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Der Schutzwall

Zum Tag der Befreiung Italiens vom Faschismus ein Blick hinter den antifaschistischen Schutzwall: der Fall der Mauer, das Ende der DDR, die Tragik ihrer Bewohner.
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Foto: Ch. Links Verlag

1989 war das annus mirabilis der Ostdeutschen. Doch schon im Jahr darauf erlebten viele ihr annus horribilis. All dies ist nachzulesen in Finale: Das letzte Jahr der DDR. Ein spannendes, ein brillantes, leider auch ein ernüchterndes Buch!
„An dem Tag, an dem es dann so weit war, da hat es mich getroffen. Es war uns immer klar, dass es kommt. Wir haben darauf hingearbeitet und wussten, es war gut so. Aber an dem Tag stürzte ich von Power 200 Prozent auf null herunter. Und das war furchtbar, wirklich furchtbar. Man wusste mit sich nichts mehr anzufangen. Das hatte ich so nicht erwartet. Ich dachte, aber vielleicht ist es auch völliger Quatsch, dass ich mit meiner Erfahrung noch anderswo gebraucht würde. Aber nein, es war dann eben auf null – das war’s.“

Alle Welt hatte die Ostdeutschen in höchsten Tönen gelobt, für ihre Zivilcourage, für ihren Bürgermut, für ihren Erfindungsreichtum...

So erinnert sich der Dresdener Jürgen Kleditzsch an den 3. Oktober 1990. Kleditzsch war nicht irgendwer. Er war der letzte Gesundheitsminister der DDR. Eine Legislaturperiode saß er anschließend im  Bundestag, dann sagte er der großen Politik „Auf Wiedersehen“. Später trat er auch aus seiner Partei aus, der CDU. 
Ähnlich wie Kleditzsch sollte es vielen DDR-Bürgern gehen. Sie hatten, nach schwierigen Anfangsjahren (zur Erinnerung: Während die BRD nach ihrer Westanbindung Marschallplanhilfe genoss, musste die DDR die vollen Reparationsleistungen für den verlorenen Weltkrieg an die Sowjetunion bezahlen, ohne Rabatt) ihr Land aufgebaut, hatten einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet, hatten eine Biografie, auf die sie ein wenig stolz sein konnten – und dann war all dies plötzlich nichts mehr wert. Im vereinten Deutschland wurden die Ostdeutschen Bürger zweiter Klasse. 
Anstatt dass sich zwei Staaten auf Augenhöhe, in Würde und Respekt zu einem einzigen zusammentaten, kam es zu einem Anschluss, bei dem der Stärkere den Schwächeren schluckte. Das Grundgesetz hatte für einen solchen Fall mit Artikel 23 Vorsorge getroffen. Wie sich die 16 Millionen Ostdeutschen dabei fühlten, war der Regierung im Westen und den Industriekonzernen, die sie sich leisteten, ziemlich schnuppe.
Alle Welt hatte die Ostdeutschen in höchsten Tönen gelobt, für ihre Zivilcourage, für ihren Bürgermut, für ihren Erfindungsreichtum, alles Eigenschaften eines lange unterschätzten Volks, die eine der am schärfsten bewachten Grenzen dort, wo zwei bis an die Zähne bewaffnete Militärbündnisse unmittelbar zusammenstießen, binnen eines Jahres einfach verschwinden ließ. Doch das war rasch vergessen. „Wir sind das Volk“, hatten die Anhänger der Oppositionsgruppen in der DDR selbstbewusst gerufen, als die Mauer noch stand und man für eine solche Äußerung in den Knast wandern konnte. Bald war auf den Montagsdemonstrationen nur noch „Wir sind ein Volk“ zu hören. 

Was mit dem Fall der Mauer so euphorisch begonnen hatte, zerbröselte im politischen Alltag.

Nur ein Wort hatte sich geändert – und machte doch den Unterschied. „Wir sind das Volk“ war die Parole derjenigen, die ihre DDR noch eine Weile behalten wollten, als demokratischen Staat. Der Westen wunderte sich, was in Deutschlands Osten plötzlich alles möglich war. Wer sich in der Politik engagierte, wurde endlich einmal  belohnt und schien eine Gegenleistung zu bekommen. Dann änderte sich alles mit der ersten freien Volkskammerwahl.
„Wir sind ein Volk“, skandierten diejenigen, die eine Vereinigung mit der BRD möglichst bald anstrebten, ganz gleich zu welchem Preis. Die Ost-SPD, noch sechs Wochen vor dieser Wahl in allen Umfragen deutlich vorn, erntete beim Urnengang am 18. März 1990 kaum mehr als halb so viele Stimmen wie die Konkurrenz von der CDU. Ihr „Fehler“: Sie war nicht für eine möglichst rasche Vereinigung eingetreten, welche die CDU umso lauter gefordert hatte. Und sie hatte keinen Kanzler Kohl in ihrer Westschwesternpartei, der den Ostdeutschen das Blaue vom Himmel herunter versprach.


Was mit dem Fall der Mauer so euphorisch begonnen hatte, zerbröselte im politischen Alltag. Ausschlaggebend war das liebe Geld. Die DDR hatte, um ihren Bürgern einen recht hohen Lebensstandard zu sichern, auf Pump gelebt. Die Auslandsschulden schossen in die Höhe, Ende 1989 mussten drei Viertel des Erwirtschafteten aufgewendet werden, um allein die Kreditzinsen zu bedienen. Als am 1. Juli die D-Mark im deutschen Osten eingeführt wurde, verschlimmerte sich die Lage dramatisch. Die Gehälter wurden auf 1:1 umgestellt, obwohl die Ostmark im Vergleich zur D-Mark de facto nur einen Wert von 1:10 besaß. Rasch waren im Osten die Kassen leer, der Westen musste einspringen, die möglichst rasche Einheit schien ökonomisch die einzige Lösung. Als es am 3. Oktober so weit war, waren in den Wochen zuvor geschätzt eine Milliarde Mark täglich von West nach Ost geflossen.

Nach dem Fall des Kommunismus hat halt der Kapitalismus gesiegt, auf ganzer Linie.

So verkam das spannende Abenteuer, das immerhin fast ein Jahr währte und Hunderttausende Neugieriger aus aller Welt nach Ostberlin lockte, um aus nächster Nähe das Experiment DDR nach dem Mauerfall zu bestaunen, zu einem stinklangweiligen Stück. Die blasse DDR, plötzlich bunt geworden, verwandelte sich wieder in die graue Maus und hieß nur noch „Die fünf neuen Bundesländer“.
Wer das letzte Jahr der DDR noch einmal miterleben möchte, mit allen Hoffnungen und Enttäuschungen, verrückten Wendungen und realpolitischen Bremsmanövern, dem sei die Lektüre von Finale ans Herz gelegt. Hannes Bahrmann und Christoph Links erzählen die Geschichte äußerst unterhaltsam und bleiben stets souverän, zeigen auf, was möglich gewesen wäre und warum es doch so kommen musste, wie es gekommen ist. Nach dem Fall des Kommunismus hat halt der Kapitalismus gesiegt, auf ganzer Linie. Da war für den dritten Weg, den sich viele Unverzagte, Unangepasste und Unorthodoxe in der DDR gewünscht hätten, wohl kein Platz. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.