Società | Netzwerke

Ein virtuoser Kreis

In Kriegszeiten zeigt es sich besonders schmerzhaft, dass der Verlust der Intelligenzija für eine Universität kaum zu kompensieren ist
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Foto: (c) unibz

Professor Fabian Waldinger spricht als Keynote beim Euregio Economics Meeting am 26. Mai über „Gefährdete Gelehrte: Berufliche Netzwerke und hochqualifizierte Emigration aus Nazi-Deutschland“.

Am 26. und 27. Mai findet an der Freien Universität Bozen das Euregio Economics Meeting statt: Professor*innen der Wirtschaftswissenschaften der Universitäten Bozen, Trient und Innsbruck kommen zu einem Austausch zusammen, um ihre Forschungen im Bereich der Wirtschaftswissenschaften vorzustellen.

Als besonderen Auftakt des Meetings wurde Professor Fabian Waldinger von der LMU in München geladen. Sein Thema ist ein ungewöhnliches: „Gefährdete Gelehrte: Berufliche Netzwerke und hochqualifizierte Emigration aus Nazi-Deutschland“. Was vor Wochen noch als Thema der Vergangenheit anmuten ließ, hat mit dem Ukraine-Krieg brisante Aktualität erhalten, geht es doch bei Emigration und dem Verlust von Forscher*innen und Gelehrten um den gefürchteten „brain drain“ für jedes Land.

 

unibz: Herr Prof. Waldinger, im Rahmen des Euregio-Treffens der Wirtschaftswissenschaftler*innen werden Sie Ihre Studie „Gefährdete Gelehrte: Berufliche Netzwerke und hochqualifizierte Emigration aus Nazi-Deutschland“ vorstellen. Wie ergab sich für Sie dieses Forschungsthema?

Prof. Fabian Waldinger: Mein Interesse liegt weit zurück in meine Zeit als Doktorand an der London School of Economics und in Berkeley. Eher zufällig las ich damals in einem Geschichtsbuch, dass Deutschland vor und während des zweiten Weltkriegs ganze 20 Nobelpreisträger durch Emigration verloren hatte. Das war natürlich eine unglaubliche Zahl, die mein Interesse weckte und ich begann, systematisch mehr zu diesem Thema zu recherchieren. Ich stieß dann auf eine alte Liste von deutschen Wissenschaftler*innen, die damals den Universitäten im Ausland angeboten wurde. Es handelt sich um die Namen von rund 2.000 Wissenschaftler*innen, die Deutschland verlassen wollten. In dieser Liste fanden sich Nobelpreisträger wie Albert Einstein oder Max Born. Damals begann meine Recherche zum Thema, der ich mich einem ganzen Jahrzehnt gewidmet habe.

Sie haben dabei die Rolle von drei sozialen Netzwerken untersucht: die Familien-, Gemeinschafts- und beruflichen Netzwerke. Welches dieser Netzwerke hat die Auswanderung am stärksten begünstigt?

Prof. Waldinger: Ich habe mich dem Thema im Team mit drei Foscher*innen genähert: Sascha O. Becker von den Universitäten Monash und Warwick, Volker Lindenthal von der Ludwig-Maximilian-Universität in München und Sharun Mukand von der Universität in Warwick. Wir sind mit dem Gedanken an die Recherche gegangen, dass das Netzwerk der jüdischen Gemeinschaft das stärkste gewesen sein müsse. Es gab natürlich vorhergehende, aber nicht systematische Erhebungen zur Emigration von Juden in der Zeit der Nazi-Herrschaft in Deutschland. Wir wollten uns dem Aspekt der Netzwerke widmen, um die Wahrscheinlichkeit der Rettung zu eruieren. Daher haben wir die Berufslaufbahnen von Leuten analysiert, die an Universitäten gearbeitet haben. So konnten wir ihre Netzwerke rekonstruieren: wer kennt wen, wer hat vielleicht später an einer Universität zu arbeiten begonnen und kannte weniger Professor*innen als jene, die schon zuvor dort waren. Oder wer hatte an zwei Universitäten gelehrt und verfügte demnach über ein größeres Netzwerk. Uns ging es um kausale Effekte und nicht Korrelationen.

 

Hat es Sie überrascht, dass das Netzwerk der jüdischen Gemeinschaft bei den Wissenschaftler*innen am schwächsten ausgeprägt war in Bezug auf die Emigration?

Prof. Waldinger: Ja, denn wir hatten vermutet, dass das professionelle Netzwerk selbst für die Hochgebildeten nicht über allem steht. Aber um das Beispiel des Mathematikers Richard Courant zu geben: er wanderte in die Vereinigten Staaten von Amerika aus und half sehr vielen Wissenschaftler*innen, ihm zu folgen. Die frühen Emigranten waren für viele Wissenschaftler*innen wichtigstes Netzwerk für ihre erfolgreiche Flucht.

Mit dem Krieg in der Ukraine gewinnt das Thema traurige Aktualität. Der Amerikaner Raymond Fosdick analysierte, dass die erzwungene Auswanderung während des Naziregimes zum Aufbau des größten Zentrums der Mathematik außerhalb Deutschlands führte. Glauben Sie, dass sich eine solche massive Emigration der Intelligenzija in der Zeit von heute geführten Kriegen wiederholen könnte?

Prof. Waldinger: Kriege können natürlich zu solch massiven Abwanderungen führen. Das kann für Länder zum Problem werden, zumal wenn Forscher*innen im Ausland ausgezeichnete Arbeitsbedingungen erhalten und dann bleiben. Zurückblickend auf die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg hat man gesehen, dass nur wenige Wissenschaflter*innen zurück nach Deutschland kamen. Dabei handelt es sich aber natürlich um eine ganz andere Situation als in der Ukraine. Aber es wird sicher manche geben, die nicht in ihr Land zurückkehren, was langfristige Folgen haben könnte.

Waren Sie und Ihr Forscherteam überrascht, dass 94 Prozent der jüdischen Akademiker*innen an den Universitäten dem Holocaust entkommen sind?

Prof. Waldinger: Ja, absolut. Als wir diese Zahl hatten, und das war noch relativ am Anfang, hatten wir die Netzwerke noch nicht im Detail betrachtet. Es gab in Nazi-Deutschland ja über einen langen Zeitraum Diskriminierungen, aber verglichen mit Rechtsanwälten und Richtern, die ebenso gebildet waren, vielfach ein Forschungsdoktorat absolviert hatten und ein ähnliches Einkommen hatten, sind von letzteren viel weniger emigriert. Die Netzwerke über die Universitäten waren maßgeblich.

Was sind die Lehren aus Ihrer Forschung, die Sie auf die heutige Zeit übertragen könnten?

Prof. Waldinger: Was wir für die heutige Zeit sagen können, ist, dass akademische Superstars extrem wichtig sind für Fakultäten, denn sie ziehen andere hochqualifizierte Professor*innen an. Damit produziert eine Fakultät oder Universität sehr gute Studierende und Doktoranden. Diese Effekte ziehen gemäß eines virtuos circle auf Jahrzehnte ihre Kreise.

Im Umkehrschluss kann man den Verlust von Nobelpreisträgern wie es im zweiten Weltkrieg geschah auf lange Sicht kaum kompensieren. Das sieht man an den Universitäten von Göttingen und Berlin, diese haben sich nie von dem Verlust erholt: Göttingen verlor im zweiten Weltkrieg 60% seiner Mathematiker. Zieht man hingegen die besten Köpfe an, dann wird das fast zum Selbstläufer.

 

Interview: Vicky Rabensteiner