricht dabei vorrangig das „Blut“, nicht so sehr der „Boden“, den man ja zu verlassen sich bereit erklärt hatte.


Um diesen bemerkenswerten Hiatus innerhalb des rassistischen Diskurses zu erklären, lassen wir für einen Moment die Banalität der propagandistischen Inhalte außer Acht und befragen die Entwürfe nach kulturalistischen Gesichtspunkten. Folgt man etwa dem Kommunikationsmodell von Stuart Hall, so lassen sich Medien nach ihrem dominanten und ihrem rezessiven Bedeutungsgehalt dekodieren. In dieser Hinsicht ist der Kampf um Bedeutung stets auch ein Kampf um Diskurs und Deutungshoheit, wobei die Bedeutungen nie völlig vom Sender fixiert oder determiniert werden können. Auch das Südtiroler Material ist Ergebnis einer Signifikationspolitik, deren ausgehandelte Lesart zu allererst die Legitimität der hegemonialen Definition anerkennt, also die kollektive Umsiedlung nach völkischen Grundsätzen propagiert. Auf einer begrenzten Ebene allerdings werden auch eigene Sinnsysteme aufgestellt, die die Primärbedeutungen partiell unterlaufen.
Die augenscheinliche Paradoxie der Südtiroler Umsiedlung bestand darin, dass sie dem völkischen Imperativ der „Schollengebundenheit“ im Kern zuwiderlief. Die Option unter‑ strich geradezu die Unmöglichkeit autarken Handelns im Rahmen eines zur idée-force gewordenen, handlungsleitenden Grundgedankens nationaler Geschlossenheit. Der Vorgang lässt sich daher in gesellschaftswissenschaftlichen Begriffen der sozialen Entropie beschreiben. In dieser Perspektive ist die totalitäre Ausrichtung auf ein einziges Ziel, in diesem Fall auf den völkischen Staat, Ergebnis einer radikalen Reduzierung von alternativer Information, also Ausdruck eines – teilweise selbst verschuldeten – Informationsverlusts. Die Paradoxie tritt in der ambivalenten Tiefenstruktur der Bildentwürfe zu Tage: Dienen die Bergkulissen als Elemente des Beharrens und Verbleibens, so fungieren die ritualisierte Abschiednahme bzw. der Gruß- und Zeigegestus der dargestellten Personen als Elemente der völkisch motivierten Abwanderungsbereitschaft. Die VKS‑Entwürfe waren auf vorbewusste Weise als Double-bind‑Bilder angelegt und vermutlich deswegen für die NS‑Praxis kaum redundanzfrei gebrauchbar. Wie sollte man auch 1939/40 Hakenkreuzfahnen über Bozen flattern lassen und zugleich einen geschlossenen Bevölkerungstransfer einfordern? Diese Bipolarität löst sich nur dann ein Stück weit auf, wenn hinter der propagierten Abwanderungsbereitschaft die Hoffnung verborgen lag, ein siegreiches NS‑Deutschland werde dereinst, auch in Anerkennung der völkischen Hingabebereitschaft der Südtiroler Optanten, das Land „heimholen“ – nach erfolgter Rückkehr würden die Flaggen über dem „befreiten“ Landstrich wehen.
Doch ließ sich die innere Widersprüchlichkeit der Inszenierungen auch durch die persuasiven Parolen der Bildbeschriftungen nicht gänzlich bändigen. Die kontradiktorischen Referenzen von „Heim ins Reich!“ und den diesem Befehl entgegengesetzten raumgeografischen Markern (klar erkennbare Berge, Stadtwappen von Meran und Bozen) sind Ergebnis einer antagonistischen Soziologie der Emotionen. Diese Kollision von Wunsch und Wirklichkeit war 1939/40 nicht mehr auflösbar und sie griff der Besetzung Südtirols durch die Wehrmacht ab dem 8. September 1943 symbolisch voraus.
Als model of agency eines aus den Fugen geratenen NS‑Migrationsdiskurses dienten wesentlich sprachliche Markierungen aus dem politischen Atlas des Großdeutschen Reiches. Die semantische Gleichschaltung bildete das Korsett sozialer Identitätskonstruktionen des rassisch‑völkischen Staates – sie wird in den Südtiroler Bildentwürfen durch uniformiertes Kleidungsverhalten und stereotypierte Familienkonstellationen unterstrichen. Besonders augenfällig wird dies im Trachtenpaar (Entwurf Nr. 6), das mit seinem ethnischen Kleidungsmarker auch auf eine Genealogie völkischer Herkunft und inszenierter Ursprünglichkeit zurückgreift. Das kulturkonservative Folkloremotiv der Tracht war einer der zentralen Teil‑ und Besitzhabediskurse des Nationalsozialismus, der mit dessen Hilfe gerade im Tiroler Raum die deutsch‑tirolische Identität auf ausgrenzende Weise für sich zu reklamieren und abzugrenzen suchte.
Die Transformation politischer Dispositionen ist aber auch in die hoch emotionalisierte Naturmythologie der Bilder eingegangen. Anschaulich wird dies an der wiederholt ins Bild gesetzten Machtressource der als aufgehende Sonne konzipierten Swastika (Entwürfe Nr. 1, 3, 5–6). Der faschistische Sonnenkult war bereits aus Anlass der Annexion Österreichs propagandistisch eingesetzt worden. In diesem nationalen Erlösermotiv gewann der Topos der „Neuen Zeit“ Gestalt, der mit der Natur auch die gesamte gesellschaftlich‑politische Ordnung zu transformieren versprach. Als Übertragungskonzept zwischen Natur und Gesellschaft angelegt, steht die über dem Dolomitengebirge leuchtende Sonne des Nationalsozialismus für die Faschisierung von Naturgeschichte, für die Naturalisierung völkischer Politik. Archäologische Autodidakten wie der aus Bozen stammende technische Ingenieur Georg Innerebner, ab 1940 Mitarbeiter des SS‑Ahnenerbes für die Südtiroler Arbeitsgruppe Geschichte und Geographie, lieferten hierzu mythologisierende Interpretationen, die sie an vor‑ und frühgeschichtlichen „Wallburgen“ und siedlungsgeschichtlich orientierenden „Sonnenmittelpunkten“ festmachten.
Das scheinbar Naturwüchsige des völkischen Nationalismus verband körperlichen Elan, Jugend, Sonne und Biologie zu einem unentwirrbaren Compositum mixtum des „Gesunden“, dem es normative Kraft einhauchte. Die Vorgänge der Südtiroler Option waren in eine biologische Auslese eingebunden, die in der Praxis der Ariernachweise in den „Ahnenpässen“ zum Vorschein kommt. Dieses bisher kaum bearbeitete Feld der Südtiroler Zeitgeschichte ist direkter Ausfluss der auf Ausgrenzung (und Vernichtung) zielenden Erbekonzeption des NS‑Staates, die die völkische Tradition zugleich nationalisierte und biologisierte. Auf den Südtiroler Entwürfen sind daher nur stromlinienförmige Menschen zu sehen. Sie sind Rechtssubjekte der Neuen Ordnung des völkischen Staates. Was sie in das Deutsche Reich einbringen sollten, war bereits vorab futurisiert für die anvisierte Herrschaftsordnung und die totalitäre Praxis eines vom Nationalsozialismus beherrschten Europas. Der Südtiroler Umsiedlung lag eine erbbiologische Zurichtung zugrunde, die auf rassistischen Überlegenheitskonzepten beruhte und die Diskriminierung des minderwertigen Anderen stets miteinschloss. Rassismus ist immer auch ein Prozess der Konstruktion von Bedeutungen. Ihre Willkürlichkeit liegt zwar auf der Hand, sie war aber funktional für den totalitären Staat und eine der unerlässlichen Voraussetzungen für die nationale Passung seiner Mitglieder und Profiteure. Die psychobiologisch gedachte „Blutsgemeinschaft des deutschen Volkes“, der sich die Südtiroler Optanten eingliederten, war als essentialistisches Kollektiv von Menschen mit angeborenen Gemeinsamkeiten imaginiert.
Die Kehrseite dieser Praxis war der Ausschluss des Anderen, welcher sich zur Vernichtung steigerte. Eine eigene Bozener Sippenkanzlei, vom Genealogen Franz Sylvester Weber geleitet, stellte während der Options‑ und Kriegszeit zahllose Ahnenpässe und ‑urkunden aus, um die „blutsmäßige“ Eignung der Umsiedler zwar nicht flächendeckend, aber doch mehr als stichprobenartig zu überprüfen. Die wichtigste Voraussetzung zur Teilhabe an der Volksgemeinschaft waren jedoch die Merkmale der autoritären Persönlichkeit. Wer in Ethnozentrismus und Antisemitismus ohne Vorbehalte, also konformistisch einwilligte, identifizierte sich auch mit den totalitären Machthabern und ihren expansionistischen politischen Zielen, und dies umso mehr, als dieser Identifikation – wie im Südtiroler Beispiel – tieferliegende Motive nationaler Enttäuschung und Erlösungserwartung zugrundelagen.

Der Adressat

Wie bereits ausgeführt, sind die zwölf Propagandabilder zur Südtiroler Option aller Wahrscheinlichkeit nach in der zweiten Jahreshälfte bzw. Ende 1939 entstanden, vielleicht im Kontext eines jugendlichen Schulungslagers von VKS oder HJ. Sie scheinen niemals aktiv zur Verwendung gelangt zu sein und tragen dementsprechend auch nur geringe Gebrauchsspuren. Mit Ausnahme der Entwürfe Nr. 10 und Nr. 12 weisen alle Artefakte rückseitige Überbringervermerke sowie die Abstempelung, teilweise auch an der Vorderseite, mit einem Rundstempel der „Waffen-SS – Leibstandarte Adolf Hitler“ auf. Ein gewisses chronologisches Problem wirft dabei, zumindest auf den ersten Blick, die nicht einheitliche Binnenstruktur der Angaben auf, doch lassen sich die Widersprüche durch die Annahme einer erst sekundären Beschriftung auflösen. Als Sender fungiert durchgehend Josef Dorfmann, der fast immer als SS‑Obersturmbannführer firmiert. Die Zeichnungen seien „persönlich“ dem „Landesführer des VKS Peter Hofer“ zu übergeben, und zwar an dessen Domizil in St. Michael bei Kastelruth. Auf mehreren Rückseiten ist aber auch die Sigle AdO angebracht, was eine Anbringung der Vermerke erst nach Januar/Februar 1940 vermuten lässt (als der VKS bereits zur AdO aufgerückt war). Nun kann man problemlos annehmen, dass Dorfmann auch zu einem späteren Zeitpunkt auf die AdO noch unter der Bezeichnung VKS Bezug genommen und an der ihm vertrauten alten Funktionsbezeichnung zumindest partiell festgehalten hat. Einer der protokollarischen Vermerke hingegen, die Angabe „z. Kts. Gunther Langes Bozner Tagblatt“ am Entwurf Nr. 8, zwingt freilich zu einer anderen Chronologie. Das nationalsozialistische Bozner Tagblatt erschien erst nach der deutschen Besetzung Südtirols und der Einrichtung der NS‑Operationszone Alpenvorland ab dem 13. September 1943 unter „Hauptschriftleiter“ Gunther Langes.


Diese Umstände legen nahe, dass Josef Dorfmann in der Zeit seines Lazarettaufenthaltes in Bensberg‑Bergisch Gladbach (von dem er sich nicht mehr erholte und wo er im September 1944 an den Folgen seiner Verletzungen verstarb) die irgendwie mitgeführten Zeichnungen an Peter Hofer adressiert hat. Dieser war mit der Übernahme der Südtiroler Verwaltung durch die NS‑Behörden am 21. September 1943 zum Kommissarischen Präfekten der Provinz Bozen avanciert, kam aber bereits am 2. Dezember 1943 bei einer Inspektionsfahrt durch Bozen bei einem alliierten Luftangriff ums Leben. Bereits im Oktober 1943 schließlich war die AdO in Deutsche Volksgruppe Südtirol umbenannt worden. Vorausgesetzt, Dorfmann verfügte im Lazarett über aktualisierte Informationen, engen die Chronologie der Ereignisse bzw. die wandelnden Funktionsbezeichnungen die geplante Übergabe des Materials an Peter Hofer in den Herbst 1943 ein. Weitere rückseitige Angaben, wie etwa die Nennung des Innsbrucker Kunstmalers Luis Alton (Entwurf Nr. 1), bieten keine tragfähige Basis für eine weitergehende Feinchronologisierung. Alton hatte 1939 im Wiener Künstlerhaus an der regimekonformen Schau „Berge und Menschen der Ostmark“ sowie von 1940 bis 1944 an den Innsbrucker Gau‑Kunstausstellungen teilgenommen. Auch die mehrfache rückseitige Nennung des von Goebbels geleiteten Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (als RMVP oder RMVuP) trägt zur zeitlichen Einreihung nicht bei, legt aber immerhin den Legitimationshintergrund bzw. die geplanten Verwendungszusammenhänge des Materials frei. Es sollte als „Wandzeitung“ und „(Werbe)Banner“, als „(Reklame)Beilage“ oder „Annonce“ (im Bozner Tagblatt?) verwendet werden. Dies alles unterblieb freilich, und es ist äußerst zweifelhaft, wenn nicht unwahrscheinlich, dass Präfekt und Volksgruppenführer Hofer das Material überhaupt je zu Gesicht bekommen hat.
„Wir schliessen die Reihen, der Kampf geht weiter“ – das bekundeten die „Kameraden der Deutschen Volksgruppe“ in der offiziellen Parte, die am 4. Dezember 1943 im Bozner Tagblatt in großer Aufmachung publiziert wurde. Die an ihn adressierten Zeichnungen gelangten hingegen wohl direkt in den Besitz der Brixener Angehörigen von Josef Dorfmann, bis sie 2019 – 80 Jahre nach ihrer Entstehung – wiederum an das Tageslicht gelangt sind und einen Teil jener Verführungsgeschichte erzählen, der auch Südtiroler und Südtirolerinnen willig erlegen waren.