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Der Herr der Daten

Seine Leidenschaft für Zahlen, warum Statistik überaus spannend sein kann und Daten in postfaktischen Zeiten, darüber spricht der neue ASTAT-Direktor Timon Gärtner.
Timon Gärtner
Foto: LPA/Renate Mayr

Seit vergangenem Montag ist das Büro Nr. 262 im zweiten Stock des Landhaus 12 in der Kanonikus Michael Gamper-Straße der neue Arbeitsplatz von Timon Gärtner. Der 35-Jährige ist der neue Direktor des Landesinstatistikinstituts ASTAT. Als “jung, gut ausgebildet und motiviert” präsentierte ihn Landesrätin Waltraud Deeg kürzlich der Öffentlichkeit. Sein Weg hat Gärtner über die Abteilung Innovation, Forschung und Entwicklung über die BLS ins ASTAT geführt. Nun sitzt er dort an oberster Stelle und wacht über die Daten, die die Statistiker aus dem ganzen Land zusammentragen.

salto.bz: Herr Gärtner, wann haben Sie Ihre Leidenschaft für Zahlen, Daten und die Statistik allgemein entdeckt?
Timon Gärtner: Meinen Schlüsselmoment hatte ich während des Studiums. Ich habe an der Freien Universität Bozen Wirtschaft studiert und zwei der wichtigsten Fächer in den ersten beiden Jahren – Mathematik und Statistik – waren derart gut gemacht, dass ich so richtig auf den Geschmack gekommen bin. Eine ganz wichtige Rolle hat dabei mein Professor gespielt, Yuriy Kaniovskyi aus der Ukraine.

Kaniovskyi war eine Quelle der Inspiration für Sie?
Nun ja, meine Leidenschaft für Daten, Tabellen und Zahlen ging schließlich so weit, dass ich mit ihm meine Diplomarbeit geschrieben habe.

Worum ging es darin?
Technologische Entwicklung und Innovation. Und zwar darum, Produktivitätssteigerung mit mathematischen Modellen darzustellen.

Für Laien könnte sich das nun überaus langweilig und trocken anhören.
Das ist gar nichts Trockenes, im Gegenteil! Statistik ist ein Werkzeug, ein Instrument, das auf viele Phänomene anwendbar ist. Im Fall meiner Diplomarbeit habe ich sie auf das Phänomen “Innovation in Unternehmen” angewandt. Aber abgesehen davon, man kann so vieles mit Zahlen beschreiben. Und genau das ist das Spannende.

In einem bekannten Zitat, das Winston Churchill zugeschrieben wird, heißt es: “Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.” Eine Anspielung darauf, dass mit Zahlen und Daten die Wirklichkeit je nach Belieben dargestellt und auch manipuliert werden kann. Sie selbst haben bei Ihrer offiziellen Vorstellung als neuer ASTAT-Direktor die Glaubwürdigkeit Ihrer Arbeit und Ihres Instituts stark in den Mittelpunkt gestellt. Wie kann diese garantiert werden?
Auf dreierlei Weise. Das erste ist der institutionelle Rahmen, der für mit dem Landesstatistikgesetz geschaffen wurde. Darin festgehalten ist, dass das ASTAT eine unabhängige Struktur ist, auf die kein Einfluss genommen wird. Der Grundsatz, dass Statistik unabhängig sein muss, gilt übrigens weltweit. Denn nur so kann sie gegenüber den Bürgern das Vertrauen aufbauen, dass dann hin zur Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der Daten führt. Der zweite Garant für Glaubwürdigkeit ist der Produktionsprozess von Statistiken. Die Methoden, die wir verwenden, sind international anerkannt und harmonisiert. Dadurch werden unsere Statistiken weltweit vergleichbar. Und zum Dritten wird Glaubwürdigkeit durch die Verbreitung von Statistiken geschaffen, bei der garantiert werden muss, dass jeder Nutzer gleich behandelt wird und die Daten gleichzeitig erhält. Sodass für niemanden ein Informationsvorsprung entsteht.

Im postfaktischen Zeitalter können wir uns wie ein Fels in der Brandung positionieren.

Waren Statistiken und Statistiker immer schon so unabhängig wie Sie es geschildert haben?
Es gibt zwei berühmte Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, die hier genannt werden können. Da ist einmal Griechenland. Die gesamte Diskussion um die öffentlichen Finanzen im Land hat einen Hintergrund im griechischen Statistikamt, das eigentlich unabhängig sein sollte. Nachforschungen und Ermittlungen haben aber ergeben, dass die Arbeit dort beeinflusst worden ist. Plötzlich ist zutage getreten, dass die Zahlen zum griechischen Haushaltsdefizit aus dem Statistikamt nicht glaubwürdig waren und die öffentlichen Finanzen in Griechenland demzufolge nicht mehr der Realität entsprochen haben. Das zweite Beispiel ist Argentinien und seine Inflationsstatistiken. Auch dort ist die Unabhängigkeit infrage gestellt worden.

Auch der freie Zugang zu Statistiken war nicht immer so selbstverständlich. In ihren Anfängen war statistische Erhebungen vom Staat gelenkt, der die Daten wie Staatsgeheimnis hütete und dadurch auch ein gewisses Machtinstrument in den Händen hielt. Heute ist das anders?
Richtig. Heute gibt es die so genannten ‘zehn Gebote’ der amtlichen Statistik, die von den Vereinten Nationen festgelegt wurden. Diese Regeln haben sich auf Ebene der Europäischen Union in 15 Grundsätzen niedergeschlagen.

Eine Art Verhaltenskodex für Statistiker?
Exakt, die 15 Grundsätze beziehen sich auf das, was ich vorhin angesprochen habe: den institutionellen Rahmen sowie die Produktion und Verbreitung von Statistiken. Statistiken im Sinne des Verhaltenskodex’ für europäische Statistiken sollen die Grundlage für demokratische Prozesse bilden. Damit wurde der Schritt vom autoritären Staat, der versucht hat, Informationen und Daten für sich zu behalten, hin zu Statistiken als öffentliches Gut getan. Sie sollen die Grundlage für Entscheidungen und Planungen bilden und werden der gesamten Gesellschaft zur Verfügung gestellt.

Grundsatz 5 spricht von “statistischer Geheimhaltung”. Hatten Sie nicht gesagt, dass die Zeiten, in denen Daten vom Staat unter Verschluss gehalten werden, vorbei sind?
In diesem Fall geht es um die Datenerhebung. Die befragten Haushalte und Personen müssen sicher sein können, dass sie sensible Daten wie etwa zu Krankheiten oder Religion frei preis geben können, ohne Angst haben zu müssen, dass diese Daten weitergegeben werden. Es geht also um den Schutz der Rechte der Bürger, und nicht darum, Ergebnisse geheim zu halten.

Wie ist die Idee einer amtlichen Statistik entstanden?
Einer der wichtigsten Vordenker ist der große Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz. Damals, im 17., 18. Jahrhundert ist in Preußen die Idee aufgekommen, dass der Staat ein solches Amt einrichten sollte, das Statistiken erhebt.

Statistik ist gar nichts Trockenes, im Gegenteil!

Die ersten Statistiken galten vor allem der Erfassung von Bevölkerungen. Bereits in der Bibel gibt es das Beispiel von Josef, der sich mit Maria auf den Weg nach Betlehem machte, da der römische Kaiser Augustus eine Volkszählung angeordnet hatte.
Das ganze Thema der Statistik startet eigentlich mit Bevölkerungszählungen. Auch eines der größten Projekte, das es in letzter Zeit weltweit gegeben hat, hat damit zu tun.

Das da wäre?
Die große Volkszählung in China 2010. Das war historisch gesehen die umfangreichste Zählung der Welt. Ich habe gehört, dass damals 6,5 Millionen Erheber im Einsatz waren, um die Bevölkerung zu zählen. Wenn man sich vorstellt – was für ein Aufwand! Vor allem bei der Landbevölkerung…

Weil wir gerade in China sind: Statistisch gesehen ist jeder 4. Mensch auf der Welt Chinese. Diese Feststellung mag ja unterhaltsam sein, was aber kann man mit einer solchen Aussage konkret anfangen?
Da sprechen Sie ein wichtiges Thema an, nämlich, wie Daten kommuniziert werden. Besonders wenn man von Häufigkeiten spricht, ist diese Frage ein wichtiger Aspekt. Das Beispiel “Jeder 4. Mensch ist ein Chinese” ist eine andere Art, um zu sagen, dass 25 Prozent der Weltbevölkerung Chinesen sind. Nur, wenn man nun “25 Prozent” hört, kann man sich nicht immer gleich vorstellen, was damit gemeint ist. Um es klarer auszudrücken, hilft dann eben eine andere Art der Darstellung von Zahlen.

Nichtsdestotrotz scheint die Skepsis gegenüber Realitäten, die anhand von Zahlen, Daten, Fakten dargestellt werden, bei den Menschen zu wachsen. Seit einiger Zeit ist davon die Rede, dass wir in “postfaktischen Zeiten” leben, Emotionen also mehr zählen als Tatsachen. Wird sich die Statistik im postfaktischen Zeitalter behaupten? Und wie?
Ich glaube, auch hier ist die Botschaft der Glaubwürdigkeit, der Zuverlässigkeit und des Vertrauens in die Statistik zentral. Wenn wir diese Prinzipien befolgen, können wir uns wie ein Fels in der Brandung positionieren, an dem man sich festhalten kann, sollte man sozusagen ins Schwimmen geraten und Emotionen aufkommen, die sachliche Entscheidungen schwieriger machen.

Wie schätzen Sie das ASTAT in diesem Zusammenhang ein? Wurde vielleicht schon einmal erhoben, wie viel Vertrauen das Landesstatistikamt in der Bevölkerung genießt?
Das wäre sicher etwas, was man erheben könnte (schmunzelt). Die Tatsache, dass wir selbst Statistiken erheben können und unsere Unabhängigkeit, die auf eine Durchführungsbestimmung zum Autonomiestatut zurückgeht, sehe ich jedenfalls durchaus als eine autonomiepolitische Errungenschaft.

Von A wie Arbeit über G wie Gesundheit und T wie Tourismus bis hin zu Z wie Zählungen hat das ASTAT eine Vielzahl von Betätigungsfeldern. Wie wird entschieden, was von den Landesstatistikern erhoben wird?
Wir sind, wie gesagt, Teil des europäischen Systems. Da gibt es europäische Statistiken, die wir gemäß unserer territorialen Zuständigkeit in Südtirol durchführen. Ebenso wie die italienischen Statistiken. Und dann gibt es noch Statistiken, die wir gezielt für Südtirol machen.

Als unabhängiges, öffentliches Institut müssen wir Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit und Vertrauen garantieren können. Und ich glaube, wir schaffen das auch. Denn im Unterschied zu Google, Amazon & Co. verfolgen wir keinerlei Privatinteressen.

Neben den groß angelegten Erhebungen, die nicht alljährlich gemacht werden, gibt es vielerlei kleinere Umfragen und Untersuchungen. Im Vorjahr waren es etwa 85 an der Zahl. Nun kann sich vielleicht die Frage stellen: Wozu werden all die Daten gesammelt?
Sinnvoll sind Statistiken in erster Linie, um Phänomene in Wirtschaft und Gesellschaft besser kennenzulernen. Die Aussage “Was bringt diese Statistik?”, ist natürlich subjektiv. Für den einen kann eine gewisse Statistik nichts bringen, während sie für den anderen extrem wertvoll sein kann. Ein Beispiel, das vielleicht kurios sein mag, aber die Sache veranschaulicht: die Wahrsagekunst. Jemand mag sich fragen, welchen Sinn es macht, Daten dazu erheben. Aber jemand anderes könnte sagen, dass dieses Phänomen sehr wohl zu beobachten ist, denn vielleicht ändert sich im Laufe der Zeit ja etwas und man merkt, dass sich die Menschen daran festhalten. Statistiken haben also verschiedene Nutzer: Universitätsprofessoren, die versuchen Theorien darauf aufzubauen; Bürger, die wissen wollen, wieviele Einwohner eine Gemeinde hat… Wir können im Vorfeld nicht immer wissen, wofür die Daten genutzt werden.

In den kommenden drei Jahren warten sage und schreibe 238 Arbeiten auf Sie und Ihr Institut. Wie wollen Sie diese Herkules-Aufgabe stemmen?
(Lacht) Die Zahl kann ich etwas abschwächen. Diese 238 Arbeiten beinhalten nicht nur die Statistiken und Projekte des ASTAT, sondern auch Statistiken anderer Institutionen in Südtirol, die von öffentlichem Interesse sind. Dazu kommen die Erhebungen, die wir im Rahmen der europäischen Statistik durchführen.

Welche Schwerpunkte wollen Sie als neuer Direktor mit Ihrer Arbeit setzen?
Wir leben in der Zeit der Digitalisierung und der digitalen Transformation. Hier möchte ich gerne Impulse geben: Online-Datensammlung, Big Data, Open Data, Schnelligkeit bei der Verbreitung von Daten – um nur einige Punkte zu nennen, mit denen wir uns auseinandersetzen werden.

Gibt es etwas, das Sie persönlich einmal gerne statistisch erheben möchten?
(Denkt nach). Etwas gäbe es da schon. Das ist zwar nicht wirklich ein statistisches Thema, aber es wäre interessant herauszufinden, ob der Name Einfluss auf den beruflichen oder sonstigen Erfolg hat. Zum Beispiel: Trifft es zu, dass alle Marias in Südtirol hoch qualifiziert sind und ein hohes Einkommen haben? Oder sind es hauptsächlich die Annas? Warum könnte das spannend sein, fragen Sie sich jetzt. Natürlich im Moment, in dem für ein Kind ein Name gesucht wird (lacht). Aber auch darüber hinaus. Bei uns in Südtirol etwa könnte man sich die Frage stellen, ob ein italienischer oder ein ladinischer Name eine ähnliche Auswirkung hat. Und wie verhält es sich mit den Namen von Zugewanderten?
Ein anderer Bereich, der spannend wäre, zu erfassen, ist jener der ‘non-observed economy’, also die Schattenwirtschaft in Südtirol.

Ein heikles Thema – von denen es sicher mehrere gibt bei den Umfragen, die das ASTAT durchführt. Blocken die befragten Personen, Haushalte oder Unternehmen auch einmal ab, wenn es um sensible Bereiche geht?
Um eines vorweg zu schicken: Das ASTAT erhebt Daten ausschließlich für statistische Zwecke. Und macht keine Steuerkontrollen oder sonstige Überprüfungen. Wenn wir einem Bürger die Frage stellen “Welche politische Ansicht haben Sie?”, dann muss er frei die Meinung sagen können ohne irgendetwas befürchten zu müssen. Nur so wird – ich wiederhole mich – die Glaubwürdigkeit gewahrt und ein wahrheitsgetreues Bild der Wirklichkeit abgebildet.

Haushalte und Personen müssen sicher sein können, dass sie sensible Daten frei preis geben können, ohne Angst haben zu müssen, dass diese Daten weitergegeben werden.

Umgekehrt müssen aber auch Statistiker auf das vertrauen, dass ihnen die Befragten die Wahrheit sagen. Eine hundertprozentige Ehrlichkeitsgarantie gibt es nicht. Oder?
Richtig. Und genau deshalb ist Vertrauen das Entscheidende. Man kann nicht alles kontrollieren oder absichern. Aber wir bemühen uns ständig, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen.

Nachdem wir nun lange und ausführlich über Zahlen, Daten und Statistik gesprochen haben, stellt sich die Frage, ob Sie Ihre Leidenschaft für diese Themen auch außerhalb der Arbeit begleitet?
War das jetzt die Frage nach meiner Freizeitbeschäftigung (schmunzelt)? Ich habe Familie, für die ich mir natürlich Zeit nehme. Erst vor Kurzem habe ich das Radfahren für mich entdeckt, das mache ich gerne. Aber natürlich interessiere ich mich für alles, was mit Daten und neuen Entwicklungen in diesem Bereich zu tun hat. Daher versuche ich, auf dem Laufenden zu bleiben, was weltweit gerade der ‘state of the art’ ist. Was ich außerdem noch mache ist, ich versuche, Blogs zu verfolgen. Einige wichtige Wirtschaftsstatistiker und Ökonomen betreiben eigene Blogs, die ich mit großem Interesse in meiner Freizeit lese.

Aus welchen geografischen Zonen stammen ihre Lieblingsblogger?
Länder, die mich besonders begeistern, sind die USA, die aufstrebenden Länder Zentral- und Osteuropas und natürlich die Schweiz.

Sie haben selbst Schweizer Wurzeln…
Genau. Mein Vater kommt aus der Schweiz. Ich selbst habe, ebenso wie meine Kinder, die Schweizer Staatsbürgerschaft und finde es spannend, in beiden Ländern wählen und den politischen Prozess mitmachen zu können.  Im Allgemeinen finde ich für Südtirol den Blick in die Schweiz sehr interessant, weil es ganz viele Parallelen gibt.