Politica | Zwei Umfragen

Die Angst vor der Angst

Wie vertrickst das neue Wahlgesetz auch sein mag: Die Umfragen zeigen, dass Italien auf die Unregierbarkeit zusteuert. Mit welchen Konsequenzen, wird sich noch zeigen.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
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Foto: Masken, Venedig, Fasching

Die Ergebnisse politischer Meinungsumfragen sind mit Vorsicht zu genießen, wie sich zuletzt bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl zeigte. Trotzdem lassen sich aus ihnen oft reale Tendenzen ablesen. Da auch die politisch Handelnden Umfragen lesen und daraus manchmal  sogar Schlüsse ziehen, können Umfragen zur Entstehung neuer Fakten beitragen.

Ein solches „hartes“ Faktum entstand, als die Verabschiedung des Ius soli-Gesetzes, das Hunderttausenden in Italien aufgewachsen Jugendlichen „mit Migrationshintergrund“ die Chance zur schnellen Einbürgerung geben sollte, vor einigen Wochen von der Tagesordnung des Senats gestrichen wurde. Letztliche Ursache: Der Wind der öffentlichen Meinung hat sich gedreht, was die Meinungsforscher belegen: Lag die Zustimmung zum Ius soli 2014 noch bei 80 %, so ist sie heute auf 52 % gesunken. 48 % sind also dagegen. Nun erklärte Alfano, seine Senatsfraktion werde die Verabschiedung nicht mittragen. Auch von der 5-Sterne-Bewegung, die sich früher einmal nachdrücklich für den Ius soli einsetzte, ist keine Hilfe zu erwarten: Casaleggio, der politische Ziele unter Marketing-Gesichtspunkten auswählt, wies die Senatsfraktion an, sich zu enthalten (was im Senat Ablehnung bedeutet). Da fiel auch der letzte Dominostein: Die Fraktionsführung der PD nahm das Gesetz von der Tagesordnung (sie hätte es mit der Vertrauensfrage verbinden müssen und damit den Regierungssturz riskiert, muss aber vor Jahresende noch unbedingt das Haushaltsgesetz 2018 durchbringen…).

 

Das Gespenst der Angst

Vor Kurzem schilderten wir in diesem Blog die Welle der Xenophobie, die gegenwärtig über Italien hinweggeht. Am 13. September brachte die „Repubblica“ das neueste Ergebnis einer Demos-Umfrage zum Thema Angst vor Immigranten. Da Demos diese Frage seit 18 Jahren stellt, ist ein Langzeitvergleich möglich. Fazit: Der Anteil derer, die diese Angst bejahen, hat sich in den vergangenen fünf Jahren fast verdoppelt: Waren es Ende 2012 nur 26 %, welche in den „Immigranten eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und die persönliche Sicherheit“ sehen, sind es in diesem September 46 %.

Dass die geäußerte Furcht vor Immigranten in erster Linie die „gefühlte“ Angst dokumentiert, die mit der Realität wenig zu tun haben kann, ist bekannt (in Deutschland ist sie bekanntlich dort am größten, wo die wenigsten Immigranten sind). Zwar hat das Ansteigen der „Angst“ in Italien auch einen objektiven Hintergrund, nämlich die Zunahme der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen. Aber obwohl es Minniti schaffte, diesen Zustrom im Sommer durch seinen Deal mit der libyschen Küstenwache erst einmal zum Rinnsal zu machen, stieg die „Angst“ bis September weiter (um 6 Punkte auf 46 %) – der Hauptgrund ist die Hysterie, die mittlerweile von der gesamten Rechten (Grillo und Di Maio inklusive) und teilweise auch von den Medien geschürt wird.

So selektiv die Wahrnehmung der Gründe ist, aus denen sich die gefühlte „Furcht“ vor den Immigranten nährt, so irrational ist das daraus Gefolgerte. Aus der Vergewaltigung von Rimini abzuleiten, dass man den Kindern von Immigrantenkindern, die in Italien geboren sind oder zur Schule gingen, nicht mehr automatisch die Staatsbürgerschaft geben dürfe, ist bar jeder Vernunft. Wenn es für die Rechtssicherheit etwas zu fürchten gibt, dann das Entstehen einer Parallelgesellschaft, die sich aus Menschen minderen Rechts rekrutiert.

Bisher gehörte zur Identität der PD das Eintreten für Menschenrechte. Nun ist es ein PD-Minister, der das „Problem“ der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen, damit aus der Welt schafft, dass diese (unter dem Beifall Europas und Deutschlands) in libysche Lager verbracht werden, wo sie ausgeplündert, gefoltert, vergewaltigt und getötet werden. Dass die PD-Führung nun auch noch das Ius soli-Gesetz von der Tagesordnung absetzte, markiert vielleicht den moralischen point of no return.

 

Das Gespenst der Unregierbarkeit

Wenige Tage vor der Veröffentlichung über die „Angst“  erschien in der „Repubblica“ das Ergebnis einer anderen Umfrage. Diesmal war es die Sonntagsfrage: Welche Partei würde man wählen, wenn jetzt Wahl wäre? Spätestens ein halbes Jahr vor der wirklichen Wahl lautet das Ergebnis: 26,8 % würden derzeit die PD, 28,1 % die 5-Sterne-Bewegung (5SB) wählen. Bei der traditionellen Rechten ist die Antwort komplizierter: Salvinis Lega würde 13,6 %, Berlusconis Forza Italia 13,2 % und die ultrarechte FdI-AN 4,8 % bekommen. Auf die Rechte würden also insgesamt 31,6 % entfallen. Links von der PD würden drei Splittergruppen 8 % unter sich aufteilen. Das Überbleibsel des Zentrums, Alfanos Alternativa Popolare, bekäme 2 %.

Wie sich eine solche Stimmenverteilung auf die Zusammensetzung des neuen Parlaments auswirkt, hängt von dem neuen Wahlgesetz ab, das in dieser Woche endgültig verabschiedet werden könnte (wir werden darauf zurückkommen). Aber kein noch so vertrickstes Wahlgesetz könnte wohl verhindern, dass Italien unregierbar wird. Eine große Koalition zwischen PD und 5SB wäre rechnerisch möglich, aber politisch undenkbar, denn für die 5SB ist die PD der Hauptfeind, auch Grillos „Bewegung“ würde an einer solchen Koalition zerbrechen. Ähnliches gilt für ein Zusammengehen der 5SB mit der Rechten: Zwar gibt es Affinitäten zwischen der 5SB und Salvinis Lega, vielleicht würde sich auch Melonis FdI-AN anschließen, aber für eine Regierungsmehrheit wäre auch das zu wenig. Dass Berlusconi, der wichtigste italienische Brückenkopf der Europäischen Volkspartei, im Schlepptau Salvinis dieser Koalition beitritt, brächte ihr zwar die rechnerische Mehrheit, aber würde sein politisches Ende bedeuten. Rechnerisch möglich wäre schließlich auch ein Bündnis von Renzis PD mit der Rechten, politisch jedoch nur mit Berlusconis Forza Italia. Aber selbst wenn es gelänge, dafür den Rechtsblock aufzubrechen, würde es für eine Regierungsmehrheit nicht reichen. Dass Renzi dafür auch noch die Splitter der abgespaltenen Linken ins gemeinsame Boot ziehen könnte, ist politisch auszuschließen.

 

Es bleibt dabei: trübe Aussichten

Was gegenwärtig überall in Italien spürbar ist, zeigen auch diese Umfragen. Die jahrelange Agitation von Salvini bis Grillo gegen die „fremden Invasoren“, die auf die Mischung von Angst und latentem Rassismus zielt, hat gezündet. Die Flüchtlingsfrage ist für die Rechte zur Waffe geworden, um die Regierung Gentiloni vor sich herzutreiben: Diese beginnt schon, Projekte wie z. B. den Ius soli fallen zu lassen. Was sie jetzt vor allem hinterlässt, ist der Eindruck von Schwäche. Eine Figur wie Macron, der vor der französischen Wahl zum Hoffnungsträger wurde, ist in Italien nicht in Sicht. Davon ist dem Land nur ein Buchtitel geblieben: Renzis „Avanti“. Schaut man in das Buch selbst, erweist es sich zumindest in der Flüchtlingsfrage als Dokument der Kapitulation.

Italien droht nicht nur ein Sieg der Rechten, sondern schlimmeres: Unregierbarkeit. Zwar sagen laut Demos 31 % der Befragten, noch unentschieden zu sein oder sich enthalten zu wollen. Man muss an Wunder glauben, um ausgerechnet von ihnen die Rettung zu erhoffen. Es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, was dies für Italien und Europa bedeuten würde.