Cultura | Salto Afternoon

Farbenfrohe Grauzone Prokulus

Die bekannten Fresken im Kirchlein St. Prokulus in Naturns sind doch nicht so alt wie angenommen. Was heißt das für die Wissenschaft und den Prokulus-Tourismus?
Prokulus 2
Foto: Renate Ranzi

Die im Bildungshaus Schloss Goldrain durchgeführte wissenschaftliche Tagung St. Prokulus brachte jede Menge neue Erkenntnisse. Ein Gespräch mit dem Tagungsleiter Günther Kaufmann.

salto.bz: Handelt es sich bei den Fresken im St.-Prokulus-Kirchlein um die »ältesten Fresken im deutschen Sprachraum«?
Günther Kaufmann: Dies ist in gewissem Sinne historisch zu sehen und zu beantworten. In der Zwischen- und Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts war es für die Südtirol Bevölkerung von äußerster Wichtigkeit, einen Bezug zum deutschen Sprachraum herzustellen und die eigene Identität in diesem darzustellen. So kam es zu dieser Behauptung. Heutzutage ist es nur mehr ein Marketing-Slogan, der so eigentlich nie stimmte, denn als die vorromanischen Fresken gemalt wurden, unabhängig von einer Datierung ins 7., 8., 9., 10. oder 11. Jahrhundert, war der Vinschgau nie deutscher Sprachraum, sondern romanischer. Und andererseits sind die ältesten Fresken des heutigen deutschen Sprachraums nicht frühmittelalterlich, sondern römerzeitlich, es gibt zuhauf römische Fresken in Köln, Xanten, in der Schweiz, aber auch in Südtirol.

Heutzutage ist es nur mehr ein Marketing-Slogan

Dennoch streiten sich Wissenschaftler, ob die Malereien an den Kirchenmauern aus dem 7. oder 8. Jahrhundert n. Chr. stammen? Was spricht dafür? Was dagegen?
Bei der Tagung gab es durchaus leicht abweichende Stellungnahmen seitens der Kunsthistoriker. Fabrizio Crivello vertrat aufgrund von Vergleichen mit der Buchmalerei die Möglichkeit einer Datierung der Fresken des Triumphbogens noch ins 8./9. Jahrhundert und jener des Kirchensaales nicht vor dem Ende des 9. Jahrhunderts. Matthias Exner datiert aufgrund von Vergleichen mit Wandmalereien alle vorromanischen Malereien ins 10. Jahrhundert. Die Datierung wird nun aber durch die Bauanalyse und die Radiokarbondatierungen (C14-Methode) präzisiert. Martin Mittermair hat in seinem Referat die Daten vorgestellt. Die C14-Daten sind zwar nicht so genau, sie haben noch immer eine gewisse Schwankungsbreite, und zu dem kommt der nicht zu bestimmende Altholzeffekt, da die datierte Holzkohle aus dem viel älteren Innern eines Baumstammes stammen kann und somit ein um x Jahre älteres Datum vorgibt als es wirklich ist. Dieser Altholzeffekt kann nur wenige Jahre betragen, aber auch schnell 50 oder 100 Jahre. Ein Datum aus der Nordwand (660-820) bedeutet, dass die Kirche frühestens 660-880 plus x Jahre gebaut worden sein kann. Die Holzlade in der Südwand (890-930 + x) ergibt ein Datum für die Rankenmalereien in der Fensterlaibung. Eine Datierung ins 7. Jahrhundert ist damit auszuschließen und zumindest die Malerei in der Fensterlaibung ist ins 10. Jahrhundert zu datieren.

Es gibt auch neue archäologische Erkenntnisse. Was können sie darüber berichten.
Geradezu revolutionär ist die Erkenntnis, dass auf einen römischen Friedhof ein frühmittelalterliches Haus, ein frühmittelalterlicher Friedhof und wahrscheinlich erst dann die Kirche folgte. Gerade für die Abfolge „römischer Friedhof – frühmittelalterliches Haus“ gibt es derzeit keine Vergleiche. Mithilfe der durch die Stiftung Südtiroler Sparkasse und die Marktgemeinde Naturns geförderten C14-Daten konnte im Referat von Hans Nothdurfter und mir die Belegungsabfolge des Friedhofes genau nachgezeichnet und wiederlegt werden, dass im Innern der Kirche frühmittelalterliche Fußböden und Chorschranken noch vorhanden waren. Im Kircheninnern sind nur mehr spätmittelalterliche Architekturelemente vorhanden.

Die Originalität der Fresken, z. B. die Darstellung des sogenannten „Schauklers“, der Engel oder der Tierherde, ist einmalig.

Muss die Geschichte um die Fresken der Kirche St. Prokulus neu geschrieben werden?
Ja, die vorromanischen Fresken sind nun jünger, sie sind erst dem späten Frühmittelalter – anstatt dem frühen – zuzuweisen. Und die gotischen Fresken wiederum sind älter als bisher geglaubt, schon ab 1320-1325 anzusetzen, wie Leo Andergassen in seinem Referat vorgeschlagen hat.

Woher rühren die falschen Annahmen zur Datierung der Fresken?
Für das Frühmittelalter gibt es nicht viele Vergleichsmöglichkeiten, weil eben nicht viel erhalten geblieben ist. Da tut sich die Kunstgeschichte schwer mit Datierungen.

Was macht die Fresken dennoch einmalig?
Die Fresken von Naturns gehören sicher zu den am besten erhaltenen Fresken des Frühmittelalters. Die Originalität der Fresken, z. B. die Darstellung des sogenannten „Schauklers“, der Engel oder der Tierherde, ist einmalig.

Was heißt das für Naturns und den Tourismus? Die Fresken haben viele Besucher angelockt…
Es werden weiterhin viele Besucher nach Naturns kommen, die Einmaligkeit der Fresken zu bewundern. Neben der Kirche hat die Marktgemeinde Naturns das Prokulus Museum, welches die Geschichte der Kirche eindrücklich beschreibt, vom frühmittelalterlichen Haus bis zum Pestfriedhof von 1636.