Economia | Interview

“Wir leben in einem Kartenhaus”

Als HGV-Gebietsobfrau verurteilt Marina Rubatscher Crazzolara das Verhalten des positiv auf Corona getesteten jungen Mannes – und macht sich zugleich mehrerlei Sorgen.
Marina Rubatscher Crazzolara
Foto: Handelskammer Bozen

Von einem Super-GAU zu sprechen wäre wohl vermessen. Dennoch schlägt der Fall des positiv auf das Coronavirus getesteten Tourismusfunktionärs, der sich nicht an die Quarantäne-Vorschriften gehalten hat, weit über die Gadertaler Gemeinde Abtei hinaus Wellen. Der 24-Jährige hat inzwischen seinen Rücktritt eingereicht – auch auf Drängen von Marina Rubatscher Crazzolara. Rubatscher Crazzolara ist HGV-Gebietsobfrau im Gadertal, führt selbst einen Tourismusbetrieb in St. Kassian und sitzt für die Bürgerliste Deburiada im Gemeinderat von Abtei.

N.B.: Dieses Interview wurde am Dienstag (21. Juli) Nachmittag geführt, bevor die Nachricht vom Ergebnis des zweiten Corona-Tests des 24-jährigen Mannes bekannt wurde. Dieses fiel negativ aus.

salto.bz: Frau Rubatscher Crazzolara, wie ist momentan die Stimmung im Gadertal?

Marina Rubatscher Crazzolara: Ich möchte eines vorausschicken: Ich bin Gebietsobfrau des HGV im Gadertal und obwohl ich auch Mitglied im Tourismusverein von Abtei bin, habe ich es immer bevorzugt, dort nicht auch mit tätig zu sein. Denn diese Doppelfunktionen führen oft dazu, dass man bei bestimmten Anlässen nicht genau weiß, auf welcher Seite man steht. Man sitzt immer zwischen zwei Stühlen. Deswegen ist es für mich immer wichtig, dass ich eine Funktion habe, in der ich die Sachen auch sehr direkt ansprechen kann, ohne einen Gewissenskonflikt zu haben.

In meiner Funktion als Gemeinderätin habe ich mit dem Bürgermeister noch kein Gespräch geführt – die nächste Gemeinderatssitzung findet erst kommenden Mittwoch statt. Als HGV-Gebietsobfrau hingegen sehr wohl mit dem Tourismusvereinspräsidenten von Abtei und Corvara sowie mit den HGV-Ortsobmännern, die aber ja gleichzeitig auch im Tourismusverein in irgendeiner Funktion innehaben. Die Stimmung ist nach wie vor sehr angespannt. Obwohl sie schon ein bisschen anders ist.

Wie erleben Sie die Bevölkerung vor Ort?

Am Anfang habe ich eher Ärger wahrgenommen, und Ungläubigkeit, dass so etwas passieren kann. Viele sind nach wie vor zornig, aber inzwischen schwingt bei einigen Mitleid mit, man hört etwas menschlichere Töne. Im Sinne von: “Na, der Arme, was macht er jetzt, er kann sich fast nicht mehr auf die Straße trauen, wie wird sein Leben nach diesem Vorfall weitergehen.” Alles hängt aber davon ab, wie die weiteren Testreihen ausfallen.

Sie sprechen von den Tests der Kontaktpersonen des jungen Mannes?

Genau, jener Personen, die in Quarantäne sind. Es ist eben schon ein großer Unterschied, ob ich als positiv Getesteter mich nicht an die Quarantäne halte und andere Personen infiziere und diese danach krank sind oder ob diese Personen in Quarantäne sind, danach aber zum Glück negativ getestet werden. Die erste Serie ist negativ ausgefallen, morgen (heute, Anm.d.Red.) werden wir die Ergebnisse der zweiten erfahren. Wenn auch diese negativ ausfällt, was hier natürlich alle sehr, sehr hoffen, dann muss man schon sagen, dass wir zumindest aus gesundheitlicher Sicht mit einem blauen Auge davon gekommen sind.

Wenn du mit 24 Jahren schon eine Funktion im Tourismusverein bekleidest, macht das das Ganze noch inakzeptabler und fahrlässiger

Wie haben Sie selbst davon erfahren, was passiert ist?

Das war am Freitag. Die Hüttenwirtin hat mich telefonisch kontaktiert und auf diesen Zwischenfall hingewiesen. Am Samstag habe ich mit der betroffenen Familie telefoniert, zuerst mit der Mutter, dann mit dem jungen Mann.

Wie haben Sie ihn erlebt?

Er hat seinen Fehler eingesehen, die Tragweite erst in einem zweiten Moment erkannt und ich habe gespürt, sowohl er als auch die Eltern moralisch wirklich sehr bedrückt sind. Ich habe ihm einen Ratschlag nahegelegt: Steige jetzt zumindest mit etwas Charakter aus, zeige Größe in diesem Moment und reiche effektiv die Kündigung ein. Er hatte darüber bereits nachgedacht, war am Zweifeln. Ich habe ihm gesagt, die Kündigung ist jetzt ein logischer Folgeschritt, die Leute erwarten sich das von dir. Und ich denke nicht einmal eine Stunde später hat er diesen Schritt dann auch gesetzt.

Sofort nachdem die Nachricht medial verbreitet wurde, ging insbesondere in den sozialen Medien eine heftige Diskussion los. Der junge Mann wurde für sein Verhalten verurteilt und zum Teil auch beschimpft. Finden Sie die Reaktionen verhältnismäßig?

Teils, teils. Ich könnte nicht sagen, dass jede Reaktion falsch war. Für mich ist dieser Vorfall, wie für die Verantwortlichen in HGV und Tourismusverein, nach wie vor inakzeptabel. So etwas darf einfach nicht passieren. Nicht, nachdem sich drei Monate lang wirklich jeder an bestimmte Vorschriften gehalten, auch einen wirtschaftlichen Schaden eingefahren hat und den auch weiterhin haben wird. Wir leben jetzt in einem Kartenhaus, das, wenn nur einer sich falsch bewegt, zusammenfällt.

Ich traue mich zu sagen, so eine Verantwortungslosigkeit hätte überall passieren können. Natürlich ist es in der öffentlichen Wahrnehmung noch einmal schwerwiegender, wenn du mit 24 Jahren schon eine Funktion im Tourismusverein bekleidest. Das macht das Ganze noch inakzeptabler und fahrlässiger. Aber was mich an den ganzen Reaktionen gestört hat, war einfach schon gleich diese Schwarzmalerei und Panikmache. Man hat die Sachen so dargestellt als ob jetzt wieder ein Lockdown bevorstehen würde oder dass jetzt weiß Gott wie viele Personen schon auf der Intensivstation liegen würden. Es wurde viel konstruiert – ich habe immer geantwortet, warten wir erst einmal ab, was die Tests ergeben.
Aber ich habe einmal mehr gesehen, wie schnell viele Leute gleich gehässig werden, man fühlt sich hinter der Tastatur sicher und haut einfach auf irgendjemanden drein.

Die Mitglieder des Tourismusvereins erwarten sich Konsequenzen bei der Führungsriege

Sie kennen den jungen Mann und seine Familie persönlich?

Ich kenne ihn aus seiner Oberschulzeit. Er hatte das Glück, gleich diese leitende Stelle im Tourismusverein einzunehmen und führte im Moment sicherlich ein sehr glückliches und unbeschwertes Leben. Das macht es für ihn vielleicht noch einmal schwieriger, das Ganze zu akzeptieren. Meine Tochter ist im gleichen Alter und wenn ich mich in die Lage dieser Mutter versetzen muss… Im Moment geht es ihm ja noch halbwegs gut, er hat sein Handy ausgeschaltet, schaut nicht in die sozialen Medien, ist in Quarantäne, bekommt also relativ wenig mit davon, was sich in der Außenwelt abspielt. Aber wenn die Quarantäne einmal zu Ende ist und er wieder ein normales Leben führen kann, wird er erfahren, wie wenig normal sein Leben danach ist. Werden die sozialen Kontakte wegbrechen, wird man ihn meiden, weiterhin mit dem Finger auf ihn zeigen? Wo findet er demnächst eine Arbeit, wer nimmt diesen jungen Mann auf? Abgesehen von der ganzen zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen, die ihm drohen – ich spreche aus der menschlichen Sicht. Bitte, noch einmal: Das ist keine Entschuldigung für sein Verhalten. Aber eine Darstellung der Situation. Gerade weil hoffentlich – ich drücke immer noch die Daumen – gesundheitlich nichts passiert ist, tut es mir umso mehr aus menschlicher Sicht ihm gegenüber Leid. Ich verspüre Mitgefühl, aber entschuldige nicht sein Verhalten. Das muss klar sein.

Sie führen selbst einen Tourismusbetrieb im Gadertal. Haben Sie bereits Stornierungen oder Rückfragen von Gästen erhalten?

Nein, absolut nicht. Die einzige Episode habe ich mit Gästen erlebt, die in einem anderen Hotel in einem anderen Dorf untergebracht waren und auf einer Wanderung durch St. Kassian zu Besuch gekommen sind. Sie waren ein bisschen schockiert, weil die Gastwirtin einer Schutzhütte ihnen von dem Geschehenen berichtet hatte. Aufgrund dieser Aussage habe ich mich gleich mit dem Tourismusvereinspräsidenten in Verbindung gesetzt und ihn gebeten, sofort eine E-Mail an alle Mitglieder zu verschicken. Es geht nicht darum, das Ganze unter den Teppich zu kehren, sondern darum, dass man keine Schmutzpropaganda betreibt, die einem schädlich zugute kommt. Sie ist schädlich für dich selbst als Betrieb, aber nicht nur, sondern für die gesamte Region und im Endeffekt für ganz Südtirol. Dass muss man auch bedenken. Denn das, was da passiert, wird Konsequenzen für das gesamte Land haben. Das gilt es zu vermeiden, denn als HGV und auch als Tourismusverein haben wir uns in den letzten Monaten wirklich sehr, sehr bemüht, um unsere Mitglieder darauf hinzuweisen, dass die Schutzmaßnahmen wichtig sind.

Fürchten Sie eine Stornierungswelle?

Sicher, es hat Stornierungen gegeben. Aber die halten sich in einem bestimmten Rahmen und ich kann nicht die Hand ins Feuer dafür legen, dass es die nur wegen diesem Vorfall gegeben hat. Klar, jede Stornierung tut dem Betrieb weh, aber es ist nicht so, wie in einigen Medien geschrieben wurde, dass wir jetzt eine Stornowelle erleben. Das stimmt nicht. Was vielleicht zu beobachten sein könnte, aber das ist schwer einzuschätzen, ist, ob die Anzahl der Anfragen nachlässt. Das wird sich in der nächsten Zeit herausstellen.

Das, was da passiert, wird Konsequenzen für das gesamte Land haben. Das gilt es zu vermeiden

Wie gehen die Touristiker vor Ort mit dem Vorfall um?

Die Mitglieder des Tourismusvereins erwarten sich Konsequenzen bei der Führungsriege. Darüber hinaus haben Tourismusverein, HGV und IDM eine Krisensitzung organisiert, um den Fall zu bearbeiten. Die Zusammenarbeit mit der IDM ist wichtig, um die mediale Berichterstattung abzuwenden. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist richtig, dass darüber berichtet wird. Aber es gilt, bestimmte Headlines zu vermeiden. Die Arbeiten laufen auf Hochtouren, um das Ganze zum Wohle des Tourismus im ganzen Land flach zu halten. Eine Task Force im Tourismusverein hat sich dem Ganzen angenommen, unter anderem um festzustellen, inwiefern Vorgesetzte Bescheid wussten. All diese Details gilt es aufzuarbeiten, wenn die Gesundheit der Personen abgesichert ist.

Die folgenschweren Konsequenzen, die das Verhalten eines einzelnen haben wird bzw. werden könnte, scheinen sowohl vom HGV als auch vom Tourismusverein sehr ernst genommen zu werden.

Absolut. Bis vor ein paar Tagen vor dem Vorfall war ich noch mit HGV-Bezirksobmann Thomas Walch im Gespräch, der mich gebeten hat, zusätzliche Sensibilisierungsarbeit bei den Mitgliedern durchzuführen. Auch, indem man die Bürgermeister anruft und vielleicht Kontrollen forciert und Stichproben macht, ob sich unsere Betriebe schon an die Regeln halten. Wieso? Weil es immer wieder auch in sozialen Medien geheißen hat, wir waren auf irgendeiner Wanderung, Gäste tragen einen Mund-Nasen-Schutz, aber die Einheimischen nicht. Deshalb haben wir gesagt, Achtung, wir müssen aufpassen, denn da könnte leicht etwas passieren. Nur wenige Tage zuvor haben wir darüber gesprochen, wie wir die Mitglieder sensibilisieren können, weiterhin aufzupassen, damit ja nichts passiert… Dann ist eben dieser Fall passiert. Am Montag sind wir als HGV zusammengekommen und haben festgestellt, dass uns dieser Vorfall – damit meine ich die gesamte Südtiroler Hotellerie und Touristiker – wieder ein bisschen wachgerüttelt und vor Augen geführ hatt, dass wir einfach weiterhin aufpassen und für Sicherheit sorgen müssen. Der Gast erwartet sich das.

Speziell der italienische Gast, insbesondere wenn er aus der Lombardei oder dem Veneto kommt, ist in dieser Beziehung sehr, sehr pflegeleicht, er ist sogar noch vorsichtiger als es eigentlich bräuchte. Diese Gäste sind sozusagen gebrannte Kinder und haben es lieber, wenn man ein bisschen mehr Sicherheit gewährt als weniger.

Die Lehren aus dem Ganzen?

Für uns war das eine Horrorgeschichte. Aber ich denke schon, dass die Südtiroler Bevölkerung allgemein jetzt wieder aufpasst – vielleicht noch mehr als es bisher der Fall war. Zumindest hoffe ich das. Dass sich so ein Vorfall nicht noch einmal wiederholt.