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Geschichten, die in der Welt bleiben

Film ist als kollektives Medium interessant um die Wirkung eines Kollektivs zu erkunden. „A noi rimane il mondo“ des Bozner Regisseurs Armin Ferrari erkundet Wu Ming.
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Foto: „A noi rimane il mondo“
Was ist Wu Ming? Wu Ming, das bedeutet auf Mandarin nach Aussprache des Wu entweder kein, oder fünf Namen. Mittlerweile sind es drei Autoren, Wu Ming 1, 2 und 4, sowie eine lebendige Community, welche der Bozner Regisseur Armin Ferrari in seinem Dokumentar-Debüt betrachtet. „A noi rimane il mondo“ ist ein guter Einstieg in das weite Feld, welches sich um die Autoren aus Bologna ausbreitet, und bietet sich jenen an, deren Kenntnis bislang an der Oberfläche blieb. Der Film war bereits beim Biografilm Festival in Bologna und, letzten Samstag, beim Ischia Film Festival zu sehen.
Gut ist der Film darin, Zusammenhänge sichtbar zu machen, auszuarbeiten und diese zu scheinbar entfernten Themen in engen Bezug zu setzen. Man nehme etwa die zur Wu Ming Foundation gehörende Gruppierung „Alpinismo Molotov“. Nun kann man sich fragen, was Alpinismus und Antifaschismus miteinander zu tun haben und es ist im Grunde schnell erklärt: Die italienischen Partisanen verwendeten einerseits den Ausdruck „andare in montagna“, um verschlüsselt davon zu sprechen in den Kampf zu ziehen. Andererseits sind heroische Bilder und Machismus in den Köpfen der meisten Personen präsent, die an den Berg denken. Man denke hier etwa an die Stilisierungen von Luist Trenker.
 
 
Auch für abstrakte Vorgänge ist dabei im Film eine Bildsprache zu finden: Kloster Neustifts Klosterbibliothek wird zum Nichtort, zu einer Metapher von global zugänglichem Wissen. Es geht dabei um das anonyme Kollektiv Nicoletta Bourbaki, welches vertiefend die für die kritische Internetnutzung so grundlegenden Frage stellt: Wer sagt das und warum? Anhand eines an vielen Stellen bemühten Bildes aus dem Jugoslawien-Krieg, welches angeblich die Erschießung italienischer Soldaten durch ein jugoslawisches Erschießungskommando zeigen sollte startete eine Recherche, an deren Ende klar wurde, dass eine Bildbeschreibung oft lügt: Täter und Opfer sind vertauscht, Italienische Soldaten werden bei der Hinrichtung von jugoslawischen Zivilisten gezeigt.
Auch Straßenschildern widmet man sich in kritischer Weise. Zu sagen, dass Namen, die auf die Kolonialgeschichte Italiens Bezug nehmen, verschwinden zu lassen, wäre zu einfach. Lieber sorgt man im öffentlichen Raum für Denkanstöße, indem man in Bologna eigene Straßenschilder montiert.
 
 
An die Kolonialgeschichte knüpft auch der zweite in Südtirol gedrehte Abschnitt des Films an. Antar Marincola, der Neffe des schwarzen Partisanen Giorgio Marincola stellt der Mauer des Bozner Durchgangslagers Fragen, die ihm sein Onkel nicht mehr beantworten kann: Nachdem dieser ’45 mit der Auflassung des Lagers zurück in die Freiheit kam, beschloss er, statt einer Heimkehr die Fortsetzung seines Antifaschistischen Kampfs, welche ihn ins Fleimstal, bis über die Grenze ins Trentino, nach Stramentizzo führte, wo er fiel. Wie typisch für den Film, wird auch hier ein Thema behandelt, indem man auf dem Weg von A nach B auch nach links und rechts blickt: Die Geschichte bewegt und erhält durch Antar Marincola eine Stimme, die anfangs etwas zu sehr geskriptet klingt, am Ende der Reise einen Brief des Onkels vorliest, bei dem dieser Eindruck verfliegt.
Weiters befasste sich das Kollektiv mit der Via degli Dei, auch hier das gehen als gemeinschaftliche Praxis, und dem Podelta, welches Gebiete umfasst, die mit 400 Jahren aus historischer Sicht denkbar jung sind, aber auch durch das Steigen der Meeresspiegel eine kurze Lebensdauer haben dürfte. Es ist dies das vielleicht größte Talent von Wu Ming, die geeignete Landschaft zu finden, um auch Generation überschreitende Geschichten anzusiedeln.
Die Themen werden dabei nicht der Reihe nach abgehandelt, sondern nicht immer ganz schlüssig miteinander verwoben: Meist ist es eine knappe Landschaftsaufnahme die es dem Betrachter ermöglicht, bei einem zuvor aufgegriffenen Thema wieder anzuknüpfen.
Gut, dass eine Auseinandersetzung mit der Komplexität unserer Welt dadurch einfacher wird, dass sie uns auch als schön gezeigt wird. Man findet zu einer Ästhetik, die an kindliches Staunen anknüpft. Die Auseinandersetzung mit der Arbeit des Wu Ming Kollektivs kann das eigene kritische Verständnis dafür schulen, die Welt in all ihren Facetten als Resultat eines geschichtlichen Werdegangs und Zuhause zahlloser Geschichten und Metaphern zu lesen. Damit kann auch der Film Ausgangspunkt für eine große Lektüre sein, die weiter führt. Einfache Antworten auf komplexe Fragen liefert der Film dabei keine, auch weil die Themenvielfalt für eine kurze Laufzeit zu groß war.
 
 
Salto: Herr Ferrari, welches war Ihr erster Kontakt mit dem Wu Ming-Kollektiv?
 
Armin Ferrari: Mein erster Kontakt war als jemand, der ihre Arbeit schätzt, als ich etwa 2010 anfing, ihre Bücher zu lesen und dann ihrer Arbeit als leidenschaftlicher Leser für Jahre folgte. Das Kollektiv veranstaltet viele Lesereisen um ihre Bücher zu verbreiten und bei einer dieser Gelegenheiten begann ich, sie persönlich kennen zu lernen. Mit Wu Ming 2 konnte ich die Bekanntschaft vertiefen, da ich 2015 an einer von ihnen organisierten Wanderung auf der Via degli Dei von Bologna nach Florenz teilgenommen habe. Er war unser Guide auf dieser Wanderung und wenig später habe ich ihm den Vorschlag gemacht, einen Dokumentarfilm über ihre kulturelle Arbeit zu machen.
 
Der Film behandelt nicht nur das Wu Ming Kollektiv, sondern auch die Wu Ming Foundation. Welche Entscheidungen mussten Sie treffen um auf eine Laufzeit von 78 Minuten zu kommen?
 
Das hat das ganze kompliziert gemacht. Einige Entscheidungen wurden vor den Aufnahmen getroffen. Da wir uns entschieden hatten nicht nur über die Arbeit des Kollektivs zu sprechen, welches ja nur mehr aus drei Personen besteht, aber auch von vielen der Personen, die sich von ihnen inspirieren lassen um ihrerseits Kulturprojekte umzusetzen. Schon zu diesem Zeitpunkt fingen wir an, uns Gedanken zu machen, was wir auswählen können um eine möglichst vielfältige Idee dieser großen Community, die sich mit Geschichten, Landschaften, Geschichte, Politik und Gesellschaft befassen, zu vermitteln. Dann, nach den Aufnahmen kam der Schnitt, der noch einmal schwieriger war und für den wir mit Marina Baldo aus Bozen arbeiteten. Es ging nicht darum, dem Film gewisse Themen zu entnehmen, da diese bereits entschieden waren, aber viele schöne Worte und auch viele schöne Bilder und Inhalte, mussten geopfert werden um in diesen 78 Minuten eine möglichst gute Idee von den Themen, die wir ansprechen wollten zu vermitteln.
 
Von wann bis wann wurde der Film gedreht?
 
Vor COVID fanden die Projektentwicklung und die Vorproduktion statt. Die Dreharbeiten fingen am Wochenende vor dem Lockdown an. Wir haben am 7. und 8. März unsere ersten Aufnahmen gemacht und sind nach Hause gefahren, als man im Radio schon davon hörte, dass etwas Großes passieren würde. Wir waren für Monate im Stillstand und konnten, unter Auflagen unsere Dreharbeiten Ende September, Anfang Oktober fortsetzen und in den ersten Monaten 2021 unsere Dreharbeiten abschließen und mit dem Schnitt anfangen. Glücklicherweise ist es ein Dokumentarfilm, der sich mehrheitlich im Freien abspielt. Das COVID-Problem war daher relativ.
 
Die Pandemie hat im Umfeld des Kollektivs auch zu heftigen Diskussionen geführt. Warum fand dieser Aspekt keinen Eingang in den Film?
 
Als es den ersten Lockdown gab, entstand auf dem vom Wu Ming Kollektiv geführten Blog Giap eine breite Diskussion über COVID-Themen. Diese waren so groß, dass ich ihnen vorschlug, obwohl wir schon mit der Arbeit begonnen hatten, das Thema einzufügen. Sie, die äußerst gerissene und fähige Erzähler sind, rieten mir davon ab. Effektiv behandelt der FIlm Themen, die in zehn Jahren noch, oder auch vor zehn Jahren schon, aktuell sind. Von COVID zu sprechen, hätte aus dem Dokumentar etwas ganz anderes, sehr zeitspezifisches gemacht.
 
 
Das Wu Ming Kollektiv definiert sich selbst als militant. Beeinflusst das den Film, würden Sie ihn als militant bezeichnen?
 
Ich denke, auch der Film ist militant und er könnte nicht anders sein. Das zentrale Thema des Kollektivs ist die Militanz. Wir haben die Themen, die ich bereits genannt habe, in denen sich immer ein polemischer Aspekt findet. Der Versuch ist immer, die Dinge kritisch zu betrachten, aus einem anderen Licht zu betrachten. Dafür steht auch der Titel „A noi rimane il mondo“, zu versuchen, einiges anders zu machen, weil zu sehen ist, dass wir nicht in der besten aller möglichen Welten leben. In der Wu Ming Foundation versucht man, die Dinge aus einem anderen Blickpunkt zu sehen. Ein großes Thema ist auch der Klimawandel, der nun aktueller denn je ist.
 
Wie kommt es, dass ein Kollektiv, welches sich mit Themen, die unsere Welt bewegen auch den Zugang über Tolkien und das Fantastische nutzt, was für viele eine Art des Eskapismus ist?
 
Das wird im Film sehr gut von einem der Mitglieder des Kollektivs, Wu Ming 4 oder Federico Guglielmi erklärt, der Gründungsmitglied der Associazione Italiana Studi Tolkieniani ist. Tolkien sprach selbst davon, dass er die Sprache des Fantastischen verwendet um über zu seiner Zeit hochaktuelle Themen zu sprechen: Die Industrialisierung, Kriegstraumen - er hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und war von Geistern, Traumen und Ängsten verfolgt zurückgekehrt. Diese Elemente hat er in eine Fantasy-Welt übertragen. Über die Arbeit von Wu Ming 4 hat das Kollektiv angefangen zu versuchen, das Fantastische zu verwenden, um mit für ein gewisses Publikum attraktiveren Mitteln zu versuchen, über aktuelle Thematiken zu sprechen.
 
Verstecken sich im Film auch Kollektiven gegenüber kritische Aspekte oder sind Sie klar pro Kollektiv?
 
Dieser Dokumentarfilm war eine große Kollektivarbeit. Abgesehen von den Menschen, die im Film gezeigt werden und zu Wort kommen, rede ich von denen, die am Film mitgewirkt haben. Ich hatte vielleicht die Idee, ihn zu machen und zeichne für die Regie verantwortlich, aber viele Elemente haben auch Harald Erschbaumer, der Kameramann, Marina Baldo im Schnitt, Maurizio Vescovi als Tonmann, Simonluca Laitempergher der für Sounddesign und Soundtrack zuständig war, sowie der Produzent Roberto Cavallini, der mit mir das Skript geschrieben hat. All diese und weitere Menschen sind das Kollektiv, welches diesen Film gemacht hat. Hier hatten alle auch großes Interesse am Thema des Films, was wichtig ist um einen Film zu machen, der in die Tiefe geht.
 
 
Im Gegensatz zum Film ist es in der Literatur oft nicht ersichtlich, welcher Teil eines Kollektivs verantwortlich für welchen Teil zeichnet…
 
Sicher ist es einfacher ein Thema voranzutreiben, wenn mehr als eine Person darüber nachdenkt. Gleichzeitig ist es schwieriger, weil eine Person immer eine Person bleibt: Jeder denkt mit seinem eigenen Kopf und daraus eine einstimmige Botschaft zu machen ist nicht immer einfach. Ich vergleiche das kurz mit dem Film: Die drei Wu Ming sprechen alle von einem anderen Thema und nur am Ende, kommen alle Personen die im Film zu Wort kommen zusammen und gehen gemeinsam weiter. Das Kollektiv ist gut und wichtig, aber für ein gutes Kollektiv müssen die einzelnen Personen auf eine gewisse Weise arbeiten und funktionieren, um dann noch besser im Kollektiv, gemeinsam zu funktionieren.