Società | Familie

„Es sei denn, sie verlieren sich selber“

Über Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen. Eltern, die verlassen werden. Das Schweigen, den Schmerz, die Ratlosigkeit. Und die Chance auf einen Neubeginn.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
Hände im Schnee
Foto: Südtirolfoto/Helmuth Rier

Zuerst erschienen im Tagesspiegel.

Rosi Prömper hat ihren Sohn verloren. Das heißt, eigentlich lebt er noch. Aber ihr ist er verloren gegangen.
Sie hatte sich mit ihrem Sohn verabredet, Mitte zwanzig war er da. Als sie an seiner Wohnungstür klingelte, machte er einfach nicht auf: „Ich hörte ihn drinnen, aber er öffnete die Tür nicht. Ich klopfte, rief seinen Namen und ... er machte die Musik lauter.“
Seitdem stellt ihr Sohn sich tot, sagt Prömper: „Er meldete sich nicht. Also schrieb ich. Ging noch mal hin. Nichts. Ich schrieb wieder und wieder und wieder“, ohne je eine Antwort zu bekommen.
Prömper ist groß gewachsen, hält sich gerade, spricht ein sehr westdeutsches, rheinländisches Deutsch. Erzählt Witze mit ernster Miene. Feiert bald ihren 70., aber könnte auch für 50 durchgehen, faltenlos, die Haare dunkeldunkelrot gefärbt.
Bis heute kennt Frau Prömper weder den Grund noch den Anlass dafür, dass ihr Sohn den Kontakt abgebrochen hat. Sie hat keine Erklärung bekommen. Keine Anklagen, was für eine schlechte Mutter sie sei. Ihr Sohn hat sich einfach selbst aus ihrem Leben genommen.
Keine Vorwürfe, keine Wut, einfach nur: Schweigen. Stille. Keine Antwort. Und jedes Jahr zu Weihnachten für drei Stunden, bei Oma, so tun als wäre alles OK.

Heute leitet Prömper eine Selbsthilfegruppe für Eltern, deren Kinder den Kontakt abgebrochen haben. Seitdem ihre Telefonnummer im Internet zu finden ist, bekommt sie jede Woche mindestens einen Anruf einer Mutter oder eines Vaters, deren Kind sich nicht mehr meldet.

Woran liegt es, wenn Kinder auf einmal den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen? Und stimmt der Eindruck, dass immer mehr Kinder sich von ihren Eltern zurückziehen, dass die Zahl der Kontaktabbrüche zunimmt?
Die Psychotherapeutin Claudia Haarmann ist davon überzeugt. Obwohl es keine offiziellen Zahlen und nur wenig Literatur dazu gibt. „In den Praxen ist das permanent Thema“, sagt sie. Haarmann selbst hat ein Buch über Kontaktabbrüche geschrieben, nachdem immer mehr Eltern und Kinder sich an sie wandten („Kontaktabbruch – Kinder und Eltern, die verstummen“).
„Die meisten Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, lieben ihre Eltern“, sagt Claudia Haarmann. „Lange Zeit sind sie ihren Eltern loyal gegenüber, aber irgendwann haben sie innersubjektiv keine andere Wahl: Sie fühlen sich so bedrängt, so verlassen, so überfordert, dass sie einfach nicht im Kontakt bleiben können, es sei denn, sie verlieren sich selber.“
Dabei sind die Gründe für das plötzliche Verstummen so vielfältig wie die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern: Jede Familie ist ein kleines Universum mit seiner eigenen Schwerkraft, seinen eigenen Spielregeln.
Claudia Haarmann analysiert verschiedene Familienkonstellationen, in denen die Ursachen für Kontaktabbrüche zu finden sind: Wenn Kinder ein Vehikel für ungestillte Sehnsüchte ihrer Eltern werden. Wenn ihnen Halt und Geborgenheit fehlen, wenn sie selbst versuchen, ihre Eltern glücklich zu machen. Oder wenn Kindern ihre Autonomie und Selbstbestimmung verwehrt wird, wenn sie ‚überliebt‘ werden, auf Seiten der Eltern meist unbewusst, gewiss, aber deswegen nicht weniger erstickend.
„Wenn ein Familienklima problematisch ist“, sagt Haarmann, „dann ist das für die Kinder ja erstmal wie gottgegeben, es ist die Normalität, und wird überhaupt nicht angezweifelt. Aber, und das ist einer der Gründe dafür, dass Kontaktabbrüche derart zunehmen, die jetzt erwachsenen Kinder bekommen immer mehr mit, in Partnerschaften oder Freundschaften, außerhalb der Familie, wie sich eine nährende, Geborgenheit und Sicherheit gebende Beziehung anfühlen kann.“
Dazu komme, dass junge Menschen sich immer mehr austauschten, sich informieren, über Psychologie, über therapeutische Ansätze. „Die merken dann irgendwann, dass es da zu Hause doch sehr problematisch zu geht, und auf einmal wird ein Konflikt bewusst, der bis dahin unbewusst war, und gar nicht wahrgenommen werden konnte.“

 

So wie bei Regina Hansen*. Hansen lässt die Anrufe ihrer Mutter „auf den Anrufbeantworter auflaufen“, seit fünf Jahren, sie hebt nicht mehr ab, meldet sich nicht mehr, besucht ihre Eltern nicht.
Regina hat den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen.
Sie schreibt, es sei „die Hölle“ gewesen, „trotz allem“.
Hansen selbst hatte auf Fragen nach ihrer Familie stets geantwortet, „dass alles sehr gut und bilderbuchschön war.“ Bis sie im Jahr 2010 an einer Depression erkrankte, und sich endlich eingestand, dass ihre Kindheit, ihr Elternhaus nicht „bilderbuchschön“ und unbeschwert war. Sondern voller Schläge. Voller seelischer Misshandlungen.
Hansen sagt: „Ich bin in den Augen meiner Eltern niemals gut genug gewesen.“
„Ich erinnerte mich, wie ich von meinen Eltern vernachlässigt wurde, verprügelt, wegen jeder Kleinigkeit - die Peitsche hing griffbereit an der Kellertür. Ich erinnerte mich, wie sie drohten, nachts Heftzwecken zu streuen, damit ich, wenn ich Alpträume habe, nicht mehr störe und zu meinen Eltern laufe...“

„Meine Familie ist gut situiert, nach außen hin sieht alles wunderbar aus, meine Eltern haben sich in der Schule immer sehr engagiert. Doch mir haben meine Eltern ein extremes Schuldgefühl eingeredet, immer wurde mit dem Heim gedroht und ich musste mich nach jeder Prügelattacke bei ihnen entschuldigen, dafür, dass sie mich geschlagen haben.“
Trotzdem ist es für Hansen bis heute schwierig, nicht mehr mit ihren Eltern in Kontakt zu stehen. Einmal sei sie kurz davor gewesen, zurückzugehen, sich zu entschuldigen, sich wieder unterzuordnen. „Aber dann sind da meine Erinnerungen und mein Schmerz und die Trauer, die mir klar machen, ich kann nicht zurück.“
Hansen ist sich zuerst nicht sicher, ob sie ihre Geschichte überhaupt erzählen will. „Ich überlege noch“, schreibt sie in der ersten von mehreren Emails, „ob ich mich wirklich trauen kann, soll, Ihnen bei der Reportage zur Verfügung zu stellen.“
Sie hat Fragen dazu, wie der Tenor des Artikels sein wird: Wird er sich eher auf die Seite der Eltern schlagen, den Kindern die Schuld geben? Werden beide Seite zu Wort kommen?
„Ein Kontaktabbruch ist nie leicht“, schreibt Hansen, „und ich habe ihn nicht so einfach aus einer Laune heraus gemacht, sondern damit ich wieder zur Ruhe komme und heilen kann.“

 

Eine  völlig untypische Geschichte? Oder eine ganz und gar typische?
Für die Psychotherapeutin Claudia Haarmann ist die Erfahrung zumindest des emotionalen Missbrauchs der Kinder durch ihre Eltern nichts Seltenes, Untypisches, Außergewöhnliches. Genauso wenig wie der Umstand, dass das, was von den Kindern als seelische Gewalt erlebt wird, manchen Eltern gar nicht bewusst ist.
„Manche Eltern würden wahrscheinlich sagen, Aber Kind, wir wollten doch nur das Beste für dich, wie kannst du das sagen, wir haben dir doch nie weh tun wollen, wir wollten doch nur, dass du einen guten Platz im Leben findest!“

Diese Taubheit für die Gefühle der Kinder, jedes „Nun hab dich nicht so“, das eine ganze Kindergefühlswelt beiseite wischt, platt macht, unbewusst, aber deswegen nicht minder verletzend, ist einer der möglichen Anfänge, aus denen ein Kontaktabbruch entstehen kann.
Haarmann erinnert sich an einen Traum, den ihr eine Tochter erzählt hat, als sie mit ihrer Mutter zur Beratung kam: „Die Tochter sagte zu ihrer Mutter, ‚Ich träume mein Leben lang folgenden Traum: Wir sitzen im Auto, du, Mama, sitzt auf dem Beifahrersitz, irgendjemand fährt, und ich sitze hinten und brenne. Und du kriegst es einfach nicht mit.’“
„So fühlen sich viele Kinder“, sagt Haarmann.
Für sie ist der Kontaktabbruch wie ein Notsignal, ein Ausdruck der Verzweiflung, eine „bewusste Demontage der Verbindung“, wie es Haarmann nennt, um zum Ausdruck zu bringen, dass diese Verbindung, so wie sie jetzt ist, nicht gut ist für das Kind.

Funkstille, schreibt die Filmemacherin Tina Soliman, der Ausdruck kommt eigentlich aus der Schifffahrt: Es ist die Stille, während der alle anderen Schiffe aufhören zu funken, damit man die Signale des einen in Not geratenen Schiffes hören kann.

 

So wie bei Anja A.
Anja A. wünschte sich als Kind immer eine Mutter, die einfach für sie da wäre. Aber das war ihre Mutter nicht, „das kann sie nicht“, sagt A., „und das kennt sie nicht. Meine Mutter hat als Kind selber genug Dinge erlebt, die sie offensichtlich nicht verarbeitet hat.“
Anja A., ist 39, ihr Lachen hell, die Stimme geht beim Reden rauf und runter. Sie hat heute selbst drei Kinder. Und sich vor eineinhalb Jahren entschlossen, den Kontakt zu ihrer Mutter abzubrechen.
Nachdem ihre Mutter von neuem zu trinken anfing, nach 18 Jahren Abstinenz.
„Meine Kindheit“, erzählt Anja A., „war geprägt vom Alkoholismus beider Eltern, ich bin dann mit 13 ins Heim gekommen, und es war eigentlich immer eine ausgesprochen schwierige Mutter-Tochter-Beziehung.“
Eine untypische Geschichte? Oder eine ziemlich typische? Typisch jedenfalls ist der Schmerz, der so eine Entscheidung begleitet: „Ich stand dann vor der Frage, muss ich da weiter Kind bleiben? Kann ich bei meiner Mutter irgend etwas ändern, oder kümmere ich mich um mich und meine Familie?“
„Der Kontakt ist dann einfach eingeschlafen, ich hab mich nicht mehr gemeldet, und von ihrer Seite kam auch nichts mehr. Ich hab nie klar ausgesprochen, ich möchte den Kontakt nicht mehr, aber er kam einfach nicht mehr zustande.“
Von jeder Geschichte ist hier nur eine Hälfte mehr sichtbar. Hier die Kinder, da die Eltern, nur durch das Schweigen noch verbunden.

Der Grund für den Bruch ist auch der Grund dafür, dass wir nur mehr halbe Geschichten haben.

 

So wie bei Rosi Prömper.
Nach sieben Jahren des Schweigens stand ihr Sohn auf einmal wieder vor ihrer Tür. „Ich weiß gar nicht, ob ich mich gefreut habe“, sagt Prömper, „ich hab ihn reingelassen. Und es war eine wirklich harmonische Woche. Ich wollte mit ihm reden. Sagen, dass das so nicht geht. Er könne nicht einfach nach sieben Jahren vor der Türe stehen und so tun, als wäre nichts. Reden wolle er jetzt nicht, dazu sei es zu schön. Bevor er nach Hause fuhr, umarmte er mich, sagte, er liebe mich, sei ein Idiot und würde sich nun regelmäßig melden.“

„Das ist jetzt auch wieder sechs Jahre her.“
Prömper erzählt, dass sie oft monatelang nicht an ihren Sohn denke, wohl „eine Art Selbstschutz“.
Die Weihnachtsabende, als ihr Sohn trotz Kontaktabbruch dann doch bei Oma feierte, waren für Rosi Prömper “trotz allem“ harmonisch: „Wir haben viel geredet, gelacht und gut gegessen. Was eben so zu einem Weihnachtsabend dazu gehört. Streit gab es nicht.“
Sie habe sich zwar gefreut, zu sehen, dass es ihrem Sohn gut gehe. Aber „dankbar, dass er sich dazu herablässt, Weihnachten ein paar Stunden mit mir zu verbringen“ sei sie nicht gewesen. „Es wird ja nicht zwischendurch mal gefragt, wie es einem geht. Oder was man grade macht, ich hab an dich gedacht oder was sonst "normal" ist. Wobei, was ist eigentlich normal.“
Das Problem sei einfach, dass man mit ihrem Sohn nicht reden könne. “Er verlässt dann einfach den Raum. Und ich stehe da wie Piefchen Doof und ‘nem dicken Hals. Das kann auch für ihn nicht gut sein.”

Es ist für Rosi Prömper kein wirklicher Trost, dass sie zu ihrer Tochter und den zwei Stiefkindern ein gutes Verhältnis hat, ihr Sohn ist ihr immer noch verloren.
„Man denkt ja auch immer“, sagt sie, „was hast du denn jetzt gemacht, dass der so reagiert?“ Aber der Sohn hat sich nie erklärt. Prömper hat wohl eine Ahnung, dass in ihrer Ehe und dann der Trennung von ihrem Mann ihr Sohn manchmal auf der Strecke geblieben sei.
Sie habe damals gedacht, „jetzt musst du dich um den besonders kümmern, weil sich der Vater nicht kümmert. Und das war natürlich falsch.“ Irgendwann habe ihr Sohn dann ihr gesagt, sie hätte ihm nicht beigebracht, Probleme zu lösen, sondern sie habe sie für ihn gelöst. „Ich hab dem ja alles aus dem Weg geräumt“, sagt Prömper, „der brauchte nur noch geradeaus zu laufen. Heute weiß ich, dass es falsch war, aber damals dachte ich, ich muss das machen, weil der Vater ja eh nicht kommt.“
Aber die Elternliebe, sie kommt selbst irgendwann an ihre Grenze. „Wenn mich heute einer fragt“, überlegt Prömper, „liebst du deinen Sohn noch, dann muss ich überlegen, tu ich das wirklich noch.“
Im nächsten Augenblick sagt sie: „Wenn er jetzt anrufen würde, Mama, kannst du kommen, ich brauch deine Hilfe, ich würde sofort im Zug sitzen. Nur wenn er jetzt nach sechs Jahren wieder vor meiner Tür steht, bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn einfach reinlassen würde.“

 

Was den Kontaktabbruch sowohl für Kinder als auch Eltern doppelt schwer macht, ist der Umstand, dass er mit einem Tabu belegt ist. Vielleicht ist das die einzige Gemeinsamkeit, die Kinder und Eltern noch haben: Die Schwierigkeit, über die Funkstille  zu sprechen.
Regina Hansen schreibt, einer der Gründe, warum sie ihre Geschichte doch erzähle, sei das Unverständnis, auf das sie stoße, wenn sie über ihre Kindheit rede: „‚Es ist doch schon so lange vorbei’, heißt es dann, ‚andere Kinder hatten auch eine schwere Kindheit’, ‚ich kenne deine Eltern und die sind nett’, ‚ein paar Schläge haben mir auch nicht geschadet’, ‚warum hast du dich nicht gewehrt’, ‚warum leidest du erst nun darunter’ etc.“
Das geht den Eltern ähnlich, wie Rosi Prömper erzählt. Viele verheimlichen den Kontaktabbruch vor den Nachbarn, den Freunden, finden Ausreden, warum der Sohn oder die Tochter schon wieder fehle. Aus Scham. Und wenn sie es doch eingeständen, bekämen sie zu hören, „ja, was hast du denn gemacht, dass sich dein Kind nicht meldet, du musst doch was gemacht haben, es muss an dir liegen.“

 

Dabei ist es bei den allermeisten verstummenden Eltern und Kinder nicht so, dass die Eltern die Kinder nicht lieben würden. Nur, so drückt es Claudia Haarmann aus: „Die Liebe ist da, aber sie findet ihren Weg zum Gegenüber nicht.“
Allerdings - und das macht Hoffnung - Haarmann sagt auch, die meisten Kontaktabbrüche seien nicht „für immer“.
Wenn man die schweren Missbrauchsfälle einmal ausschließe, sei der Kontaktabbruch vor allem „eine Auszeit für ein Kind, um sich selber zu finden, um dann nach einiger Zeit wieder aus einer gestärkten Position auf die Eltern zuzugehen.“

Das ist nichts Leichtes, es ist das Schwerste überhaupt: Diese erste, grundlegendste Beziehung, die zwischen Eltern und Kind, zu verändern, zu erneuern, aus alten Mustern auszubrechen. Einen neuen Anfang zu machen. Dahin ist das Schweigen nur der erste Schritt.