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Ibsen in Gossensaß

Im kleinen Brennerort huldigen sie bis heute dem berühmten norwegischen Dichter. Im Lauf der Jahre  hat Henrik Ibsens Denkmal aber auch einige Risse bekommen. 
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Foto: Wikipedia

In Henrik Ibsens Drama Hedda Gabler verrät die Protagonistin, „auf der Heimreise einen kleinen Abstecher nach Tirol gemacht“ zu haben. Letzte Station für Hedda und ihren Gefährten Tesman auf dem Rückweg von Italien nach Norwegen war Gossensaß, auch wenn der Ort nicht explizit benannt wird. Im zweiten Akt heißt es im Dialog zwischen Hedda und Tesman nur:

-    Erinnerst du dich noch an das kleine Dorf?
-    Ach, das unterm Brennerpaß. Dort, wo wir übernachteten …
-    Und all die lustigen Sommerfrischler trafen …

Gossensaß war für Ibsen mehr als nur eine Station über Nacht. Drei aufeinanderfolgende Sommer, von 1882 bis 1884, verweilte Ibsen im Grandhotel Gröbner. In dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach einer Explosion dort gelagerter Munition abgebrannten Haus entstand Ibsens Schauspiel Die Wildente. Nach einem fünfjährigen Intermezzo kehrte der Dichter zurück. Ibsen verbrachte drei weitere Ferien im damaligen Kurbad, jeweils im Gröbner. Über seinen letzten, fast ein Jahrzehnt zurückliegenden Aufenthalt notierte er in einem Brief anno 1900: „Der Sommer in Gossensass war der glücklichste, schönste in meinem ganzen Leben.“

 

Als Ibsen im Grandhotel logierte, war er bereits eine Berühmtheit. Kein Wunder, dass ihm in Gossensaß kräftig gehuldigt wurde. Noch heute gibt es brennerunterhalb einen Ibsenweg sowie auf dem Gebiet der Marktgemeinde einen Ibsenplatz, und im Gemeindesaal informiert eine ständige Ausstellung über die Gossensaß-Aufenthalte des prominenten Gasts. 
Während mancher Sommer weilte im Gröbner auch der Verleger Samuel Fischer. Sein Haus hatte Ibsens Werke auf Deutsch publiziert, was dem Dichter aus dem spärlich besiedelten Norwegen einen neuen, riesigen Leserkreis erschloss. „Der Autorenfischer“ nennt Deutschlandfunkautor Carsten Hueck den Verleger, dessen erster Fang tatsächlich Ibsen war. Als erstes Buch überhaupt im 1886 gegründeten S. Fischer Verlag erschien Ibsens Drama Rosmersholm.


Es gab auch Beute, die Fischer verschmähte. Dazu zählte Ibsens Landsmann Knut Hamsun. Die beiden Norweger waren sich alles andere als grün; gut möglich, dass Fischer erst auf Ibsens Intervention hin Hamsuns Romane Hunger und Mysterien abgelehnt hatte – obwohl bereits hervorragende deutsche Versionen durch Marie von Borch vorlagen. Die Übersetzerin hatte zuvor Ibsens Werke ins Deutsche übertragen. Selbst als der Kunsthändler Albert Langen, der Hamsun in Paris kennengelernt hatte, Fischer  einen Druckkostenzuschuss für die Veröffentlichung von Mysterien anbot, lehnte dieser ab. Kurzerhand gründete Langen eigens einen Verlag. Erstes dort publiziertes Werk war Mysterien

Ibsen bekam sein Fett weg, Hamsun eine späte Genugtuung

Der Hauptgrund für Ibsens Ressentiments und Fischers Ablehnung lag in Mysterien selbst. Im Roman lässt Hamsun seinen Protagonisten und alter ego Johan Nilsen Nagel kräftig gegen Ibsen austeilen. Er wirft dem berühmten Autor Kunst um der Kunst willen vor, die auf der Bühne vielleicht Wirkung entfalte, aber nichts mit dem wahren Leben zu tun habe. Ibsens Werke stünden exemplarisch für eine tote Literatur, ihr Autor sei deren typischer Repräsentant: „Der norwegische Schriftsteller, der sich nicht aufblies und nicht eine Stecknadel wie eine Lanze einlegte, sei doch gar kein norwegischer Schriftsteller“, giftet Hamsun Richtung Obsen, mit seinem Nagel exakt auf des verhassten Konkurrenten Kopf treffend. Am Ende schimpft Hamsun den Lieblingsfeind indirekt ein „Würstchen“ und lässt seinen Vollstrecker noch einen draufsetzen: „Sie erwähnten Ibsen, fuhr Nagel immer noch genauso erregt fort, und ohne daß Ibsens Name genannt worden war. Seiner Meinung nach gab es nur einen Dichter in Norwegen, und das war nicht Ibsen.“
Ibsen bekam sein Fett weg, Hamsun eine späte Genugtuung: Als 1903 zum ersten Mal der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, bekam nicht Ibsen die begehrte Auszeichnung zugesprochen, sondern  der Landsmann Bjørnstjerne Bjørnson. Ihn hatte Hamsun alias Nagel gemeint, als er von Norwegens einzigem Dichter sprach. 

Klar, dass auch Kaser an Ibsen etwas auszusetzen fand.

Gar nicht weit von Gossensaß, in Brixen, wurde ein Südtiroler Dichter geboren, der gerne an Denkmälern kratzte und sich an toter Literatur verging. Norbert Conrad Kaser war während eines Norwegenaufenthalts im Sommer 1970 auf die Werke Sig Bjørn Obstfelders gestoßen, den „zeitgenossen des snobistischen ibsen der ihn als scharlatan bezeichnet & dementsprechend gehaßt hat.“ Klar, dass auch Kaser an Ibsen etwas auszusetzen fand. Und schade, dass Kaser Hamsuns Mysterien offenbar nie gelesen hat, sonst hätte er wohl noch mehr vom Leder gezogen und wären aus seiner Feder womöglich weitere pittoreske Tintenblitze gegen Ibsen geschleudert worden. 
Zurück nach Gossensaß. Vom Rathaus führt der Ibsenweg zunächst brennerauf und zweigt dann ab. Jede Menge Holzschilder weisen bereits im kleinen Gossensaßer Zentrum zum Ibsenplatz. Nach einer guten halben Stunde und einigen Zweifeln an der Peilung ist das Ziel erreicht. Die Schilder haben recht behalten. Auf einer Lichtung zwischen Bäumen ist eine Plakette angebracht: “Dieser Waldplatz wurde von der Gemeinde Gossensaß am 21. 07. 1889 in Anwesenheit von Henrik Ibsen und der damaligen Gemeindebehörde dem grossen norwegischen Dichter gewidmet.“ 
Früher mag es von diesem Platz aus eine wunderbare Aussicht ins Tal gegeben haben, verbunden mit himmlischer Ruhe. Von beidem ist nicht viel übrig geblieben. Nachgewachsene Bäume lassen nur den Blick aufs winzige Gossensaßer Gewerbegebiet zu, die Brennerautobahn in unmittelbarer Nähe sorgt für dezente Geräuschuntermalung. Ein Tisch und drei Bänke laden zum Verschnaufen. Eine Weile lässt es sich durchaus hier aushalten, am besten mit Hamsuns Mysterien als Begleitlektüre. Die Ibsenphilippika findet sich übrigens auf Seite 195f der bei List erschienenen Taschenbuchausgabe.