Cultura | Salto Weekend

Bozner Rasierklingen

Im Rahmen der Aufwertung der Industriezone Bozen durch das NOI, bringt Salto.bz einen Gastbeitrag von Maurizio Visintin. Passend zum bärtigen Hipster-Zeitgeist - Teil 1.
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Foto: Lama

Während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts benutzte ein Großteil der Männer täglich Rasierklingen, die auf einem so genannten „Rasierhobel“ aufgeklemmt wurden und wiederholte Male verwendet werden konnten. Diese Nassrasurgeräte mit den zweiseitigen „Sicherheitsklingen“ stellten einen gewaltigen Fortschritt gegenüber den bisher üblichen Klapprasiermessern dar, die weitaus gefährlicher waren und in ihrer Handhabung sehr viel mehr Sorgfalt erforderten. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen begann sich auch der italienischen Markt dieser Neuerung anzunehmen, wobei gleich mehrere Unternehmen entsprechende Erzeugnisse in ihr Produktionsprogramm aufnahmen.
Während der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre – Mussolini hatte soeben die Gründung der Bozner Industriezone beschlossen und unter anderem auch die Acciaierie e Ferriere Lombarde, sprich die lombardischen Eisen- und Stahlhüttenwerke des Familienkonzerns Falck darin involviert – machte sich Falck daran, den Bau eines imposanten Stahlwerks zu planen, das den Namen Acciaierie di Bolzano erhielt, und dem auch eine kleine Betriebsabteilung für die Herstellung von Rasierklingen angegliedert war, die als Lama Bolzano auf den Markt kommen sollten.

Nun stellten aber die Acciaierie di Bolzano – ebenso wie die anderen in Bozen neu angesiedelten Industriewerke, so etwa Lancia, Industria Nazionale Alluminio und Magnesio – eine Art Quintessenz der äußerst sperrigen, aufwändigen und umweltbelastenden Schwerindustrie dar, während Produktionsmodus und Arbeitskräfte für die Herstellung von Rasierklingen eindeutig im Bereich der Leichtindustrie anzusiedeln waren. Und genauso unterschieden sich die jeweiligen Absatzmärkte und Vertriebssysteme voneinander: Während die eigentlichen Produkte des Stahlwerkes nahezu ausschließlich für die weiterverarbeitende Industrie bestimmt waren und diese Art von Kundschaft mit eigenen Fachverkäufern sowie über einschlägige Fachmessen und Fachzeitschriften erreicht wurde, handelte es sich dagegen bei den Rasierklingen um einen über den Einzelhandel zu vertreibenden Massenkonsumartikel.

Als allererste Bozner Rasierklinge kam anfangs 1937 die Falco auf den Markt.

Der Produktionsbereich Rasierklingen war aber auch nicht gedacht als eine Art Vervollständigung des Angebots an Produkten aus dem selbst erzeugtem Rohstoff: Zu verschwindend gering war der dafür anfallende Materialbedarf im Vergleich zum Gesamtvolumen des verarbeiteten Stahls. Vielmehr wurde diese Sonderabteilung ins Leben gerufen, um einerseits jene Arbeiter auch weiterhin beschäftigen zu können, die wegen ihres fortgeschrittenen Alters oder aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr im Schwerarbeitsbereichen der Gießerei eingesetzt werden konnten, andererseits aber auch, um zahlreichen Frauen und Töchtern der eigenen Arbeiter einen Arbeitsplatz zu bieten.
Mehr als einem betriebswirtschaftlichen Plan entsprang die Einrichtung der Rasierklingenproduktion den Überlegungen einer sozial ausgerichteten, durchaus noch paternalistisch geprägten Personalpolitik. Mit Ministerialerlass Nr. 1443 vom April 1936 wurde die Aktiengesellschaft Acciaierie di Bolzano schließlich dazu ermächtigt, in der neuen Provinzhauptstadt Bozen nicht nur eine grandiose Industrieanlage mit Walzwerk, Schmiedeanlagen und Eisengießerei zur Herstellung von Sonderstahlen zu erbauen, sondern auch eine daran angeschlossene „Fabrik zur Produktion von Sicherheitsrasierklingen“.

Eine gewisse Zeit lang wurden neben den Rasierklingen auch noch Sägeblättchen für Arzneiphiolen produziert. Als allererste Bozner Rasierklinge kam anfangs 1937 die Falco auf den Markt. „Ein nützlicher, viel gebräuchlicher Haushaltsartikel“ – so liest es sich in einer damaligen Ankündigung – „der in zwei unterschiedlichen Typen von jeweils höchster Qualität angeboten und anfänglich in einer monatlichen Menge von zwei Millionen Stuck produziert wird“. Diese angekündigte Stückzahl konnte zu Beginn zwar nicht erreicht werden, doch schon bald sollte es zu einem raschen und deutlichen Anstieg kommen. Wurden 1938 noch rund 11 Millionen Rasierklingen und Sägeblättchen fabriziert, waren es zwei Jahre später schon 32 Millionen. Kurz zuvor hatte Mussolini Italien in einen neuen Afrikafeldzug verwickelt, und somit wurden die italienischen Streitmachte zu einem der ersten Großkunden, dessen in Ostafrika stationierte Truppeneinheiten nun mit Abertausenden Rasierklingen der Sorten Adua, Asmara und Pumeto eingedeckt wurden. Dabei handelte es sich klarerweise nicht um jene allererste Qualitat, die etwa der legendären Lama Bolzano vorbehalten war – die später Superinox heißen sollte – oder den beiden anderen Spitzenklingen Falcon und Vulcano, von denen letztere in einem Papierchen mit einer Abbildung der Gießerei des Bozner Stahlwerkes eingeschlagen war.
Die Hauptrolle im unternehmerischen Abenteuer der Lama Bolzano fällt dem Ingenieur Bruno Falck (1902-1993) zu, dem jüngsten Sprössling der Industriellendynastie, dem trotz seines jungen Alters vom Familienpatriarch Giorgio Enrico Falck (1866-1947) bereits von Beginn an die höchstpersönliche Verantwortung für das Bozner Stahlwerk übertragen worden war. Nahezu ein halbes Jahrhundert lang sollte Bruno Falck als Vorsitzender des Verwaltungsrates die Schlüsselfigur der Unternehmenspräsenz in Bozen darstellen.

Nach Abschluss des Studiums am Mailander Polytechnikum hatte er sich bei den größten amerikanischen und europäischen Stahlkonzernen alles notwenige Wissen um die fortschrittlichsten Produktionstechniken angeeignet, um daraufhin zusammen mit seinen älteren Brüdern Enrico (1899-1953) und Giovanni (1900-1972) in das Familienunternehmen eingebunden zu werden. Bruno Falck machte wiederholt deutlich, dass für ihn die Rasierklingenproduktion nicht viel mehr als ein pures Hobby sei, denn trotz der nationalen wie auch internationalen Aufmerksamkeit, die das Bozner Stahlwerk dank seiner erfolgreichen Rasierklingen genoss, handelte es sich bei der Herstellung und Vermarktung dieser Artikel um einen höchst marginalen Geschäftsbereich, der sowohl in quantitativer, als auch finanzieller Hinsicht einen absolut vernachlässigbaren Posten in den Geschäftsbüchern des Bozner Betriebes darstellte. Außerdem – so bezeugen es Kenner der damaligen Geschäftsberichte – erwies sich die Rasierklingenproduktion nie als besonders gewinnbringend.

Aus einem drei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von Vincenzo Ventafridda, dem oberster Betriebsleiter des Bozner Stahlwerkes abgefassten Lagebericht ist zu erfahren, dass „die derzeitige Monatsproduktion von rund 3 Millionen Stück mit nur geringem Kapitaleinsatz auf 6 Millionen verdoppelt werden konnte, um damit mehr als 60 zusatzliche Arbeitsplatze zu schaffen.“ Damit wird von Ventafridda ausdrücklich der nicht so sehr nach ökonomischen, sondern vorwiegend nach sozialen oder bestenfalls ethnischen Schwerpunkten ausgerichtete Zweck der Rasierklingenproduktion bestätigt.
In den darauffolgenden Jahren kam es zu einem mehr als deutlichen Produktionsanstieg, zumal in der Nachkriegszeit die Rasierklingen zu jenen Symbolträgern gezahlt wurden, die für den nunmehr in Schwung geratenen, veränderten Lebensstil der italienischen Gesellschaft standen. „Der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung und die stark zunehmende Verstädterung“ – so die Historiker Andrea Bonoldi und Vanja Zappetti – „führten unter anderem zu einem erheblich gestiegenen Konsum von Produkten der persönlichen Körperpflege. Wie etwa Zahnpaste, Duschmittel und Deo, zahlte auch die Rasierklinge zu diesem Trend, umso mehr, als man sich damit von der bisher herkömmlichsten Art der Rasur abheben konnte.“

Nun war es die Werbung, die zum zentralen Punkt der Vermarktungsstrategie der Lama Bolzano wurde. Die erste diesbezügliche Investition betraf die Verpackung der Klingen in farbig bedruckten Kartönchen und einnehmend gestalteten Einschlagpapierchen, in deren Machart sich gewissermaßen auch die Unternehmensgeschichte widerspiegelt. „Das die Klinge umhüllende Papier“, schreibt etwa die Journalistin Eleonora di Lauro, „war in den schlechten Jahren und zu Zeiten der schwierigen Materialbeschaffung extrem dünn und von geradezu schleierartiger Konsistenz, während es sich in den Jahren des Wohlstands als kraftvoll und sicher darstellte.“

Schon gleich nach Kriegsende wurde der aus dem Trentino stammende Fotograf Enrico Pedrotti mit einer ersten Werbekampagne beauftragt. Pedrotti betrieb in Bozen ein auf Porträtaufnahmen spezialisiertes Fotoatelier, war aber der zukunftsträchtigen Werbefotografie alles eher als abgeneigt. In den neu erhaltenen Auftrag involvierte der Fotograf nun Mario Comina, einen jungen Bekannten, der später zu einem über die Stadt hinaus renommierten Journalisten werden sollte und sich später amüsiert an jene Tage erinnert: „Hinter uns lagen die Trümmerhaufen des Krieges, und nach den düsteren Jahren des Faschismus entdeckten wir den Rausch der Freiheit und der Demokratie. Eines Tages fragte mich Pedrotti, der mein Nachbar war, ob ich mich für ein paar Aufnahmen zur Verfügung stellen konnte, da ich ja so ein fotogenes Gesicht hatte. Im Atelier setzte er mich dann vor einen Spiegel und bat mich, mir das Gesicht einzuseifen, da es sich um Werbefotos für die Lama Bolzano handelte. Während er die Fotos schoss, tauchte plötzlich seine junge Tochter im Atelier auf, die er als Motivbereicherung gleich mit ins Bild brachte. Und so wurde aus mir eine wahrlich jugendliche Vaterfigur, da ja der Altersunterschied zwischen mir und dem Mädchen bei mehr oder weniger zehn Jahren liegen mochte. Aber wahrscheinlich ließ mich der Rasierschaum im Gesicht wohl um einiges reifer erscheinen.“

Solchermaßen amateurhaft entstand also eine in der Folge davon breit angelegte Werbekampagne, die das eigentlich noch bartlose Gesicht des Mario Comina auf den Plakatwänden ganz Italiens und sogar von Paris erstrahlen lies, ohne dass das ‚improvisierte‘ Fotomodell selbst etwas daran verdient hatte. Das Werbekonzept von Lama Bolzano gründete auf mehrfarbige, gefällig gestaltete Verpackungsgrafik. Die Kommunikationsstrategie der Lama Bolzano wurde darauf ausgerichtet, ein immer größeres Publikum zu erreichen und dabei die eindeutig maskuline Charakterprägung des Produktes hervorzuheben. Noch vor Beginn der Fünfziger Jahre zeichnete der renommierte Illustrator Gino Boccasile (1901- 1952) im Auftrag der Bozner Stahlwerke das auffallend prächtige, brünette Fräulein, das auf einer aus großen Rasierklingen bestehenden Ziehharmonika spielt.

Für die Episoden im legendären abendlichen Fernsehwerbeblock Carosello musste hingegen der clevere Polizeiinspektor Sheridan herhalten, der vom damals höchst umjubelten Schauspieler Ubaldo Lay dargestellt wurde. Und was die Sponsorentätigkeit betrifft, konzentrierte man sich auf die Präsenz bei den wichtigsten nationalen Sportereignissen wie etwa den Giro d‘Italia. Zur Sprache kam in der Werbung aber nicht nur der an den neuen Zeitgeist gebundene innovative Charakter der Bozner Rasierklinge, sondern ebenso die große Sorgfalt, mit welcher der Stahl ausgewählt und zu einer Klingenscharfe weiterverarbeitet wurde, dank der eine erhöhte Wirksamkeit und eine längere Verwendbarkeit der Bozner Klingen gewährleistet war. „Lama Bolzano wurde somit zu einem allseits bekannten Markennamen“ – so wiederum Bonoldi und Zappetti – „der gewissermaßen beim breiten Publikum für einen erhöhten Bekanntheitsgrad der Bozner Stahlwerke sorgte - einem Industriebetrieb, der sonst nur den einschlägigen Fachleuten ein Begriff geblieben wäre.“