Ambiente | Berge & Naturschutz

Wieder das Staunen lernen

Interview mit dem Südtiroler Journalisten Erwin Brunner, ehemaliger Chefredakteur von National Geographic Deutschland
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale del partner e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
Brunner, Erwin
Foto: IMS

Text: Ingrid Beikircher

Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Alpenverein Südtirol
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„Ich möchte den Menschen die Schönheit der Welt zeigen und ihnen die Augen öffnen, sich für sie einzusetzen“, erzählt Erwin Brunner. Der gebürtige Olanger lebt in Hamburg und war  unter anderem Gründungsmitglied und Chefredakteur von National Geographic Deutschland.

Was war Ihre Botschaft als Chefredakteur von National Geographic?

„Inspiring People to Care About the Planet – Menschen inspirieren und motivieren, sich für unseren Planeten einzusetzen“. Das ist der wohl schönste Slogan, den eine Zeitschrift haben kann, und er prägt die Arbeit meiner letzten 20 Jahre. Menschen aber nicht mit erhobenem Zeigefinger belehren, sondern mit eigenem Beispiel vorleben, dass es auch anders geht. Achtsamer und nachhaltiger. Das ist für mich eine selbstverständliche alltägliche Verpflichtung.

Was ist Ihre Botschaft für Südtirol?

Hier gilt leider zu oft das „Immer weiter, immer mehr!“ Im Tourismus, in der Landwirtschaft, beim Apfelanbau – das kann auf Dauer nicht gut sein. In diesem reichen, schönen, g’scheiten Land sollten wir es doch schaffen, von einer quantitativen zur qualitativen Entwicklung zu kommen. Das beginnt bei einem selber, wie man lebt, was man übermittelt, wie man sich mit und in der Natur verhält. Südtirol hat die besten Chancen, eine Musterregion zu sein. Das kann aber ja doch nicht heißen, dass wir alles zubauen, zupflanzen und zuspritzen, bis wir darin ersticken.

Wurden wir vom Fortschritt überrollt?

Die Steinzeit ist nicht aus Mangel an Steinen zu Ende gegangen. Veränderung ist die Hauptbewegung der Welt. Und die Träger der Veränderung sind wir. Schwierig wird es, wenn uns Veränderungen überrollen, wie es neuerdings durch die Globalisierung geschieht. Dies alles geht sehr schnell vor sich, und vieles von dem, was uns bevorsteht, können wir noch gar nicht absehen. Die große Herausforderung ist die Beschleunigung, und um damit umzugehen, müssen wir erst ein Sensorium entwickeln, etwa bei dem von unserem Lebensstil ausgelösten Tempo des Klimawandels.

Wie sollen die Massen gelenkt werden? Touristen strömen in die Dolomiten, um das Unesco-Weltnaturerbe zu bewundern …

Das Prädikat „UNESCO-Weltnaturerbe“ ist ein klarer Auftrag, dieses Gebiet besonders zu schützen. Gleichzeitig haben wir absurde Verkehrslawinen am Grödner Joch, auf den Dolomitenpässen, überall. Da kurven Leute gelangweilt hinter getöntenScheiben in ihren SUVs durch die Berge, machen Selfies – und haben nichts gesehen, nichts erlebt! Wenn das so weitergeht, sind die Dolomiten bald der schönste Stau der Welt.
Wir müssen einfach mit dem Umdenken beginnen: Verkehrslenkung, autofreie Tage, Shuttledienste wären da gute erste Schritte in die richtige Richtung. Aber etwas anderes ist viel wichtiger: Diese Leute dazu zu bringen, wieder zu Fuß zu gehen, zu wandern, zu klettern, zu radeln … Sie kommen doch eigens hierher, um die Schönheit dieser Landschaften mit den eigenen Sinnen zu erleben, nicht zum Autofahren und Luftverpesten!

Aber die Spaßgesellschaft will Erlebnis ohne Einschränkung …

Das glaube ich gar nicht. Im Urlaub suchen doch die meisten Menschen eine andere Sicht auf die Welt, sonst würden sie ja nicht reisen. Man kann sie also doch wieder zum Schauen bringen, oder noch besser: zum Staunen. Bringen wir sie doch auf ihre eigenen Füße zurück! Weg von diesem kilometerfressenden, konsumistischen „Berggenuss“. Zur Eindämmung des Benzintourismus und seiner Folgen braucht es also nur Fantasie, guten Willen und neue Konzepte und Angebote, wie wir die Dolomiten genießen und gleichzeitig schützen können. Wanderungen in kleinen Gruppen. Natur-, Kultur– und Kulinarikführungen, Ausflüge mit dem Shuttle. Ganz einfache Sachen eigentlich …

Wie können Menschen zum Umdenken animiert werden?

Wir hatten in National Geographic eine Titelgeschichte, für die sich ein Redakteur der US-Ausgabe einen Monat lang auf „CO2-Diät“ setzte und alles dokumentierte: Wie er lebt, was er kauft, was er verbraucht. Ergebnis: Allein durch bewusstes Tun kann man circa 30 Prozent Energie einsparen, sei es in der Mobilität wie im Alltag. Das Tolle daran: Er hat nichts an Lebensqualität eingebüßt, sondern einfach nur alles überlegt getan und nicht „wie immer“. Jeder Mensch entscheidet jeden Tag für sich neu, für diese Welt. Auch wenn viele das „ Immer mehr“ praktizieren, gibt es doch ein Umdenken. So hat etwa Berlin den geringsten Prozentsatz an Autobesitzern, weil in der Großstadt das Auto teuer und unpraktisch, der öffentliche Verkehr aber effizient und gut vernetzt ist. Es findet also ein Paradigmenwechsel statt.
In Südtirol scheint der Leidensdruck – noch – nicht groß genug zu sein. Die Bevölkerung hat sich nicht verdoppelt, wir haben nur die dreifache Menge an Autos, und jeder ist alleine unterwegs. Aber vielleicht erlebe ich nach den Staus Richtung Bruneck ja doch noch eine Neuauflage der Taufererbahn. Oder vernünftige Öffis ins Überetsch. Oder sogar eine Bahn durch die Dolomiten.
Von Hamburg nach Olang fahr ich schon lange mit der Bahn. Im Zug kann ich lesen, arbeiten, schlafen, es ist bequem und ich komme entspannt an. Zweimal bin ich von Hamburg nach Bozen geflogen und kam beide Male wegen Schlechtwetters nicht hin bzw. nicht weg. Zufall oder Pech, egal. Südtirol braucht künftig vernünftige Zubringerdienste zu den Flughäfen Innsbruck, Verona, Mailand. Einen Regionalflughafen, der von allen Seiten gesponsert werden muss, aber wirklich nicht.

Vermögen schöne Bilder – wie im Magazin National Geographic – den Menschen für die Schönheit der Welt zu sensibilisieren?

Schon seit den Zeiten der Höhlenmalereien sehen wir: Hauptmedium der Kommunikation ist immer das Bild. Die Macht der Bilder ist international. Sie brauchen keine Übersetzung, ich kann damit ungleich schneller und einprägsamer den Menschen erreichen. Das Bild dominiert unsere Empathie. Es spricht zuerst das Gefühl an, dann erst den Intellekt im Sinne einer bewussten Wahrnehmung. Der Idealfall ist, wenn optische Botschaft und analytische sprachliche Aussage zusammengehen. Ein Bild, das mir zeigt, wie schön etwas ist, enthält den wirksamsten Appell, achtsam damit umzugehen.

Wie sehr bemüht sich National Geographic um alpine Themen?

Alpine Themen sind bei einem Magazin, das „die ganze Welt“ im Blick hat, doch etwas sehr Spezielles und interessieren meistens nur eine einschlägige Leserschaft. Auch mit Themen der Art „Alpen in Not“ kann man wenig erreichen. Die Leute wollen nicht den negativen Fingerzeig. Man bewegt und überzeugt Menschen sehr viel nachhaltiger durch authentische und engagierte „gute Beispiele“. Vor allem durch Geschichten und Bilder, die zeigen, wie schön und schützenswert unsere Welt ist.

Was bedeuten für Sie die Berge?

Ich bin am Berg aufgewachsen und wollte immer wissen, was hinter dem Horizont, was hinter den hohen Gipfeln ist. Berge sind für mich eine großartige Metapher für Freiheit. Für eine Freiheit, die dich nichts kostet, nur das Hinaufgehen und das Augenöffnen. Es ist eine Wahrnehmung, wie man sie nirgendwo anders so tiefgründig und zugleich so federleicht erleben kann: Eins sein mit sich und der Welt.

Erwin Brunner (* 1954) aus Olang studierte in Wien Publizistik, Politikwissenschaft und Kunstgeschichte. Er lebt seit 1982 in Hamburg, war dort Redakteur im Dossier der ZEIT, Textchef des ZEITMagazins, stellvertretender Chefredakteur bei MERIAN und schließlich Gründungsmitglied von National Geographic Deutschland. Dort fungierte er zuletzt fünf Jahre als Chefredakteur. Heute arbeitet er als freier Journalist, Autor und Wanderleiter.
2018 ist hat er im Raetia Verlag „Die Entdeckung der Dolomiten“ herausgegeben: durch Kürzungen und mit neuer Übersetzung und Sprachfarbe ist es ihm gelungen, aus dem verstaubten Klassiker von Josiah Gilbert und George Cheetham Churchill eine schön lesbare Reportage vom Reisen in den Bergen vor 150 Jahren zu machen.