Società | Mystische Orte

Der mystische Tartscher Bichl

Der Tartscher Bichl gehört mit Sicherheit zu den eindrucksvollsten und schönsten mystischen Orten Südtirols.
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Foto: ©Martin Ruepp

 

Auf den Spuren mystischer Orte - Teil 12

 

Zwischen Grasflächen und kleinen Anhöhen, duftenden Blumen und wehenden Kräutern lässt sich auf Anhieb eine Verbindung mit der unsichtbaren Welt herstellen, und man fühlt, dass man auf Schritt und Tritt in einer Landschaft der Seele wandelt. Dadurch scheint der Bichl wie geschaffen zu sein, sich auf innere Prozesse auszurichten und die Verbindung mit etwas Höherem zu suchen. Zudem wird hier auch die Herzensebene in jener Tiefe berührt, in welcher die innigsten Seelenwünsche schlummern. Behutsam kommen sie hoch, entpuppen sich und manch einer durfte schon erfahren, wie sie sich schließlich erfüllten.

Wie eine kleine, sanft gerundete Insel erhebt sich der Tartscher Bichl unübersehbar aus der Talweite des oberen Vinschgaus zwischen Mals, Glurns und Schluderns. Obwohl er als friedvoller Ruhepol bekannt ist, ist er doch gleichzeitig ein überaus kraftvoller Ort. Eine wärmeliebende Steppenvegetation bedeckt seine Oberfläche und verschiedene Arten von Federgräsern und lichtliebenden Sträuchern wiegen sich im scheinbar unaufhörlichen Vinschger Wind. Dazu gesellen sich Heilkräuter wie Malve, Wiesensalbei, Wermut, Thymian oder Herzgespann und verströmen besonders an warmen Sommertagen ihren herben Duft.

Die Schönheit und Ausstrahlung des Tartscher Bichls, aber sicherlich auch seine Lage in der Nähe wichtiger Verbindungswege dürften dazu beigetragen haben, dass ihm bereits seit frühester Zeit eine besondere Stellung zukam. Sehr viele Funde bestätigen dies und unvergleichlich viele ruhen wohl noch sicher geborgen in der Tiefe der Erde. Es ist schon ein faszinierendes Gefühl, über den Hügel zu schreiten mit dem Wissen, dass direkt unter den Füßen die Spuren unserer Vorfahren liegen, hautnah und dennoch unerreichbar.

Wandert man aufmerksam über die ausgedehnte Wiesenoberfläche im Westen des Tartscher Bichls, fallen immer wieder seltsam abgeflachte Gruben auf, deren Bewuchs sich deutlich von der sonst eher kargen Vegetation abhebt. Die Sagen deuten sie als Überbleibsel einer großen wohlhabenden Stadt, die sich einst auf dem Tartscher Bichl ausgebreitet hat; aus Strafe für die grausamen und gottlosen Bewohner_innen wurde sie von einem schrecklichen Ereignis heimgesucht, das keinen Stein auf dem anderen stehen ließ.

Zahlreiche weitere Mulden befinden sich auf dem Bichl, sie sind die letzten Überreste einer stadtähnlichen Siedlung mit achtzig Häusern aus dem 5.–3. Jahrhundert v. Chr., die im westlichen Teil des Tartscher Bichls aneinandergereiht einst ein großes Dorf mit Straßen, zentralem Platz und dazugehörigem Heiligtum bildeten. Würde man die Einwohnerzahl im Vergleich zu anderen Siedlungen aus jener Zeit hochrechnen, käme man auf eine Bevölkerung von vielen hunderten bis sogar über tausend Einwohner_innen, eine für die damalige Zeit beachtliche Größe.

Im Jahre 1888 besuchte ein Amateurarchäologe, der Deutschamerikaner William Frankfurth, den Bichl und erkannte ihn sogleich als vorgeschichtlichen Ort. Er begann rund um die höchste Kuppe zu graben und stieß auf erste prähistorische Objekte, darunter fünf eiserne Lochäxte und ein Körpergrab. Seine Funde, die von der Römerzeit bis in die Jungsteinzeit reichten, nahm er mit in seine Heimat nach Milwaukee. Ein Teil davon befindet sich heute dort im Milwaukee Public Museum, doch vieles gilt leider als verschollen. Weitere wenig systematische Grabungen folgten in den Jahren 1892/1893 und 1910/1911 und erbrachten verschiedene zum Teil geschmolzene Bruchstücke von Fibeln und Bronzehelmen, ein fragmentiertes bronzenes Frauenfigürchen sowie eine große Menge an Knochen und schwarzer Erde.

Erst Mitte des 20. Jahrhunderts ließen wieder neue Funde aufhorchen, als beim Bau einer Wasserleitung etliche vorzeitliche Objekte ans Tageslicht kamen. Das bemerkenswerteste darunter war eine zwölf Zentimeter lange und auf einer Seite polierte Hirschhornspitze mit rätischer Weiheinschrift. Dieser Fund war nicht der erste tatsächliche Hinweis, dass auf dem Bichl neben einer Siedlung auch ein Opferplatz bestanden hatte. Auffallenderweise trägt die höchste Kuppe den Namen Rosskopf, dessen Wortwurzel Rus auf eine Verbrennungs- oder Feuerstelle hinweisen könnte, die häufig bei alten Kultplätzen vorkommt. Hier befand sich ein eisenzeitlicher Brandopferplatz und dieser heilige Bezirk war durch einen Wall vom tiefer liegenden Gelände im Nordwesten abgegrenzt.

Gewähren die Funde Einblicke in geschichtliche Ereignisse rund um den Tartscher Bichl, schweigen sie aber zu Leben, Bräuchen und Glauben der früheren Bewohner_innen. Der ehemalige Brandopferplatz, die vorhandenen Schalensteine und eine Fruchtbarkeitsrutsche zeugen aber von Menschen, die aktiv ihre Gegenwart gestalteten, ihren Glauben lebten und ihm durch Riten bleibenden Ausdruck verliehen.