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Società | Lockdown-Tagebuch

Tag 13: Fernweh

Wer seit Wochen denselben Pfad auslatscht, dem Feigenbaum am Wegesrand einen Namen gibt und dem Nachbars-Notscher einen guten Morgen wünscht, hat einen Ortswechsel nötig.

Liebes Tagebuch,

als ich jung war, da habe ich ein Auslandssemester in England gemacht. Da war es nichts Besonderes, am Wochenende zum Shoppen nach London zu fahren: Oxford Street, Portobello Market, Carnaby Street. Heute habe ich Herzklopfen, wenn ich ins C&C fahren darf um Knedlbrot zu kaufen. Die Welt ist klein geworden im Lockdown. Zusammengeschrumpft, eingedampft auf ein paar Kilometer. Dass der Aktionsradius auf die eigene Gemeinde beschränkt ist, das verleiht dem, was vorher gewöhnlich und leicht zu übersehen war, plötzlich den Reiz des Exotischen. Ich träume nicht mehr von Paris, Madrid oder Istanbul. Meine Sehnsuchtsorte heißen Vellau, Salten, Latzfonser Kreuz. Wer seit Wochen täglich denselben Pfad auslatscht, wer dem Feigenbaum am Wegesrand einen Namen gibt (Friedl) und dem Nachbars-Notscher Rudy einen guten Morgen wünscht, und sich fast wundert, dass er nicht zurückgrüßt, der hat einen Ortswechsel nötig. Dem kann so richtig das Herz wehtun angesichts der Schönheit der Platzlen, die wir hier haben und die derzeit unerreichbar sind. Die man ja kaum mehr wirklich gesehen hat, so abgestumpft und gleichgültig war der Blick. Was habe ich geschmunzelt, ein wenig stolz und ein wenig nachsichtig, weil es doch nichts Besonderes war, wenn Touristen Lobeshymnen über unser Land anstimmten: „Che meraviglia! Ma voi non sapete quanto è bello!“ Ja, doch, jetzt weiß ich es wieder. Und muss sogar ein bisschen dankbar sein, dem blöden Lockdown, dass er mir diesen frischen Blick schenkt. Dass ich bald sehr oft „Wow!“ denken werde und ein bisschen überwältigt sein werde von diesem Land. Ganz unpatriotisch, sondern einfach nur dankbar. Alles wird natürlich gut.