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Wirklichkeit im Nachsitzen

Markus Bundi hat sich in einem Essay zur Ästhetik im Spätwerk Franz Tumlers beschäftigt. Salto bringt die Vorbemerkung zu seinem Buch als Gastbeitrag.
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Foto: Filmstill: Franz Tumler - Ein Schriftstellerleben

In einem Interview, das Johann Holzner, langjäh­riger Leiter des Brenner-Archivs in Innsbruck und der Experte in Sachen Franz Tumler, der Neuen Süd­tiroler Tageszeitung (26. März 2014) gab, antwortete er auf die Frage nach „moralischen Kategorien“ im Zusammenhang mit Tumlers Verhalten während des Zweiten Weltkrieges und danach: „Was Tumler in den Jahren 1939 bis 1940 geschrieben hat, kann und soll nicht verteidigt werden. Er selber hat es später ja auch nicht getan. Aber das kann doch kein Grund sein, auch seine späteren Werke nicht zu lesen. Wir haben uns angewöhnt, Tumler nur in Hinsicht auf dieses Thema zu lesen: Wie setzt er sich vom Natio­nalsozialismus ab? Aber man kann seine Werke unter ganz anderen Gesichtspunkten lesen, zum Beispiel als Liebesromane oder als Beziehungsgeschichten. Junge Leute tun das auch.“

Ich steige mit diesem Zitat aus mehreren Gründen in den Essay ein: Zum einen hat die folgende Unter­suchung, die sich mit dem Spätwerk von Franz Tum­ler auseinandersetzt, nichts mit seiner Nazi-Vergan­genheit zu tun, zum andern aber erschiene es mir als falsch, diesen dunklen Fleck in der Biografie des Au­tors zu verschweigen. Ohne Frage zeitigt dieser Makel für die Rezeption von Tumlers Werk bis heute seine Folgen. Wer nach in Gymnasien gängigen Literatur­geschichten greift, sucht in der Regel vergeblich nach dem Südtiroler Autor. Die Einträge in größeren Lexi­ka sind, wenn es denn welche zu Franz Tumler gibt, zum Teil verwirrend oder gar befremdlich. Sei es aus einer kruden Sympathie heraus, oder sei es aus Un­wissenheit; die einen Autoren verschweigen Tumlers Parteinahme für die Nazis (und seinen Wunsch nach Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich), andere sehen ihn gar als Opfer, das ideologisch instrumentali­siert wurde. Wie die divergierenden Einschätzungen auch ausfallen, sie scheinen (fast) jede Lektüre seiner Texte von vorneweg einzutrüben, bis heute.

Freilich, auch für Franz Tumler, 1912 in Gries bei Bozen geboren und in Linz aufgewachsen, brach nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeit der Neuorientierung an, und ich meine, er stehe für ein herausragendes Beispiel der sogenannten „Trümmerliteratur". Die Schwierigkeiten zu ermessen, die ein als NS-Autor Gebrandmarkter in den ersten Jahren nach dem Krieg zu gewärtigen hatte, maße ich mir allerdings nicht an. Das Wenige aber lässt sich aus heutiger Sicht mit Si­cherheit sagen: Tumler war nicht der einzige Autor, der mit einer belasteten Vergangenheit in die zwei­te Hälfte des 20. Jahrhunderts aufbrach, und er war auch nicht der Einzige, der in einer zweiten Karriere bemerkenswerte literarische Texte veröffentlichte Franz Tumlers Werk - es umfasst über dreißig Bü­cher - lässt sich wohl sinnvoll in fünf Phasen unter­teilen.

Der Beginn, der sich vornehmlich am Überraschungserfolg seines Erstlings, der Erzählung Das Tal von Lausa und Duron (1935), festmachen lässt; seine Zeit als Blut-und-Boden-Dichter während des NS-Regimes, die Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der 1950er-Jahre, die Umsetzung eines eigenen ästhetischen Programms bis zu seinem Schlaganfall, den er 1973 erlitt; und schließlich die letzte Phase, in der nur noch kleine Texte und einzel­ne Gedichte entstanden sind. - Ich mag solche Eintei­lungen, solange sie einer ersten Orientierung dienen; denn scharfe Grenzen lassen sich eigentlich, wenn es um das Werk eines Schriftstellers geht, nicht ziehen.
So besehen fiele die Phase der Neuorientierung als die mit Abstand produktivste aus (denn in dieser Zeit entsteht zirka ein Drittel von Tumlers Gesamtwerk), und vieles spricht dafür, hierzu eine weitere Unter­teilung vorzunehmen, denn Tumlers vielleicht poe­tischste Erzählung Der Mantel (1959) zeichnet sich durch eine ganz andere Erzählweise aus, als wir sie zum Beispiel noch im seitenmächtigen Roman Ein Schloß in Österreich (1953) vorfinden.

Zwei Aspekte lassen sich in dieser Phase der Neu­orientierung leicht nachweisen: Zum einen war Franz Tumler von einer tiefgreifenden Sprachkrise erfasst, die kennzeichnend war für die Trümmerliteratur, in seinem Fall aber weit über die „Stunde Null" hinaus­ging und bis zum Beginn der 1960er-Jahre anhielt, zum andern gehörte der gebürtige Südtiroler ganz gewiss zu jener Fraktion Autoren, die immer zunächst Leser waren - sich also nicht nur umschaute, sondern die Werke anderer studierte. Welche Werke in jener Zeit auf Tumler einwirkten, was davon in seinen ei­genen Texten einen Niederschlag fand, lässt sich teil­weise ganz gut nachweisen, doch vergessen wir nicht, dass die Zeit um 1960 herum literaturgeschichtlich eine der innovativsten des 20. Jahrhunderts war, und dies nicht nur mit Blick auf den deutschsprachigen Raum. Und Tumler, dessen Hauptwohnsitz ab 1954 West-Berlin war (ab 1959 war er auch Mitglied der Berliner Akademie der Künste), befand sich quasi mit­tendrin.
Wenn ich im Folgenden mein Augenmerk auf Franz Tumlers eigenständiges ästhetisches Programm rich­te, so untersuche ich Texte, die sich - wie es darzu­legen gilt - einer Eigenständigkeit verdanken, wie sie sich der Schriftsteller über die Jahre der Neuorien­tierung hinweg erarbeitet hat. In diesen Texten - von Nachprüfung eines Abschieds (1961) bis hin zu Gründe für Abwesenheit (1974) - offenbart sich eine Erzählhal­tung, deren oberste Maxime es ist, Empfindungen der Wirklichkeit entsprechend wiederzugeben. Das klingt im ersten Moment wenig spektakulär, doch Tumlers Erzählweise (und die damit einhergehende Erzähl­anlage) verweisen auf eine tiefgründige Auseinander­setzung mit dem Dilemma, dass Empfindungen nicht sogleich vom Verstand abschließend zu interpretieren sind und sich einer Verbalisierung eigentlich immer zunächst entziehen. Zwar rekurriert ein Erzählen (welches immer ein nachträgliches In-Worte-Fassen ist) zwangsläufig auf vergangene Wahrnehmungen, doch das zu Transponierende, in Worte zu Fassende, meint nicht diese zu einem früheren Zeitpunkt sinn­lich erfahrene Oberfläche; vielmehr geht es Tumler darum, die Empfindung, die sich zum Zeitpunkt der Wahrnehmung einstellte, in Worte zu fassen - wenn­gleich dies letzten Endes nur annäherungsweise mög­lich ist. Fraglos berührt er damit auch sprachphilo­sophische und erkenntnistheoretische Fragen, denen ich meinerseits nachspüren werde, darauf setzend al­lerdings, den „Vorgang", von dem Tumler des Öfteren spricht, nicht durch allzu viel Theorie und entspre­chende Fachtermini weiter zu verschleiern, sondern diesen nachvollziehbar zu erläutern.
Die Hauptschwierigkeit im Nacherzählen liegt da­rin, dass Empfindungen im „Augenblick" (eines von Tumlers meistverwendeten Wörtern) alles andere als klar sind, viel häufiger sind diese diffus, in einer Dich­te und Vielschichtigkeit gegeben, dass der Verstand im selben Augenblick gar nicht in der Lage ist, all diese Empfindungen zu verarbeiten, geschweige denn ein Handeln zu veranlassen. Die Verarbeitung geschieht also, wenn überhaupt, in der „Nachprüfung", was für Tumler mit der „Aufschreibung" geschieht. Im Schreibend-Erinnern etabliert sich dann mitunter ein Bewusstsein, das nicht zuletzt die Differenz zwischen Empfindung und Verhalten im damaligen Moment of­fenlegt und Wirklichkeit im Nachsitzen konstituiert.

Daraus lässt sich auch die Erzählanlage ableiten und erklären, die Tumler für die im Blick stehenden Texte gewählt hat: Protagonist ist ein Ich, das aus ei­ner zeitlichen Distanz heraus Erlebtes nachzuemp­finden (ver)sucht. Weil die Nachprüfung (durchaus zu verstehen als Versuch, wenigstens nachträglich zu verstehen) zentral ist, steht das nacherzählende Ich genauso als Figur im Zentrum des Textes wie auch das(selbe) Ich in der Vergangenheit, dessen Ge­schichte erzählt wird: Erzählzeit und Handlungszeit geraten also gewollt und notwendig von vorneweg in eine Wechselwirkung. Der Schreibprozess als solches wird von Tumler mehrfach thematisiert; technisch gesprochen handelt es sich um ein doppeltes trans­zendentales Vorgehen: Die Überbrückung von Emp­findung zu Verhalten, die im Augenblick der Situation nicht, ungenügend oder nur fragmentarisch zu leisten war, wird nun sprachlich ergründet. Der wesentliche Unterschied bei der Aufschreibung ist der, dass da­für Zeit vorhanden ist. In andern Worten: Es ist das sprachliche Empfinden im Nachhinein, eine Ästhetik, die dem ursprünglichen nonverbalen Empfinden so nahe wie möglich kommen soll, durchaus im Sinne einer nachgereichten Wahrhaftigkeit.

Die Erzählanlage wiederum bedingt eine kom­plexe, recht eigentlich virtuos zu nennende Erzähl­weise. Denn die inszenierte Wechselwirkung von Erzählzeit und Handlungszeit bleibt nur solange als Spannungsfeld erhalten, wie die Differenz zwi­schen erlebter Situation damals und sprachlicher Aufschreibung erkennbar bleibt. So kann der Sprach­duktus - berichtend, schildernd, beschreibend -, der Leserinnen und Leser in die Geschichte eintauchen lässt, nicht derselbe sein wie jener, der nachempfin­dend und reflektierend eine erweiterte Sicht ins Spiel bringt. Korrekturen, Uminterpretationen oder gar Rechtfertigungen sind nur solange interessant, wie man als mitdenkender und mitfühlender Leser auch um die Ursache, die ursprünglichen Gedanken und Interpretationen, weiß.
Es sind nicht zuletzt die Widerstände, die zwi­schen Ursituation und Nachbetrachtung aufscheinen, die - technisch gesprochen - eine Form von „Rück­kopplungseffekten" erzeugen, welche den Reiz der Lektüre der späten Texte Tumlers ausmachen, indem esprochenes oder auch nur Gedachtes von damals im Nacherzählen eine andere Färbung, zuweilen gar eine andere Schlagseite bekommt.

Salto in Zusammenarbeit mit Haymon