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Zu schön, um wahr zu sein

Ein Gastbeitrag von Malte E. Kollenberg aus der Zeitschrift Kulturelemente Nr. 151. Über Journalismus zwischen Pressestellen und Newsrooms.

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Foto: Salto.bz

Früher hattest Du Deine Zeitung. Dann kam Dein VZ, dann Dein Facebook, Twitter, Instagram und Tik Tok und viele, viele andere. Seitdem ist die schöne neue Internetwelt von der Realität eingeholt worden. Hass und Hetze grassieren im Netz. Fake News bestimmen den Nachrichtenkonsum. Die Globalisierung hat auch vor dem Journalismus nicht halt gemacht.
Der wahrscheinlich größte Journalismusskandal der letzten Jahre, die Relotiusaffäre beim deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel, hat viel Staub aufgewirbelt. Schnell waren viele Medien bemüht, Schadensbegrenzung zu betreiben. Ein Einzelfall und kein systemisches Problem, sollte Relotius gewesen sein.
Ein junger Reporter hatte sich seine Karriere mit blühender Phantasie erschrieben. Hat Gesprächspartner, Szenen und Sachverhalte erfunden und hat so den Zahn der Zeit, nicht nur bei den Lesern, vor allem auch in den Redaktionen und bei Jurys für Journalistenpreise getroffen. Es war keinesfalls nur Der Spiegel, auch die Süddeutsche Zeitung, Reportagen und viele andere waren von den Erfindungen des Claas Relotius betroffen.

Das gab es schon mal

Zwanzig Jahre vor Relotius passierte beim amerikanischen Magazin The New Republic schon einmal genau dasselbe. Ein Reporter hatte sich Geschichten ausgedacht. Bevor er aufflog, war er das hochgelobte Talent, ausgezeichnet, ein Aushängeschild.
Die Relotiusaffäre hat eine breite Diskussion über Reportagen und die Sorgfalt der schreibenden Zunft angestoßen. Juan Moreno, freier Journalist und Spiegel Autor, hat die Affäre aufgedeckt und ein Jahr später “Tausend Zeilen Lüge –Das System Relotius und der deutsche Journalismus” veröffentlicht. Relotius und Fake News sind für ihn nicht vergleichbar: “Relotius aber hatte keine politische Agenda”, schreibt er. Relotius habe sich nur verkaufen wollen. An genau der Stelle liegt jedoch die Vergleichbarkeit. Wer Informationen verkaufen möchte, braucht Aufmerksamkeit.

Journalismus bedeutet etwas zu bringen, von dem andere wollen, dass es nicht veröffentlicht wird. Alles andere ist PR.
von George Orwell (?)

Fake News sind bewusste Desinformationen oder Falschmeldungen, die über traditionelle und/oder soziale Medien verbreitet werden. Fake News wären auch nicht so problematisch, wie sie heute sind, wenn sie nicht so viel Aufmerksamkeit erhalten würden. Lange bevor der Begriff Fake News zum Synonym für Falschinformationen wurde, gab es das dahinterstehende Prinzip. Es hieß Propaganda und war vor, während und nach dem Kalten Krieg politisches Werkzeug und für eine Welt, die in Gut und Böse geteilt werden konnte, das Mittel der Wahl. Und oft war es noch dazu politisch opportun.
Auch gab es immer sensationsheischende Berichterstattung in Boulevardmedien und Falschmeldungen, die aufgrund mangelnder Sorgfalt Verbreitung gefunden haben. Das Neue in der heutigen Situation ist der Umfang und die Schnelligkeit, mit der sich falsche Meldungen herstellen und verbreiten lassen.
Das große Problem für viele Medien ist aber ein ganz anderes: ihre Glaubwürdigkeit.


In Deutschland gilt die Deutsche Presseagentur (DPA) als eine verlässliche Quelle. Ein unabhängiges Medium, aus dem sich andere Medien bedienen können. Doch wie verhält es sich mit Informationen, die durch die Verbreitung über die DPA sozusagen mit einer Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestattet worden sind? Viele Nachrichtenagenturen in anderen Ländern sind schlicht staatlich. Wird nun im Zuge einer Kooperationsvereinbarung eine Meldung von dort in den DPA-Ticker übernommen, so wird aus einer nicht notwendigerweise unabhängigen Information eine verlässliche. Es werden erstmal keine Fragen mehr gestellt.
Eines von vielen Beispielen. Aber ein Riesen Problem, wenden sich Leser und Leserinnen, Zuschauerinnen und Zuschauer doch vom alten Journalismus ab.

Während geografische Grenzen wieder errichtet werden, sind medial die Grenzen eingerissen worden. Ein Wechsel aus dem Journalismus in die Öffentlichkeitsarbeit oder Unternehmenskommunikation ist weit verbreitet.Auch der Wechsel in die andere Richtung ist üblich und sorgt, wenn überhaupt, nur für eine kurze Irritation.

Für viele Menschen sind soziale Medien zu einer Informationsquelle geworden. Was per se nicht problematisch ist. Doch wenn psychologische Tricks angewendet werden, um Inhalte an Frau oder Mann zu bringen, dann ist die freie Entscheidung und die informationelle Selbstbestimmung nicht gewährleistet und die Filterblase wird immer enger.Um in dem Nachrichtenstrom relevant zu bleiben, haben sich auch etablierte Medienhäuser und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten in die sozialen Medien vorgewagt. Auch sie nutzen Facebook, Twitter, Instagram und neuerdings Tik Tok als Ausspielweg. Und auch sie setzen auf die Möglichkeiten, die ihnen die Algorithmen der Plattformanbieter bieten. Doch wird es nicht an dem Punkt problematisch, an dem Reichweite damit erzeugt wird, dass mit Marketingbudgets Social-Media-Konzerne gestützt werden?

Pressestellen sind heute Newsrooms

Wer sich heute für einen Arbeitsplatz als Redakteur interessiert und einschlägige Stellenportale durchforstet, wird erstaunt sein ob der Möglichkeiten, die sich bieten. Nicht mehr nur in Redaktionen von Spiegel, Süddeutscher oder der FAZ werden Redakteure*innen im Newsroom beschäftigt. Banken, Interessenverbände und Industrieunternehmen haben heute vielfach keine Pressestellen mehr. Sie haben einen Newsroom, produzieren Content und beschäftigen Journalisten. Umgekehrt finden auch Marketingverantwortliche in Medien ihren Weg in die Redaktionen.
Doch auch in den Verlagshäusern und Rundfunkanstalten wird heute Content produziert. Die Minuten, Zeitungsspalten und Internetseiten müssen gefüllt werden. Was redaktioneller Inhalt und was “native Advertising” ist, ist oftmals gar nicht so leicht zu erkennen.
All dies wäre gar kein großes Problem, wäre da nicht die Sache mit der Transparenz und dem Selbstverständnis vieler Medienhäuser. Denn wer zu Recht gesellschaftliche Missstände aufdeckt und kritisiert, der kann nicht vor genau den selben Missständen im eigenen Haus die Augen verschließen. Aber genau das passiert: aus Leidenschaftslosigkeit, aus ökonomischen Gesichtspunkten und aus Pfadabhängigkeit.
Auch im Journalismus trifft zu, was in vielen Berufen gilt. Auch der journalistische Berufsstand folgt einer Normalverteilung. Es gibt ein paar ganz schlechte, viel Mittelmaß und ein paar herausragende Journalisten.
Während geografische Grenzen wieder errichtet werden, sind medial die Grenzen eingerissen worden. Ein Wechsel aus dem Journalismus in die Öffentlichkeitsarbeit oder Unternehmenskommunikation ist weit verbreitet.Auch der Wechsel in die andere Richtung ist üblich und sorgt, wenn überhaupt, nur für eine kurze Irritation.
Personalien im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in Zeitungen und Magazinen, bei privaten TV- und Radiosendern wechseln hin und her, die Profile der einzelnen Häuser weichen auf und letztlich landet alles in der Beliebigkeit.

Warum?

Mit zunehmender Komplexität globaler Verflechtungen und mit zunehmendem ökonomischen Druck haben sich viele Häuser von der wichtigsten Frage, die der Journalismus zu bieten hat, abgewandt: dem Warum? Tilo Jung von Jung & Naiv hat es mal in einem Interview mit der Tageszeitung auf den Punkt gebracht: „Ich frage – nicht damit ich Sie aufs Glatteis führe, sondern damit ich bestimmte Sachen herausbekomme. Etwa bei militaristischen Einsätzen. Die Kollegen fragen in der Regel: Okay, wann gehts los, wie viel schicken wir? Ich frage: Warum gehen wir, wie kommt man hin, was ist das Ziel, was ist das Exitszenario?“
An die Beantwortung dieser Fragen könnte sich eine lebendige, in der Tradition der Aufklärung stehende Diskussion anschließen, die letztlich einen Erkenntnisgewinn mit sich bringt. Wenn aber diese Fragen nicht mehr gestellt werden, kann auch eine solche Diskussion nicht entstehen. Dann ist ein Medium letztlich nicht mehr als der verlängerte Arm einer Pressestelle.
Dann wird der Onlinestammtisch zum Meinungsführer, denn das was früher nach fünf Bier unter einigen wenigen in der Kneipe erörtert wurde, findet heute über die sozialen Medien seinen Weg in potentiell jedes Wohnzimmer. Gespickt mit Halbwissen, mit Verdrehungen, groben Verfälschungen und Ignoranz. Dass es nur sehr wenige sind, die sich da lautstark zu Wort melden, spielt dabei erstmal keine Rolle.
Weil aber die Aufmerksamkeitsspanne vieler Menschen heute so kurz ist, wie vor 30 Jahren am Stammtisch der erste Schluck Bier runtergespült war, ist das Ergebnis dasselbe. Die Aufmerksamkeitsökonomie frisst die, deren Verkaufsargument immer die Aufmerksamkeit war, weil sie sich im Wettbewerb zu oft der gleichen Plattitüden bedienen wie die, die mit Fake News Sichtbarkeit erzeugen.
Die Wahrheit aber ist vielfältig. Oft lässt sie sich nicht in gut und böse oder schwarz und weiß ausdrücken. Sie zu beschreiben kostet Zeit. Sowohl beim Beschreibenden, dem Journalisten, als auch beim Leser oder Zuschauer. Jeden zu erreichen scheint mir utopisch. Die, die es aber interessiert, mit Integrität, Offenheit und Transparent mit Informationen zu versorgen, sollte der Grundgedanke sein. Zuspitzungen und leere Versprechungen sind damit allerdings nicht vereinbar.

Drei Möglichkeiten

Wer also relevant sein möchte und aus dem Stammtischgewirr herausragen will, der sollte sich an George Orwell halten, der gesagt hat: „Journalismus bedeutet etwas zu bringen, von dem andere wollen, dass es nicht veröffentlicht wird. Alles andere ist PR.“ Was sachlich richtig ist und von großer Integrität zeugt, ist aber auch wieder problematisch. Dass dieses Zitat von Orwell stammt, lässt sich nicht belegen. Dabei würde es so gut passen. Es wäre zu schön, um wahr zu sein.
Es fehlt an Integrität und dem Willen, diese zu finanzieren. Drei Möglichkeiten, mit Journalismus auch im 21. Jahrhundert Geld zu verdienen, bieten sich: Erstens, die Integrität wird über Bord geworfen, Klicks, Reichweite und Page Impression werden zum Maßstab. Zweitens, man besetzt eine Lücke, die mit großartigem Journalismus gefüllt wird, aber deren Wachstumsmöglichkeiten begrenzt sind. Die dritte Variante ist quasi eine Kombination der beiden erstgenannten. Reichweitenstarke „Katzenvideos“ bringen das Geld, um qualitative Berichterstattung zu finanzieren – das Prinzip Buzzfeed. Variante drei hat dabei aber immer das Problem, dass sie sehr schnell zu Variante eins werden kann, wenn der ökonomische Druck steigt.
Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten unterliegen diesem marktwirtschaftlichen Druck eigentlich nur indirekt. Aber auch hier wird sich dem Diktat unterworfen, Marktanteile, Klicks und Quoten regieren.
Während Influencer, früher Trendsetter genannt, Modelle entwickeln, auf YouTube, Instagram etc. Geld zu verdienen, biedern sich viele Medien diesen Strategien an. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist wahrhaftiger Journalismus. Denn die Emotionalität, mit der ein/e Influencer/in die Zuschauer anspricht, hat meist im Journalismus nichts verloren; auch nicht, wenn sich damit Klicks generieren lassen.
Zynisch könnte man aber auch sagen: Wenn es nur um’s Verkaufen, maximale Rendite und Wachstum geht, dann ist jedes Mittel recht. Dann aber ist es kein Journalismus mehr, sondern nur noch Content. Und dann sollte auch nicht Journalismus drauf stehen. Das ist nicht anders als bei Claas Relotius.