Società | Teil 2

„Spannung bedeutet auch Reibung“

Besuch beim Pilotprojekt der Oberschule Peter Anich in Bozen: Migrierte Jugendliche lernen die Landessprachen, versuchen Südtirol zu verstehen und ihren Platz zu finden.
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Foto: Seehauserfoto
Es ist Pause. Die Schüler*innen des Realgymnasiums und der Fachoberschule für Bauwesen „Peter Anich“ in Bozen wollen nach draußen in die frische Luft. Schon fast erwachsen und doch noch Kind – die Jugendlichen sind voller Tatendrang und Abenteuerlust. Das ist nach dem Klingeln zurück im Klassenraum auch beim einjährigen Orientierungslehrgang für junge Menschen mit Migrationshintergrund ab 16 Jahren spürbar.
 
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Der Orientierungslehrgang: Das Pilotprojekt startete im Schuljahr 2021 / 22 an der P. Anich. (Foto: Seehauserfoto)
 
Das Pilotprojekt wird seit zwei Jahren an der P. Anich geführt. Es soll die Jugendlichen nicht nur darin unterstützen, Deutsch, Italienisch, Mathematik, EDV und Englisch zu lernen sowie im Anschluss einen Ausbildungsplatz oder eine geeignete Schule zu finden, sondern ihnen außerdem einen Einblick in die Südtiroler Gesellschaft und Kulturen geben. Aber auch das Zusammentreffen der unterschiedlichen Kulturen und Sprachen innerhalb des Lehrgangs sei eine Herausforderung: „Manche sind bereits mehrsprachig, andere lernen hier ihre ersten Fremdsprachen und können mit grammatikalischen Begriffen nicht viel anfangen“, erklärt Karin Gasser, Lehrkraft für Deutsch.
Neben dem Sprachunterricht ist auch das Fach „gesellschaftliche Bildung“ Teil des Unterrichts, das von den vier Lehrkräften Karin Gasser, Laura Lovatel, Audrey Lobo und Pajtesa Morina gemeinsam gestaltet wird. Die Unterrichtsinhalte seien dabei vielfältig, von Landeskunde bis hin zu Umweltbildung. Ein Schwerpunkt wird dabei auf Exkursionen gelegt, etwa ins Frauenmuseum in Meran, in die Fachschule Laimburg oder zu der interaktiven Ausstellung Upcycling Music auf Schloss Runkelstein.
 
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Die Lehrkräfte für Italienisch, Englisch und Deutsch: v.l. Laura Lovatel, Audrey Lobo und Karin Gasser; (Foto: Seehauserfoto)
 
Anstatt Anpassung wird hier also ein Raum geöffnet, der ergebnisoffen und spielerisch ist. In der ersten Schulwoche lernte die Gruppe etwa bei einem Stadtspaziergang Bozen kennen und ahmte die Fotoreihe der österreichischen Künstlerin Valie Export nach, indem sie ihre Körper im öffentlichen Raum in Szene setzten. Auf einem Foto befindet sich die Künstlerin auf den Knien am Boden, ihr Oberkörper ist gebeugt, ihre Arme sind nach vorne gestreckt und liegen auf den Fliesen auf. „Ein Schüler machte das Foto nach, sagte aber, dass es für ihn eine Position für das Gebet ist. An diese Bedeutung hatten wir noch gar nicht gedacht. Es ist interessant, Bedeutung neu zu verhandeln“, so Laura Lovatel, Lehrkraft für Italienisch.
 
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Laura Lovatel: Die Lehrkraft zeigt die Arbeiten der Schüler*innen, die im Zuge des Stadtspaziergangs in Bozen entstanden sind. (Foto: Seehauserfoto)
 
Die Jugendlichen werden von Pajtesa Morina in Mathematik und EDV unterrichtet und haben bereits den für jedes Praktikum notwendigen Arbeitssicherheitskurs erfolgreich absolviert. Sandra Scherz von JugendCoachingGiovani (JCG) begleitet sie beim wöchentlichen Gruppencoaching und bietet auch individuelles Coaching für sie an. JCG ist ein kostenloses Unterstützungsangebot des Dachverbandes netz | Offene Jugendarbeit für junge Menschen, um den eigenen Weg ins Berufsleben zu finden. Mithilfe der Einzelgespräche soll klar werden, wo die eigenen Fähigkeiten und Stärken liegen.
 

Kommunikation ohne Sprache

 
Als Sandra Scherz im vergangenen Schuljahr auf die neuen Teilnehmer*innen des Orientierungslehrgangs traf, kommunizierte sie anfangs mithilfe von Mimik, Körpersprache und Symbolen. „Es ist eine sehr sinnstiftende Arbeit“, sagt die Coachin. „Zwölf junge Menschen aus verschiedensten Nationen sitzen aufmerksam vor dir und verstehen die Sprache noch gar nicht.“ Damit sich die Gruppe besser kennenlernen konnte, setzte sie in den ersten Wochen auf verschiedene Spiele, die ohne die Verwendung von Sprache auskommen.
 
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Sandra Scherz: „Bei meiner Arbeit befinde ich mich in einem großen Spannungsfeld zwischen Kulturen, Sprachen, Bildung und Sozialisierung.“ (Foto: JCG)
 
Im Gruppencoaching kann auch die eigene Kultur miteingebracht werden. Etwa ging Scherz mit der Gruppe an einem Nachmittag auf die Talfer Wiese, um zu sporteln. „Da einige aus Indien oder Pakistan kommen, spielten wir Kricket, ihren Nationalsport. Der Rollentausch, dass nicht ich ihnen, sondern sie mir was beibringen, war super.“ Außerdem spricht Scherz auch schwierigere Themen wie die Geschlechterrollen oder Respekt an. Dabei sei es wichtig, dass jede*r seine Sichtweise einbringen kann und die Traditionen im Herkunftsland thematisiert werden.
„Bei meiner Arbeit befinde ich mich in einem großen Spannungsfeld zwischen Kulturen, Sprachen, Bildung und Sozialisierung. Spannungsfeld bedeutet auch Reibung und Reibung bedeutet, ich werde berührt, ich lasse mich berühren und auch mein Gegenüber ist berührt. Dieser Austausch macht das Gruppencoaching sehr lebendig“, erklärt Scherz. Dass sie anfangs ohne Sprache auskommen musste, war für sie eine Herausforderung. „Durch die Mimik und Körpersprache merkt man, ob jemand willkommen ist. Hätte ich sofort nur die Sprache verwendet, hätte ich sie überfordert.“
Während im Fachunterricht Spracherwerb und Wissensaustausch im Vordergrund stehen, geht es beim Coaching darum, Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit zu erlernen. „In diesem Jahr will ich ihnen die Möglichkeit geben, über ihre Berufswahl nachzudenken und sich auf die Berufswelt vorzubereiten“, sagt Scherz. Deshalb sind beim Einzelcoaching neben der Klärung von rechtlichen und organisatorischen Fragen auch Rollenspiele auf dem Programm, um das eigene Auftreten bei einem Vorstellungsgespräch zu üben.
 

Perspektivenwechsel

 
Das von der Deutschen Bildungsdirektion und den Sprachenzentren der Pädagogischen Abteilung des Landes initiierte Pilotprojekt lenkt die Aufmerksamkeit von der in Medien und Politik häufig diskutierten Jugendgewalt und Ausweglosigkeit weg hin auf Bildung und Orientierung.
„Wir sind ein tolles, kreatives Team. Das Schönste ist dabei, dass wir die Freiheit haben, uns auszuprobieren“, sagt Gasser. „Schule besteht nicht nur aus Bewertungen und Unterrichtsinhalten, sondern sie soll aus meinen Augen auch die Persönlichkeit der Jugendlichen miteinbeziehen“, fügt Lovatel hinzu.
Audrey Lobo arbeitet als Lehrkraft für Englisch im Projekt, als Person mit Migrationserfahrung bringt sie wichtige Erfahrungen mit. „Ich kenne als Immigrantin beide Perspektiven, das ist schwierig und gleichzeitig interessant. Deshalb bin ich sehr froh, in einem Team arbeiten zu können, wo interkultureller Austausch geschätzt wird“, erklärt Lobo.
 
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Selbstportraits der Schüler*innen: Im Orientierungslehrgang wird auch die Persönlichkeit der Jugendlichen miteinbezogen. (Foto: Seehauserfoto)
 
Auch Gasser bestätigt die wohlwollende Haltung: „Ich finde es von den Jugendlichen mutig, in ein fremdes Land zu kommen. Über den Sprachunterricht hinaus stellen wir uns die Frage, was wir ihnen nahebringen wollen, und ich bekomme im Austausch mit ihnen eine neue Sicht auf Bozen, auf Südtirol. Das ist für uns ein Moment der Reflexion in der Konfrontation mit dem Außen. In unserer Klasse sind acht Nationen vertreten und genauso viele Sprachen. Es ist fantastisch, wie viel Weltwissen da drinnen steckt.“
Eine kritische Auseinandersetzung sei Teil der Herangehensweise: „Oft ist das Narrativ, was Südtirol ausmacht, sehr einseitig. Eigentlich ist das Leben hier aber viel mehr und es kann nicht auf dieses eine Bild von Äpfeln und Hotels reduziert werden“, sagt Lovatel.
Als ich mit unserem Fotografen Othmar Seehauser die Klasse betrete, beobachten uns die Jugendlichen genau. Es ist ruhig, die Journalistin ist da und sie wollen von ihren Träumen und Hoffnungen erzählen. „Ich möchte Ärztin werden und wechsle nach dem Lehrgang in die dritte Klasse des Realgymnasiums hier“, erklärt Fizh. „Ich heiße Tanuj und möchte Kellner werden, deshalb werde ich eine Lehrstelle suchen.“ Die Schüler*innen kommen aus Indien, Pakistan, Bangladesch, Tadschikistan, Aserbaidschan, Ägypten, aus der Türkei und dem Kosovo.
 
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Identität: Gestaltung des eigenen Fingerabdrucks der Schüler*innen; (Foto: Seehauserfoto)
 
Nach Abschluss des Lehrgangs können die Jugendlichen eine Arbeit oder Lehrstelle annehmen oder mit einer weiterführenden schulischen Ausbildung beginnen. In diesem Jahrgang ist das Interesse für die Gastronomie unter den Teilnehmer*innen sehr groß. Um ihnen einen Einblick in die Ausbildungsmöglichkeiten zu gewähren, besuchte die Gruppe ausgewählte Schulen im Land. Drei der Klasse haben den Lehrgang bereits verlassen, weil sie eine Lehrstelle oder einen Platz in einer Oberschule gefunden haben.
In einem Land, das notorisch über Sprachkenntnisse streitet und gleichzeitig selbst eine reiche kulturelle Vielfalt bietet, sind Initiativen wie der Orientierungslehrgang an der P. Anich – über den Bedarf an Fachkräften hinaus – eine erfrischende Alternative für Schwarz-Weiß-Denken. Selbst der Wegbereiter der Südtiroler Autonomie, Silvius Magnago, erklärte am Ende der Verhandlungen in der 19er Kommission: „Die ständige Entwicklung allen Daseins wird neue Erfordernisse schaffen, neue Gesichtspunkte und Probleme aufwerfen. Nur im Geiste der Verständigung können sie in Angriff genommen und einer Lösung zugeführt werden.“
 
Lesen Sie in Teil 1: Warum die Leiterin der Sprachenzentren Inge Niederfriniger das Projekt unterstützt und begleitet. Und: Wieso das Projekt erfolgreich ist.