Politica | Ein Blick hinter die politische Fassade Marokkos

Revolutionäre Trippelschritte

Zwei Jahre nach dem Beginn der arabischen Revolutionen wird der Streit der Standpunkte zunehmend gewaltsam ausgetragen: Säkulare Linke und Islamisten, die beiden Hauptakteure des Umsturzes, liefern sich Straßenschlachten in Kairo, während in Tunis gar ein Anführer der linken Volksfront auf offener Straße erschossen wird. In Marokko hingegen koalieren Islamisten und Ex-Kommunisten, und regieren gemeinsam seit über einem Jahr. Ein marokkanischer Sonderweg? Oder ein mögliches Vorbild auch für andere arabische Staaten?
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Lahcen Sabirs Hand zittert leicht, wenn er seine Zigarette zum Mund führt, auch während er mit seinen Mitstreitern scherzt, und sich von Marrakeschs Frühlingssonne wärmen lässt. Er ist Oppositioneller, sein Leben lang schon. Weil er Mitglied in einer verbotenen marxistischen Partei war, hat er mehr als acht Jahre im Gefängnis verbracht, in den bleiernen 1970ern Jahren der Herrschaft Hassan II., als Marokko noch eine absolute Monarchie war.

Heute sitzt er im Garten des Marrakescher Büros des Nationalen Menschenrechtsrates, dessen Mitglied er ist, und lässt sich von seinen Freunden aufziehen: „Vom Staatsfeind zum respektablen Verfassungsorgan, nicht schlecht!“ Doch wer hat sich gewandelt, er oder das marokkanische Regime? „Beide“, meint Mustapha Laarissa, der Vorsitzende des Menschenrechtsrates in Marrakesch. „Die Machthaber haben verstanden, dass sie keine Wahl haben, als die Macht zu teilen und sich anzupassen, wenn sie überleben wollen. Und wir Linke haben kapiert, dass die Menschen sich nicht von unseren großartigen Parolen ernähren können, sondern dass Wandel nur schrittweise möglich ist.“ 

Die Institution des Menschenrechtsrates zeigt anschaulich, auf welche Art Marokko diesen Wandel versucht: Es ist ein gegenseitiges Sich-an-der-Nase-Herumführen, ein So-Tun-Als-Ob, bei dem am Ende, fast unbeabsichtigt von beiden Seiten, kleine Fortschritte herauskommen. „Der König hat den Menschenrechtsrat eingeführt, um gut dazustehen, als ob ihm etwas daran läge, die Menschenrechte zu respektieren“, resümiert Yassin Adnan, ein weiterer Aktivist, Fernsehjournalist und Literaturkritiker im Zivilberuf. „Für uns war in den 1990er Jahren der Deckmantel der Menschenrechte die einzige Möglichkeit, um politisch aktiv zu sein. Am Ende haben wir einiges bewirkt, obwohl sowohl für uns als auch für das Regime die Menschenrechte ursprünglich nur Fassade waren.“

Vielleicht entspricht diese Lesart auch der politische Entwicklung der letzten zwei Jahre: Als im Februar 2011 der arabische Frühling auf Marokko überschwappte, und Tausende auf den Straßen tief greifende Reformen forderten, da reagierte der seit 1999 amtierende König Mohammed VI. blitzschnell so, als ob er nur darauf gewartet hätte: Er versprach eine Verfassungsreform, Neuwahlen, eine konstitutionelle Monarchie. Gewiss, viele Beobachter meinten und meinen, er handle nach der Maxime des Tancredi in Tomasi di Lampedusas „Leoparden“: „Damit alles so bleiben kann, wie es ist, muss sich alles ändern.“ Doch Marokkos Reformer nahmen ihn beim Wort, so, als ob sie ihm seinen Willen zum Wandel abkauften. Zwei Jahre später gibt es eine neue Verfassung, und die Islamisten des PJD, der „Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung“, regieren zum ersten Mal in der Geschichte Marokkos. Und: Sie koalieren mit den Ex-Kommunisten des PPS, der Partei des Fortschritts und des Sozialismus.

Die Islamisten kämpfen derzeit vor allem mit ihrem eigenen Mangel an Regierungserfahrung, aber sie stellen keine Maximalforderungen auf, sie wollen die Gesellschaft nicht islamisieren. „Wozu auch, in Marokko sind doch alle schon Muslime!“, meint Rachid Harimi, Regionaldirektor des PJD in Marrakesch, halb ernst, halb schalkhaft. „Wir sind angetreten, um Reformen auf den Weg zu bringen, wir wollen den Bürgern zu Freiheit, Brot und Wohnungen verhelfen, ob sie Muslime sind oder nicht. Was hätten wir davon, wenn wir alle bekehrten, aber die Leute nichts zu essen hätten?

Nun fällt es Marokkos Islamisten leicht, sich als Demokraten zu geben, der Gewaltenteilung und dem Pluralismus verschrieben, da sie anders gar nicht können: Eingehegt sind sie und werden kritisch beäugt, von König Mohammed VI. auf der einen, und der Opposition auf der anderen Seite. Ihr Gebaren gehört zu einem weiteren marokkanischen Als-Ob, dem Als-Ob des Pluralismus.

Marokko betont heute seine Andersartigkeit, als ein berbero-arabisches Land der kulturellen, sprachlichen, religiösen Vielfalt. Der König, Mohammed VI., fördert den Sufismus, erkennt die Berbersprache Tamazight als Staatssprache an, so, also ob ihm am Pluralismus als Wert an sich läge. Zyniker lesen eine kluge Strategie in seine Schachzüge: In der religiösen und kulturellen Vielfalt wird keine Gruppe stark genug werden können, um die Monarchie infrage zu stellen. Mag sein. Zugleich aber entsteht eine politische Kultur, die Marokko zum Vorteil gereicht.