Economia | Recovery Fund

Erwartungen, Ambitionen und Vertrauen

Die italienische Regierung erreicht den ersten Meilenstein im Bezug auf den Recovery Fund: Draghi präsentiert den PNRR im Parlament. Die SVP sichert Unterstützung zu.
Camera dei deputati
Foto: (c) Facebook, Camera dei Deputati

Im besten Fall eine “luxuriöse Zwangsjacke”, die zukünftige Regierungen in Italien bindet; im schlechtesten kaum mehr als eine kurze Atempause. So bezeichnet The Economist das 248 Milliarden schwere Projekt zum Recovery Fund, das Ministerpräsident Mario Draghi am gestrigen Montag der Abgeordnetenkammer des italienischen Parlaments präsentierte. Der Einsatz ist hoch: Wie Draghi gleich am Anfang seiner Ansprache betont, gehe es hier “nicht nur um eine Reihe von Projekten, Zahlen, Zielen und Ablaufdaten” sondern “um die Zukunft eines Landes und seiner Bürger und deren Rolle, Glaubwürdigkeit und Ansehen im internationalen Vergleich”.

 

 

Damit sind die Ambitionen hochgesteckt, entsprechend umfassend sind auch die Inhalte des Plans: Neben den sechs Investitionsschwerpunkten Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Mobilität, Lehre und Forschung, sozialer Zusammenhalt und Sanität, die in abgeänderter Form von der Regierung Conte übernommen wurden, wurden zudem drei übergreifende Schwerpunkte gesetzt: Frauen, junge Generationen und die Stärkung des Südens. Auch der Reformwille, was Justiz und öffentliche Verwaltung betrifft – eine Forderung der Europäischen Union – ist im 300 Seiten langen Piano Nazionale di Ripresa e Resilienza (PNRR) enthalten. Unterstützt wird der Plan unter anderem von den Vertretern der SVP.

Heute (Dienstag) liegt der PNRR dem italienischen Senat vor, am 30. April dann der Europäischen Kommission. Die konkrete Umsetzung des Plans, bei der vor allem die lokalen Regierungen zum Einsatz kommen werden, soll im Sommer beginnen.

 

Schäden beheben, Missstände bekämpfen, ökologischen Wandel vollziehen

 

Der Plan lasse sich, so Draghis Ansprache an die Abgeordneten, auf drei konkrete Ziele reduzieren: Kurzfristig sollen vor allem die durch die Pandemie verursachten Schäden im Bereich Wirtschaft und Soziales kontrastiert werden. Hier nennt Draghi unter anderem den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts, das 2020 ein Minus von 8,9 Prozent verzeichnet, sowie den Einsturz der italienweit gearbeiteten Stunden um insgesamt 11 Prozent. Zudem ist die Zahl jener, die in absoluter Armut leben, 2020 von 7,7 auf knapp 10 Prozent angestiegen. Die konkreten Auswirkungen dieser Zahlen treffen vor allem Frauen, junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren und Menschen im Süden des Landes.

Mittel- und langfristig gehe es darum, langjährige soziale und wirtschaftliche Missstände in Italien zu bekämpfen: die niedrige Produktivität, geringe Investitionen in Humankapital, aber auch das Geschlechtergefälle zwischen Mann und Frau.

Als dritte Säule für den Recovery Plan nannte Draghi den ökologischen Wandel. Von den rund 248 Milliarden, die zur Verfügung stehen, sollen rund 40 Prozent in nachhaltige Projekte investiert werden.

 

6 Investitionsbereiche

 

Die jeweiligen Zielsetzungen lassen sich in sechs Investitionsbereiche übersetzen:

1. Digitalisierung, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Kultur: 50 Milliarden für digitalen Wandel und Innovation im produktiven Sektor

2. Grüne Revolution: 70 Milliarden für nachhaltige Landwirtschaft, Kreislaufwirtschaft, Energiewende, nachhaltige Mobilität, energetische Sanierung, Wasserressourcen und Umweltverschmutzung

3. Infrastruktur für nachhaltige Mobilität: 31 Milliarden, wobei vor allem Ausbau und Modernisierung der Zugverbindungen Priorität haben werden

4. Lehre und Forschung: 32 Milliarden für die Stärkung des gesamten Bildungsweges (v. a. Kitas, Kindergarten und Einrichtungen für Vorschulkinder) sowie Forschung und deren Integration ins Produktionswesen

5. Inklusion und sozialer Zusammenhalt: 22 Milliarden für aktive Arbeitspolitik, Lehrgänge und sozialen und territorialen Zusammenhalt

6. Sanität: 90 Milliarden für die Stärkung, Modernisierung und Digitalisierung des Gesundheitswesens

 

Frauen, junge Generationen und der Süden

 

Spartenübergreifend soll der PNRR, so Draghi, vor allem jenen Gruppen zugutekommen, die von der Pandemie schwer getroffen wurden und in Italien auch sonst vielfach hohen Hürden gegenüberstehen: Frauen, jungen Generationen und dem Süden.

Um geschlechterspezifische Ungleichheiten zu überwinden, wurden unter anderem 4,6 Milliarden für den Aufbau von Kitas, Kindergärten und Einrichtungen für Vorschulkinder eingeplant. Zudem will man eine Milliarde in Ganztagsschulen investieren, um so Familie und Arbeitsleben besser in Einklang bringen zu können. Auf die Bedürfnisse junger Menschen wird unter anderem durch die Stärkung der Erwerbstätigkeiten (vor allem im grünen Bereich) wie auch durch Sport-, Freizeit- und Ausbildungsmöglichkeiten eingegangen. Für die wirtschaftliche und soziale Aufwertung des Südens sind – die von der EU verlangten 82 Milliarden Euro – vorgesehen.

 

Reformen

 

Damit die Draghi-Regierung Italien tatsächlich langfristig ihren Stempel aufdrücken kann, müssen jedoch nicht nur Investitionen getätigt, sondern auch grundlegende Reformen eingeleitet werden. Hier werden Reformen der Justiz und der öffentlichen Verwaltung genannt.

Im Bereich der Justiz geht es vor allem darum, die Prozesse zu beschleunigen. Bei zivilrechtlichen Prozessen, die in Italien im Schnitt 500 Tage dauern (zum Vergleich: in Deutschland sind es 200 Tage), soll die Behandlungszeit um 40 Prozent, bei strafrechtlichen Prozessen um 25 Prozent gekürzt werden. Digitalisierung, Vereinfachung der Prozesse sowie der Ausbau der Justiz sollen dies bewirken.

Im Bereich der öffentlichen Verwaltung sollen Wettbewerbe und Art der Rekrutierung neu aufgearbeitet werden, Prozesse vereinfacht, spezifische Kompetenzen durch Aus- und Weiterbildungen gestärkt und die Digitalisierung vorangetrieben werden. Zudem will man die Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen vereinfachen.

 

Reaktionen und Kritik

 

Der PNRR ist nicht nur mit hohen Erwartungen (Wachstum des BIP um 3,6 Prozentpunkte und Erhöhung des Beschäftigungsniveaus um 3,2 Prozentpunkte), sondern auch mit einem Vertrauensvorschuss behaftet, in- wie auch außerhalb Italiens. Schon Anfang April kündigte die Draghi-Regierung eine zusätzliche Verschuldung über 2,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes an, wovon circa 30 Milliarden für die im Recovery Plan enthaltenen Projekte vorgesehen sind. Zog eine ähnlich hohe Verschuldung vor zwei Jahren noch den Aufstand der internationalen Finanzmärkte mit sich, so ging die Entscheidung diesmal beinahe unbemerkt vorüber. Schuld ist, so die Analyse im The Economist, der Draghi-Effekt, der auch international zu wirken scheint.

Auch das italienische Parlament scheint geneigt, der Regierung Draghi in Sachen Recovery Fund zu vertrauen. Obwohl das 300 Seite lange Dokument zum Recovery Fund erst am Samstag veröffentlicht und am gestrigen Montag nochmals abgeändert wurde – und somit kaum Zeit für eine grundlegende Auseinandersetzung mit den Inhalten blieb, trifft der PNRR weitgehend auf Zustimmung. Kritik hagelte es vonseiten der momentan stärksten Oppositionspartei, Fratelli d’Italia, die sich unter anderem über die fehlende Einbeziehung des Parlaments echauffierten.

 

 

Der Abgeordnete der SVP Manfred Schullian, lobte die Regierung für die Ausarbeitung des Dokuments, betonte jedoch, dass der PNRR nur ein erster Schritt sei. Wichtiger als angestrebte Prinzipien sei die Umsetzung des Plans, wobei den Regionen und autonomen Provinzen eine zentrale Rolle – auch bei der Auswahl der Projekte – zukommen müsse (der PNRR sieht rund 90 Milliarden für Investitionen auf regionaler und lokaler Ebene vor). Hier schließt sich Schullian den Aussagen seiner Parteikollegen im Südtiroler Landtag an, die immer wieder die konkrete Umsetzung und Umsetzbarkeit der einzelnen Projekte betonten und so die im Schnellverfahren gesammelten 47 Projekte des Südtiroler Teilprojekts zum Recovery Fund verteidigen.

Einer Überarbeitung des Südtiroler Teilprojekts zum Recovery Fund scheint bis dato wenig im Wege zu stehen. Der Projektkatalog, den die Landesregierung bereits im Oktober an die italienische Regierung geschickt hat, sorgte in Südtirol zwar für heftige Diskussionen, ist in Rom bis dato aber noch kaum auf Resonanz gestoßen.

In diesen Stunden (Dienstag Mittag) wird der PNRR, der allein die Richtlinien für die Verpflichtung der Gelder festlegt, dem italienischen Senat präsentiert; am 30. April der Europäischen Kommission vorgelegt. Die Auswahl der einzelnen Projekte wird erst nach abgeschlossener Prüfung vonseiten der EU stattfinden; die ersten Gelder werden im Sommer erwartet.