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Natur als Fundament

Die Ausgabe 149/150 der Zeitschrift Kulturelemente beschäftigt sich mit dem Thema Wald. Zum heutigen "Tag des Waldes" ein Gastbeitrag der Autorin Ariane Benedikter.
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Foto: Salto.bz

Tityre tu patulae recubans sub tegmine fagi,
Silvestrem tenui musam meditaris avena;
Nos patriae finis et dulcia
Linquimus arva…
Vergil, Bucolica 1,1

Tityrus, du liegst zurückgelehnt unter dem Laubdach einer breitästigen Buche und übst versunken auf der dünnen Rohrpfeife ein Lied; wir aber verlassen das Gebiet und die lieben Fluren der Heimat. Wir werden aus der Heimat vertrieben…

Es ist ein heißer Sommertag. Ich liege in einer Hängematte. Ich betrachte die Umgebung um mich – den großen Garten meiner Großeltern in Sand in Taufers, die großen Felder, die vielen Bäume. Auch die Silbertanne und den Kirschbaum, zwischen denen meine Hängematte gespannt ist. Grillen zirpen, Blumen blühen. Ich atme die wärmende Sommerluft ein. Die Blätter der Bäume spenden schützenden Schatten. Ein leichtes Lüftchen streift durch sie hindurch. Gelassen schaue ich zu den hohen Bergen rund um mich. Momente der totalen Ruhe, Augenblicke der florierenden Inspiration. Tage wie diese waren mit die schönsten meiner Kindheit. Meine Verbundenheit zur Natur findet wohl dort ihren Ursprung.

Vergil sagt indirekt, der Wald sei eine Muse. Und so ist es auch. Laubbäume, die in allen Grüntönen leuchten, den Wald durch das Verfärben der Blätter bunt machen. Nadelbäume, die im Winter unter Schneedecken glitzern. Sträucher voll mit Waldbeeren. Eichhörnchen und andere Tiere, die vorbei huschen. Ein idyllischer Ort, an dem alles in Ordnung zu sein scheint. Die Atmosphäre der Ruhe und des Geerdet-Seins, die Wälder ausstrahlen, habe ich immer schon genossen. Bei langen Waldspaziergängen die große Vielfalt und Individualität eines einzigen Waldes wirken lassen, die Suche nach Waldbeeren und das Bauen von Mooshäuschen aus abgebrochenen Ästchen. Auch das sind wundervolle Kindheitserinnerungen.

 

Zwischen Beruf, Studium und Verpflichtungen haben wir im Alltag Stress. Wir hetzen hektisch von einem Termin zum nächsten in unserer schnelllebigen Welt. Es geht darum, alles effizient und in möglichst kurzer Zeit zu erledigen. Der Kosten-Nutzen-Aufwand ist – für manche bewusster, für andere unbewusster – ein zentraler Begriff in unserer Gesellschaft. Wir sehen das als rational an, was am meisten Profit in am wenigsten Zeit bringt. Immer und überall sind wir vernetzt durch das Internet. Vor unseren Bildschirmen können wir in parallele Realitäten abtauchen. Auf sozialen Netzwerken konstruieren wir Persönlichkeiten, die wir im wirklichen Leben gar nicht sind. Erfahrungen sind zunehmend digital geprägt. Reale Erfahrung verliert an Bedeutung. Digitale Eindrücke lassen uns vom Boden abheben. Und das gilt nicht nur für meine Generation der 2000er.

Viele von uns haben mittlerweile oft die Wahrnehmung, die Natur sei etwas Externes, Distanziertes. Das stimmt aber nicht. Wir sind alle ein Teil von ihr und können nur in Symbiose mit ihr leben. Zuerst waren Mensch und Natur eins. Dann scheint der Mensch sich zunehmend abgesondert und den Bezug zu seiner eigentlichen Heimat vermehrt verloren zu haben. In gewisser Weise sind wir „aus unserer Heimat Geflohene“ oder „Vertriebene“, wie es Vergil in seinen Bucolica ausdrückt. Wir müssen uns bewusster erinnern, wie stark wir mit der Natur verbunden sind. Das ist die Lehre von Plant-for-the-Planet, von FridaysForFuture und von Extinction Rebellion – drei sehr unterschiedliche Gruppen, in denen Jugendliche heute für die Rettung der Umwelt aktiv werden.


Die Mobilisierung der Jugend, zumindest in den globalen Demokratien, hat ihre Gründe. Vor allem wir jungen Menschen wachsen zwar in einer technologischen Welt auf, aber nichtsdestotrotz spüren wir durch die Umweltfrage das Zusammengehörigkeitsgefühl von Natur und Mensch gezwungenermaßen wieder stärker. Die vielen jungen Menschen, die bei weltweiten Umweltprotesten auf die Straße gehen, sind dafür nur ein Beispiel. Doch auch in anderer Form stehen immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene für den Umweltschutz ein. Beim Engagement für die Natur spielt der Wald wiederum eine tragende Rolle. Bäume und Wälder sind nämlich die Lunge der Erde. Sie bilden nicht nur die Grundlage des Ökosystems, sondern speichern und wandeln durch Photosynthese das schädliche Treibhausgas Kohlenstoffdioxid (CO2) in den überlebenswichtigen Sauerstoff (O2) um. Mit dem Pflanzen von 1.000 Milliarden Bäumen zusätzlich zu den bereits in Wäldern vorhandenen Bäumen würde ein Viertel der menschengemachten CO2-Emissionen aus der Erdatmosphäre gezogen. Diese Anzahl an Bäumen wird erreicht, wenn jeder heute lebende Mensch in seinem Leben 150 Bäume pflanzt. Dadurch könnten wir die Erderwärmung verlangsamen und wertvolle Zeit gewinnen. Denn wenn uns das nicht gelingt, werden noch viel mehr Menschen „aus ihrer Heimat Vertriebene“, aber in einem viel weniger übertragenen Sinn. Denn halten wir die Klimakrise nicht in Grenzen, werden viele Gebiete der Erde unbewohnbar. Das resultiert dann in Abermillionen Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, den sogenannten Klimaflüchtlingen. Manche konservative Wissenschaftler gehen heute von mehr als 200 Millionen Menschen aus, andere – wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) oder die Cornell University – von bis zu 2 Milliarden, die es treffen könnte, wenn wir die Erderwärmung nicht in Grenzen halten. Der Wald ist also fundamental für den Menschen in jeder Hinsicht. Aber Hysterie bringt auch nichts. Gerade in der Umweltfrage ist ein geerdeter Geist essentiell, kombiniert mit gezielter Aktion.

Deswegen gilt: zurück zu einem unter der Buche ruhenden Tityrus, zurück zu natürlichen Erfahrungen, zurück zur Natur. Zum Beispiel, indem wir in den Wald gehen und bewusst die Stimmung dort erleben. Das kann ein wesentlicher Ausgleich zur Hektik unserer mehr und mehr urbanisierten Welt sein.