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Korea – warum und wie viele?

Die Ausgabe 152 der Zeitschrift Kulturelemente wagt einen Blick nach Korea. Ein Gastbeitrag.
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Foto: Kulturelemente

Sieben Dekaden Teilung, Trennung und Trauma auf der Koreanischen Halbinsel

Vereinigung, koreanisch tongil, – ein hohes Wort, mal gelassener als Lippenbekenntnis hervorgebracht, mal mit großer nationalistischer Verve inbrünstig intoniert, in Süda- und Nordkorea gleichermaßen. Vereinigung – wer, warum und vor allem natürlich wann und wie? Fragen mit enormer Sprengkraft, wie wir nicht zuletzt auch aus der eigenen europäischen Geschichte wissen.
Wer bzw. was vereint werden soll, ist relativ einfach zu definieren: Die Demokratische Volksrepublik Korea, bekannt als Nordkorea und die Republik Korea, bekannt als Südkorea. Zuvor waren diese beiden in fast identischen Grenzen für über tausend Jahre eine einzige Nation. In beiden Landesteilen ist man sich einig, dass die eigene Geschichte schon mit der mythischen Gründung 2333 v. Chr. beginnt. Wo man dies in Südkorea aber inzwischen etwas verschämt zu „5000 Jahren Geschichte“ aufrundet, spricht man in Nordkorea mit dem Brustton der Überzeugung von „Halb-Zehntausend-Jahren Volksgeschichte“.
Einig ist man sich wiederum, dass man 1910 zu Unrecht von Japan der staatlichen Souveränität beraubt wurde. Hatte man sich in das sinozentrische Weltbild noch weitgehend freiwillig eingefügt, bleibt die Kolonialisierung durch die „Inselbarbaren“ aus dem Osten, auf die man Jahrhunderte eher abschätzig herabgeblickt hatte, als Wunde im kollektiven Gedächtnis in Nord und Süd – mit Konsequenzen bis in die heutige Tagespolitik. Die Geschichte von Kolonialisierung und Kollaboration wird in Nord und Süd unterschiedlich perzipiert, an der Reinheit des koreanischen Volks und seiner Opferrolle wird aber in keinem Landesteil ernsthaft gerüttelt.
Alles, was danach kam, ist dann ebenso tief in die jeweilige Psyche eingegraben: Trotz aller Annäherungsversuche sieht die südkoreanische Verfassung den Norden immer noch als besetzt an, auch wenn man das Wort „feindlich“ zunehmend aus der Interpretation gestrichen hat. Der Norden macht keinen Hehl daraus, dass man die Republik Korea als von den USA besetzten Marionettenstaat betrachtet. Die Stabilität dieser Narrative ist mit der Notwendigkeit der Herleitung der eigenen staatlichen Souveränität und Vorherrschaft über die Halbinsel einfach erklärt. Während man im Norden überzeugt ist, dass Kim Il Sung fast im Alleingang den Nordteil befreit habe, während der Süden von US-Imperialisten besetzt wurde, schiebt man im Süden die Teilung auf genau diesen Befreier und seine nicht unerhebliche Unterstützung durch die Sowjetunion. Dass diese Teilung dann durch den Koreakrieg 1950–1953 zementiert wurde, wird ebenfalls dem jeweils anderen angelastet.
Grundsätzlich hat Südkorea hier auch durchaus Recht, wie in vielen anderen Punkten auch. Doch beide Geschichtsschreibungen neigen zu Auslassungen. Zum Beispiel, dass der in die USA emigrierte Rhee Syngman für den Süden und der von den Sowjets erwählte, eher erfolglose Guerillakämpfer Kim Il Sung im Norden nicht nur die willigen Marionetten ihrer Satellitenmächte waren, sondern beide auch mit viel Blut an den eigenen Händen die Sicherung ihrer Macht in der jeweiligen Hälfte vorantrieben. Unterstützt wurden sie dabei von karrierewütigen Handlangern auf beiden Seiten, die wussten, dass eine Vereinigung der Halbinsel unter den Vorzeichen des Anderen mindestens das Ende ihrer Karriere, vermutlich aber sogar eine Kugel im Kopf bedeutete. Lieber eine Hälfte meins, als das Ganze zu teilen – gerne arbeitete man mit den Großmächten zusammen, Ideen von geteilter Verantwortung zwischen Nord und Süd möglichst schnell zu begraben.
Am Ende dieses Wirrwarrs stand ein Krieg mit hunderttausenden, wenn nicht sogar Millionen von Toten, die Zerstörung weiter Teile des Landes und die Zementierung der Teilung der koreanischen Kulturnation – der „unterbrochene Puls“.
Der eigentliche Bruch kam aber danach, nicht im quasi-absolutistisch regierten Nordkorea mit seinen mittelalterlichen Produktionsmethoden. Das Land ist eher die nahtlose Fortsetzung der Unterdrückungsgeschichte verschiedener königlicher Dynastien und der japanischen Kolonialherren auf der Halbinsel. Vielmehr ist es Südkorea, heute erfolgreiche Demokratie und Rechtsstaat, Exportweltmacht und IT-Riese, ja inzwischen sogar mit soft power wie Popkultur und seiner Küche weltweit erfolgreich, das die Anomalie der Geschichte, quasi der „Geschichtsbruch“ ist, den selbst die Verbündeten aus den USA nicht vorhersahen: Auf Demokratie in Korea zu hoffen, sei wie darauf zu hoffen, dass eine Rose in der Wüste wachse, so ein hochrangiger US-Offizieller wenige Jahre nach der Unabhängigkeit.


Beiderseits des Stacheldrahts blühten die Feigenblätter

Rot angetünchter Feudalstaat im Norden, hyperkapitalistische Demokratie im Süden – die Frage nach dem wie von Vereinigung wurde über die Jahrzehnte eine immer schwerer zu beantwortende. Offiziell verabschiedeten sich beide Seiten von Übernahmemodellen und verpflichteten sich immer wieder auf friedlicher Koexistenz.
Seit 1969, d.h. schon zu Zeiten der Militärdiktatur in Südkorea, beschäftigt sich eine Regierungsbehörde mit dem wie der Vereinigungsfragen. Doch 1972, als der damalige Militärdiktator Südkoreas Park Chung Hee seine rechte Hand Lee Hu-rak in geheimer Mission nach Pjöngjang entsandte, waren die Bürokraten außen vor. Lee war der Geheimdienstchef. Immerhin seit 1998 besteht das heutige Vereinigungsministerium. Doch auch nach der Demokratisierung und in der Sonnenscheinpolitik blieben über weite Strecken die Geheimdienste im Lead. Die große Politik wird im Präsidialamt gemacht, die Diplomatie im Außenministerium, militärische Fragen bleiben unter Hoheit des Verteidigungsministeriums. Das Vereinigungsministerium darf letztlich in Annäherungszeiten vor allem Eines: Geld für Kooperationsprojekte verteilen, in der Hoffnung damit Nordkorea am Gesprächstisch zu halten. Ein ehemaliger Vereinigungsminister Südkoreas bemerkte mir gegenüber entsprechend einmal, er habe den undankbarsten Job der Welt gehabt: Geht es in den Beziehungen nicht voran, schieben alle die Schuld auf sein Haus, gelingt es doch, heimse der Präsident die Lorbeeren dafür ein.
Der Norden macht es sich einfacher. Die Ausführung der Befehle der Kims obliegt dem „Komitee für die Friedliche Wiedervereinigung des Vaterlandes“. Je nachdem, wen man fragt und auf welchen Teil man schaut, könnte man dieses Organ als Geheimdienst, Schaltzentrale für Kommandooperationen oder tatsächliche diplomatische Entität betrachten. Diese Südkoreaner seien ja alle sehr bemüht, bemerkte ein erfahrener Mitarbeiter dieser Behörde mir gegenüber einmal; aber sie brächten schlicht nicht genug Geld mit.

Moonshine Policy: Du den Preis und ich den Frieden

Angesichts der unverhohlenen Verachtung, die das offizielle Nordkorea für Südkorea übrig hat, ist die Beharrlichkeit, mit der progressive Regierungen – zuletzt die Moon-Administration – versucht hat, Dialog und Annäherung mit Nordkorea zu befördern, bewundernswert.
Um Nordkorea am Gesprächstisch zu halten, tendierten liberale Kreise 2018 und 2019 dazu, eine Art „self-fulfilling prophecy“ in Gang zu bringen: Nuklearwaffen hätten Kim Jong Un nur zur Festigung seiner Macht gedient; jetzt wolle er, der er doch in der Schweiz die Vorzüge von westlichen, entwickelten Demokratien kennengelernt habe, die Entwicklung seines Landes um jeden Preis. Da er jung sei und sein Regime auf Dauer sichern müsse, habe er eingesehen, dass dies nicht in Konfrontation mit dem Ausland gehe, sondern nur durch Verhandlungen und Kooperation. Trump, Moon und Kim galten zwischenzeitlich gar als Kandidaten für den Friedensnobelpreis. Moon mit eher ungewöhnlicher, humorvoller Gelassenheit: Er überlasse gerne Trump den Nobelpreis, nehme aber selbst gerne den Frieden für sich. 
Allein, auch daraus wurde bekanntlich (wieder einmal zunächst) nichts. Zu hohl die Minimal-Formelkompromisse, auf die man sich einigen konnte, während Nordkorea seine völkerrechtswidrigen Programme weiterentwickelte. Wer zu dieser Zeit mit Nordkoreanern in einigermaßen vertraulichen Gesprächen redete, fand Kader vor, die entweder schlicht verwirrt waren ob all der Interpretationen über die eigenen Intentionen, oder genau aufgrund dieser gutgläubigen Auslegungen des eigenen Handelns ihr Glück nicht fassen konnten. Nordkorea kam gerade aus einem Marathonlauf von Völkerrechtsbrüchen und brauchte Zeit, um auf dem jahrelangen Entwicklungsweg zur Atombombe, der nur immer neue Sanktionsrunden und immer größere Isolation gebracht hatte, einmal Luft zu schnaufen.
Bei aller Kritik an den ausbleibenden Erfolgen der Annäherungspolitik. Verschiedene konservative Administrationen zuvor hatten sich an Nordkorea basierend auf eigenen Wunschvorstellungen und Zerrbildern auch schon die Zähne ausgebissen. Beide Lager eint, dass sie Nordkorea nicht als das akzeptieren, was es ist, sondern als Objekt für das betrachten, was sie glauben aus dem Land machen zu können.


Trennlinien, dicker als der 38. Breitengrad

Und hier kommt die eigentliche Frage ins Spiel: Wie viele Koreas gibt es eigentlich?
Im Rahmen dieser Betrachtung müssen die großen ethnisch koreanischen Communities in China, Japan, den USA und anderswo – insgesamt je nach Zählweise im hohen einstelligen oder niedrigen zweistelligen Millionenbereich – herausgelassen werden: Dennoch ist klar, dass auch die geradezu folkloristisch an Nordkorea gebundenen zainichi-Koreaner der Chosen Soren in Japan, aber auch die nach mehr Autonomie strebende Minderheit der Koreaner in Nordostchina ihre eigenen Vorstellungen von Nord und Süd, von Vereinigung und Bruderkonflikt haben.
Die zentrale Trennlinie verläuft aber quer durch Südkorea: Süd-Süd-Konflikt, namnam galdeung, ist ein geflügeltes Wort in Südkorea. Es beschreibt, dass es nicht nur einen Konflikt zwischen denen auf jeder Karte sichtbaren Landesteilen gibt, sondern dass genau diese Teilung auch einen tiefen Riss durch die südkoreanische Gesellschaft selbst zieht. Dieser ist auch in Südkorea zunächst geographisch organisiert, zwischen der Südwest- und Südostregion. Der neue Graben entsteht aber zunehmend zwischen Alt und Jung.
Die ältere Generation hat dabei oft noch direkte Verwandte im Norden, ist aufgewachsen in Ruinen und Lehmhütten ohne Strom und fließend Wasser. Der jungen Generation hingegen ist das Breitbandinternet in die Wiege gelegt worden. Die einmalige Entwicklungsgeschichte im Zeitraffer von einem der ärmsten Länder der Welt zur Exportweltmacht hat zwangsläufig hermetisch dichte Parallelwelten innerhalb einer der am dichtesten besiedelten Nationen der Welt entstehen lassen.
Dabei bleibt das westlich erscheinende Südkorea im Kern erzkonservativ. Einer der Gründe, warum sich koreanische TV-Dramen mit ihrer prüden Sexualmoral und klassischen Familien- und Geschlechterbildern im Nahen und Mittleren Osten großer Beliebtheit erfreuen. So setzt sich auch im derzeit laufenden Parlamentswahlkampf in Südkorea trotz Rechtstaat und Demokratie, trotz westlicher Prägung und westlicher Lebensrealität kaum jemand für die Gleichberechtigung von Minderheiten ein, während zugleich im nahe gelegenen Taiwan eine Transgender-Ministerin die Corona-Reaktion der Regierung steuert. Minderheiten – egal ob Gastarbeiter, LGBTIQ, Behinderte oder auch nordkoreanische Flüchtlinge – sind in Südkorea größtenteils auf sich allein gestellt.
Nur zwei Themen sind es, die die „Rechte“ und „Linke“, um etwas eurozentrischere Begriffe zu verwenden, in Südkorea wirklich unterscheidet: der Umgang mit der Vergangenheit und mit Nordkorea. Beide Themen bedingen einander dabei maßgeblich. Jeder Regierungswechsel bedeutet entsprechend der Tiefe dieses ideologischen Grabens denn auch einen radikalen Wandel der Nordkoreapolitik.

Crashlandungen aneinander vorbei

Kein Ansatz des Südens hat bislang zudem das Auseinanderdriften der Realitäten in beiden Ländern aufhalten können: Der Unterschied im BIP pro Kopf zwischen Nord- und Südkorea ist groß wie zwischen keinen anderen Nachbarländern der Welt. Der Unterschied in digitaler Kompetenz dürfte noch gravierender sein. Es gibt zwar auch in Nordkorea einige Elitekids, die auf Tablets vor sich hin spielen. Doch mindestens 90% der Bevölkerung können sich glücklich schätzen, wenn der Fernseher ohne Probleme ein paar Stunden am Tag die Staatspropaganda absondert.
Was wäre also, wenn man vergleichbare Nord- und Südkoreaner der jungen Generation tatsächlich einander begegnen lassen könnte, ohne Kontrolle, möglichst im luftleeren Raum? Eine Fernsehserie auf Netflix hat dies, versehen mit dicker Zuckerkruste, zu ergründen versucht: In „Crash Landing On You“ (sarang-ui bulsichak) wird eine Firmenerbin nach einem Paragliding-Unfall über die Grenze nach Nordkorea verschlagen, wo sie ein gutaussehender Elitesoldat unter seine Fittiche nimmt. Eines Morgens macht er, der Musik in Europa studiert hatte, der Dame einen Drip Coffee. Die beißen nicht, die wollen nur spielen, scheint der Regisseur der Jugend zurufen zu wollen.
Währenddessen schauen bedeutende Teile Nordkoreas heimlich nachts unter Lebensgefahr genau solche südkoreanischen TV-Serien. Erstaunlicherweise scheint der Kulturimport anders herum deutlich besser zu funktionieren: Neueste Modetrends und -wörter aus Südkorea verbreiten sich teils innerhalb weniger Wochen nach Nordkorea. In Südkorea hingegen regieren weiter Zerrbilder und Abziehbilder, die entweder nie wahr waren oder hoffnungslos veraltet sind. Befragt man nordkoreanische Flüchtlinge nach angeblich typischen nordkoreanischen Dialektwörtern, die man in jedem südkoreanischen Film über den Norden hört, erntet man vor allem verständnisloses Kopfschütteln.
Auch die jüngsten Annäherungsversuche und Versuche wie „Crash Landing On You“ haben bislang einen größeren Trend nicht aufhalten können. Politiker in Südkorea sehen sich einer immer kritischeren Jugend ausgesetzt, die vor allem interessiert, dass die Entwicklungserfolge des Südens für die nachwachsenden Generationen bewahrt werden. Vereinigung ist schlicht kein Thema mehr. Als vor rund 10 Jahren die ersten Umfragen zeigten, dass Erstwähler zu einer knappen Mehrheit die Vereinigung Koreas nicht als notwendig erachteten, löste dies dramatische gesellschaftliche Diskussionen und hilflos wirkende Bildungskampagnen aus. Heute, wo dieser Anteil zwischen 60 und 80% beträgt, erregen die Umfragen kaum noch Aufsehen.
Denn: Längst hat der pankoreanische Nationalismus der letzten hundert Jahre in Südkorea einem dezidiert südkoreanischen Nationalismus Platz gemacht, dessen Grenzen nicht in der chinesischen Mandschurei, sondern am Stacheldraht nördlich von Seoul aufhören. Man hat akzeptiert, dass Korea letztlich gefühlt eine Insel ist, wie Japan und Taiwan, die anderen ostasiatischen Demokratien. Die 25 Millionen hungrigen Verwandten aus dem Norden hat man aus dem kollektiven Streben nach Wohlstand mehr und mehr versucht auszublenden.
Trotz allem besteht Hoffnung. Auch wenn es teils über Generationen hinweg keine Kontakte mehr mit dem anderen Landesteil gab. Wenn Sie einmal eine koreanische Familie am Fluss Fleisch grillen sehen haben, dabei dem Alkohol wahrlich nicht abgeneigt den Vater schmutzige Witze erzählen haben hören, bevor alle in kollektive Gesänge und Tanz ausbrechen, merken Sie, Sie sind in „Korea“. Egal, ob im Moranbong-Park in Pjöngjang oder im Hangang-Park in Seoul.


*Der Verfasser, der Koreanisch spricht und einschlägige Studiengänge in Deutschland und Südkorea absolvierte, bereiste die Halbinsel erstmals 2002 und ist seit 2007 immer wieder beruflich auf beiden Seiten der Grenze unterwegs. Aufgrund der Sensibilität dieser Reisen wünscht der Autor anonym zu bleiben, er kann aber im Bedarfsfall über die Redaktion (Kulturelemente) erreicht werden.