Cultura | Film

Rear Window, Hitchcocks Quarantänen-Film

Vor 66 Jahren drehte Alfred Hitchcock einen Film, der seine Karriere zusammenfasste. Heute können wir nicht vor die Haustür aber ein Blick in den Hof lohnt sich dennoch.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
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Foto: Paramount Pictures

Ich setze beim Leser eine grundsätzliche Vertrautheit mit der Handlung des Filmes voraus oder anders gesagt: Dieser Text enthält kleinere Spoiler zum Ende des Films.

Kino, oder der nie endende Reichtum an Perspektiven

Wenn man in vielen aktuellen Filmkritiken über Filme liest, die schädlich, verwerflich oder gar gefährlich sein sollen, dann lässt sich diese Einstellung vielleicht darauf zurückführen, dass hier mit der Erwartung an das Kino herangetreten wird, es könne doch irgendwie die Probleme der Welt lösen. Was ja ehrlich gesagt absurd scheint: Wie sollen ein paar bewegte Bilder tatsächliche Wunden heilen? Wie sollen die Ideen, die ein gegebener Film (mutmaßlich) vertritt Prozesse und deren handfesten Auswirkungen abändern, wenn diese bereits seit langem im Gange sind? Nein, das vom Kino zu erwarten wäre zu viel verlangt. Was das Kino aber durchaus bieten kann sind nicht Lösungen, sondern Perspektiven.

Das Fenster zum Hof als ultimativer Quarantänen-Film?

Wer dieser Tage mit mit gesellschaftlicher Isolation zu kämpfen hat, kann durch Alfred Hitchcocks Schlüsselfilm "Rear Window" (dt. Titel: "Das Fenster zum Hof") deshalb zwar nicht unbedingt öfters vor die Haustür oder kommt mit der Situation vielleicht auch nicht besser zurecht, sich zwei Stunden ganz wunderbar in ihm verlieren lässt es sich aber schon. Aber warum Schlüsselfilm? An Rear Window lässt sich vieles von dem finden, was Hitchcock zum wichtigsten Regisseur einer ganzen Generation avancieren ließ; ganz besonders interessant ist davon jedoch das komplexe Verhältnis zwischen dem Individuum und seiner Umgebung, das Hitchcock hier durch James Stewart in gebrochener Form gleich auf mehreren Ebenen durchspielen lässt.

Jeff Jefferies, Ein Mann von Welt

Der von James Stewart gespielte L.B. Jeff Jefferies ist Reporter, also ein Mann von Welt. Und ans Bett gefesselt ist er obendrein. Nachdem ein Beinbruch den ehrgeizigen Karrieremann arbeitsunfähig gemacht hat, schlägt er sich mit gepflegtem Voyeurismus die Zeit tot: Von seinem Fenster aus beobachtet er den Innenhof seines Gebäudekomplexes, die kleinen Interaktionen und selbstständig zusammengereimten Geschichten, die sich vor und hinter den Gardienen der Nachbarschaft abspielen. Dabei lässt sich einen interessante Spaltung beobachten. Während sich in seiner Wohnung, auf begrenztem Raum ein großes Melodrama anbahnt (denn der höchst flexible Jefferies will sich keinesfalls an die ihm komplett verfallene Grace Kelly binden lassen) wird die Aussenwelt auch zur Innenwelt. Denn der spießige Alltag der Nachbarschaft, dem Jefferies so reserviert gegenübersteht bekommt einen finsteren Anstrich und als Jefferies einen Mord zu beobachten glaubt, schlägt sich das auch in seiner Beziehung nieder. Das morbide Detektivspiel Stewarts und Kellys wird auch zum Lustspiel, wenn er sie erst dann wirklich zu begehren scheint, wenn der Mörder sie bei der Spurensuche im Schlafzimmer erwischt. Aber da ist noch etwas viel schrecklicheres und faszinierenderes.

Dieser Obskure Spalt der Freiheit

Wenn wir den Hof auch als Reflexion betrachten können, als durch Jefferies Wahrnehmung geformtes Rohmaterial, und umgekehrt die Bedingungen zum Erzählen einer Geschichte als erotische Grundvoraussetzung für die Beziehung zwischen Kelly und Stewart, wenn also die Wahrnehmung den Gegenstand und der Gegenstand die Wahrnehmung formt, wenn wir hier von zwei Wahrnehmungsfeldern sprechen können, die nicht mehr von einander trennbar sind; wenn wir uns fragen müssen ob die Welt durchdreht oder nur der Mann, durch dessen Augen wir die Welt sehen; dann übersehen wir unverkennbar das Essentielle: Dass wir ja auch nur Zuschauer sind und einen semantischen Brei, ein Fülle von Vorgängen, die an sich vielleicht gar keine tiefere Bedeutung und unter sich keine kausalen Verknüpfungen haben, zu einer Einheit, einer Geschichte formen. Insofern lohnt sich vielleicht die Frage, wo die Schnittstelle zwischen unserer und Jefferies Wahrnehmung liegt. Und dieser Punkt ist schnell gefunden, ist er doch ganz klar topographisch markiert. Einen einzigen Spalt nach draußen gibt es nämlich in diesem Hof und er ist gleichermaßen sehendes Auge und blinder Fleck. Der Mörder wird dorthin verschwinden, die Leiche der Ehefrau und schließlich sogar Grace Kelly. Dass sich dort draußen Dinge abspielen ist klar, was das für Dinge sind ist schrecklich ungewiss. Dieser eine Spalt nach draußen ist Faszination und Abscheu, die Verheißung von Freiheit und der Abgrund der schrecklichsten Fantasien. Kurz, all unsere Haustüren.

Die Ambivalenz des Wohlgefallens

Interessant ist, wie sich am Ende alles wendet: tatsächlich ist alles so, wie es schien. Jede steile These hat sich bewahrheitet, jede paranoide Ahnung bestätigt. Frieden findet man aber trotzdem keinen. Wenn ein Filmemacher sich so leicht das Vertrauen seines Publikums erarbeitet, dann öffnet er auch einen diskursiven Raum, einen Raum für Skepsis und die Zweifel am Status Quo bleiben bestehen. Und wie werden wir reagieren, wenn sich alles in Wohlgefallen auflöst? Zwischen dem Individuum (und, in diesem Fall auch ganz persönlich: mir selbst) und der Aussenwelt hat jedenfalls lange nicht mehr ein so klares - und, ja auch bedrohliches - Spannungsfeld existiert. Denn wo die Kontrolle - also auch besonders das Alltägliche - unsicher wird, da sieht der Ehestreit aus wie der Frauenmord und wir alle werden ein bisschen zu L.B. Jefferies. Dann versuchen wir aus der Undefiniertheit der Dinge spannende Geschichten zu stricken.