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Ein widerlicher Protagonist

Im Roman "Der Untertan" hat Heinrich Mann einen der widerlichsten Protagonisten der Weltliteratur geschaffen. Zum 150. Geburtstag (27.3.1871) wurde das Buch neu aufgelegt
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Foto: Arne Jysch - Reclam Verlag

Was musste sich Thomas Mann über seinen älteren Bruder aufregen! Nicht nur, dass Heinrich, wenn von beiden zugleich die Rede war, meist als erster genannt wurde! Erich Mühsam etwa sprach stets von „Heinrich und Thomas Mann“, wenn das Brüderpaar in einem Atemzug erwähnte. Für den ebenfalls aus Lübeck stammenden und wie die Manns lange in München lebenden Bürgerschreck war Heinrich, noch ärgerlicher für Thomas, sogar „Deutschlands stärkster Prosadichter“. 

Sollte es einmal einen Preis für den widerlichsten Protagonisten eines Romans geben, würde Diederich Heßling ohne Zweifel weit vorne landen.

Die Ressentiments wuchsen. Längst vorbei die Zeiten, in denen sie noch gemeinsam zur Kur fuhren wie kurz nach der Jahrhundertwende, als beide sich in Mitterbad im Ultental in die Obhut des Naturheilkundlers Christoph Hartung von Hartungen begaben. In ihrer fast schon messianischen Verehrung des auch der Psychoanalyse zugetanen Reformers waren sich die rivalisierenden Brüder ausnahmsweise einig. Selbst diese Harmonie war nicht ungetrübt: Ihr Buhlen um die Gunst des hochgebildeten Arztes ging so weit, dass sie Hartungen in ihre Familienstreitigkeiten einbezogen. Gewonnen in dieser Auseinandersetzung hatte vermutlich der Ältere, denn Heinrich durfte sich nach Hartungens Tod persönlich um dessen Einäscherung kümmern. 


Neue Zwietracht säte der Erste Weltkrieg. Der Zwist schlug sich in der publizistischen Tätigkeit der Manns nieder. Ihre ideologischen Standpunkte hätten unterschiedlicher kaum sein können. Während bei Thomas nach den Anfangserfolgen des kaiserlichen Heeres in Russland und Frankreich Kriegsbegeisterung und Kaiser Wilhelm-Verehrung zunahmen, fuhr ihm der pazifistisch eingestellte Heinrich wiederholt in die hurrapatriotische Parade gefahren. An beider Haltungen änderten auch die sich vermehrt einstellenden Misserfolge auf den Schlachtfeldern wenig.
Dann endlich, der Krieg war so gut wie verloren, kam Thomas‘ Retourkutsche. In seinen Betrachtungen eines Unpolitischen belegte er Heinrich mit dem schlimmsten aller Schimpfwörter: Er schalt ihn einen ‚Zivilisationsliteraten‘. Darunter verstand Thomas jemand, der alles Deutsche niedermacht, alles Französische romantisiert, alles russisch Revolutionäre schönredet und alles westlich Demokratische verherrlicht. Ein Vaterlandsverräter halt.
Dieses Prädikat verzieh Heinrich nicht. Er kündigte dem Bruder die Freundschaft, die Verwandtschaft konnte er ihm schlecht kündigen. Einen weiteren Keil zwischen das Brüderpaar, falls dies überhaupt möglich war, trieb die auf die militärische Niederlage folgende Revolution. Am radikalsten entwickelte sie sich in München, wo Heinrich seit einem Vierteljahrhundert lebte und auch Thomas im September 1918 eine Villa bezog. Immerhin sorgte die Niederschlagung der bayerischen Räterepublik durch aus Berlin entsandte Truppen und protofaschistische Freikorps, die an die tausend Opfer forderte, wieder für eine Annäherung. Aber bis dahin sollte noch reichlich Wasser die Isar hinabströmen.
Für fortgesetzt frostige Stimmung sorgte ein Roman Heinrichs. Bereits Ende November 1911 war im Simplicissimus ein Exzerpt erschienen, Lebensfrühling, gleich als erster Beitrag. Offenbar kam er bei der Leserschaft so gut an, dass die satirische Wochenzeitschrift gleich im folgenden Frühjahr einen weiteren Auszug veröffentlichte: Neuteutonen. Passend zum Münchner Revolutionsherbst, zu dessen Triebfedern auch die Aufarbeitung der Weltkriegsschuld und -schlappe zählte, kam Der Untertan endlich auf den Markt. 

 

Vollständig abgedruckt wurde das Werk wider wilhelminische Autoritätshörigkeit bislang nur in einer russischen Version. Mehr hatte die deutsche Zensur verhindert. Lediglich ein Dutzend Exemplare waren in Privatkopie an handverlesene Empfänger gesandt worden. Nun wagte sich der Verleger Kurt Wolff an das Abenteuer, und er tat gut daran. Bis Mitte Januar 1919 folgten sechs weitere Auflagen und übertrafen die Hunderttausendermarke. 
Noch am Erscheinungstag stellte Heinrich – um rezensionsfördernde PR zu betreiben und nebenbei den Bruder ein wenig zu ärgern – einen ergänzenden Sachtext vor: Sinn und Idee der Revolution als Gegenentwurf zum im Roman karikierten kaiserlichen Obrigkeitsstaat. Die Präsentation war gleichzeitig Heinrichs erste öffentlicher Auftritt in einer neuen gesellschaftlichen Funktion: als Vorsitzender des Politischen Rates geistiger Arbeiter. Mit dieser in erster Linie aus Schriftstellern und Journalisten bestehenden Organisation gedachte Heinrich den neuen sozialistischen Ministerpräsidenten Bayerns, Kurt Eisner, zu unterstützen, da diesem als einem der ganz wenigen Politiker „die Idee über den Nutzen, der Mensch über die Macht geht.“

„Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt“. So beginnt der Roman über einen Opportunisten...

Thomas war nicht begeistert. Als „empörend hochnäsig und fanatisch-politisch“ empfand er die Äußerungen des Rates und des Bruders. Auch dem Untertan konnte er nichts abgewinnen, in seinen Worten ein „extrem aesthetizistisches Werk“, sprich: jeglicher Ernst abgehendes Buch, und das „auf eine negative Art.“
Mit dieser Meinung stand Thomas Mann ziemlich allein da. Zeitgenossen wie Kurt Tucholsky waren Heinrich zutiefst dankbar für „das Buch Der Untertan“, zeigt es uns doch, „dass wir auf dem rechten Wege sind“, weg von dem Zustand, in dem „versipptes Cliquentum und gehorsame Lügner ewig und untrennbar mit unserm Lande verknüpft“ waren. Die Beliebtheit hielt an, Heinrichs opus magnum schaffte es in den Lektürekanon sämtlicher DDR-Bildungsanstalten und wurde auch Schulklassen in der BRD, zumindest seitens progressiver Lehrer, nicht vorenthalten. 
Pünktlich zum 150.Geburtstag von Heinrich Mann legt der Reclam Verlag eine bibliophile Neuauflage vor, mit erläuterndem Nachwort und ausführlichem Kommentar und vor allem wunderschönen Illustrationen. Sie stammen vom Berliner Künstler Arne Jysch und vermitteln einen authentischen Eindruck der Atmosphäre im Wilhelminischen Deutschland. 

 

„Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt“. So beginnt der Roman über einen Opportunisten, der, um Tucholsky noch einmal zu bemühen, „untertänig und respektvoll nach oben himmelt und niederträchtig und geschwollen nach unten tritt.“ Da es im Kaiserreich keine Gerechtigkeit gab, kam der zweifelhafte Held mit allem davon, und als es ihm verdientermaßen einmal tatsächlich ans Schlafittchen gehen sollte, war er „schon entwichen.“ 
„Sollte es einmal einen Preis für den widerlichsten Protagonisten eines Romans geben“, heißt es im Reclam-Begleittext zum Buch, „würde Diederich Heßling ohne Zweifel weit vorne landen.“ Bis heute ist Der Untertan mit dem Namen Heinrich Manns ebenso verbunden wie Der Zauberberg und Buddenbrooks mit Thomas Mann. Als Heinrich kurz vor seinem 79. Geburtstag im südkalifornischen Santa Monica starb, hatten sich die Brüder längst ausgesöhnt. Auch Thomas lebte damals im Exil, im nur wenige Kilometer entfernten Pacific Palisades. Beide hatten die Rückkehr nach Europa geplant.
Das Eis zwischen beiden hatte bereits während der gemeinsamen Münchner Zeit zu schmelzen begonnen. Nach der Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten durch einen rechtsextremen Attentäter sagte Heinrich in seiner in zahlreichen Zeitungen veröffentlichen zeremoniellen Trauerrede: „Die hundert Tage der Regierung Eisners haben mehr Ideen, mehr Freuden der Vernunft, mehr Belebung der Geister gebracht als die fünfzig Jahre vorher.“ Eine Spitze gegen seinen Bruder konnte er sich dabei nicht verkneifen: Eisner, so Heinrich, habe den „Ehrennamen des Zivilisationsliteraten“ verdient. Thomas war keineswegs böse. In seinem Tagebuch klatschte er dem Bruder sogar verhalten Beifall und fand Heinrichs Verweis „nicht übel“.