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Der Milchkrug

Option, Auswanderung, dramatische Rückkehr: Autorin Verena Nolte erzählt die Geschichte der Zeitzeugin Paula aus Kaltern im Buch "Der Milchkrug". Ein Gespräch.
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Foto: Mila Pavan

salto.bz: Wie ist Ihnen die Geschichte für das eben erschienene Buch „zugefallen“? 

Verena Nolte: Ich hatte mit der Gestalterin des Buches Isabella von Buol bereits vorher in München zusammengearbeitet. Ihr war es wichtig, dass jemand außerhalb von Südtirol, den Blick auf diese Geschichte wirft.

 

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Paula Morandell?

Für Paula war sofort klar, dass ich ihr Buch machen soll. Und so hab ich begonnen viel über die Südtiroler Geschichte zu lesen und in Archiven zu recherchieren. Ich hab einfach versucht mir diese Geschichte anzueignen, auch wenn das ja nie enden will. Jedenfalls habe ich versucht ein stimmiges Bild für Paulas Geschichte zu entwickeln.
In Deutschland hat man sich ja sehr viel mit dem Wahnsinn Nationalsozialismus auseinandergesetzt, aber mir war nicht klar, welche große Rolle diese Geschichte in Südtirol gespielt hat. Die Option – das schreib ich ja auch im Buch – ist im Gestapo-Hauptquartier in Berlin entstanden. 

Hat die Arbeit an diesem Buch Ihren Blickwinkel auf Südtirol verändert?

Das gängige Bild zu Südtirol ist mittlerweile das Bild einer heilen Welt, einer Idylle, wo man über gewisse Dinge nicht spricht. Die Deutschen haben in der Nachkriegszeit dann auch diese Idylle gesucht. Südtirol ist mir durch dieses Projekt sehr ans Herz gewachsen. Es ist aber ein anderes Südtirol.

Wohlstand und Tourismus eignen sich gut, um gewisse Dinge zu überdecken. Warum über schlechte Zeiten reden?

Stimmt. Und es ist ja auch toll, was hier alles geschaffen wurde. Ich bin mit Paula tagelang herumgezogen. Zwar kannte ich ihre Geschichte bereits, da sie sie in kleinen Episoden bereits aufgeschrieben hatte. Ich hab dann bei ihr aber immer nachgefragt, aus Neugierde, oder wo es für mich nicht stimmig war. Aber ich musste Paula auch schonen, denn die Geschichte zu erzählen war auch eine psychische Herausforderung. 

 

Es gab ja auch Momente im Buch, wo  plötzlich – aus welchen Gründen auch immer – die Erinnerung nicht mehr so klar ist…

Ich denke, das liegt daran, dass die Erinnerung durch Emotionen hervorgebracht wird. Ich war sehr viel mit Paula unterwegs, wir sind immer wieder an die gleichen Orte gefahren und ich habe manchmal auch dieselben Fragen gestellt, weil die Erinnerung eben betrügt. Ich hab versucht aus den verschiedenen Antworten so irgendwas wie Wahrheit zu filtern.
Zeitzeugen haben es ohnehin schwer, da sie nicht ernst genommen werden und ihre Geschichten manchmal unwahrscheinlich klingen. 

Welche Erinnerungsorte haben Sie am häufigsten aufgesucht?

In Tramin und in St. Josef am See waren wir häufig auf Erkundungstour. In Tramin ging Paula ja zur Schule und hat daher eine sehr starke Verbindung zu diesem Ort. Auf der anderen Seite gibt es in Tramin noch viele unerledigte Geschichten.

 

Eine Traminer Geschichte ist dank ihrer Leistung allerdings nun erledigt, nämlich das Gerücht um den Sohn von Josef Mengele, den Paula in Tramin gesehen haben will...

Das war ein echter Zufall. Ich ging ja in Günzburg in die Schule, das war einst Mengele-Town, die Firma Mengele war dort der erste Arbeitgeber am Platz. Der Neffe vom KZ-Arzt ging mit mir sogar in eine Klasse. So fing ich bereits als Jugendliche an, über diese Geschichte zu forschen und habe mich später auch sehr ausführlich damit befasst. Und da fällt nun während des Gesprächs mit Paula plötzlich der Name Mengele. Da wusste ich noch nichts von der Rattenlinie und wie stark Südtirol davon betroffen war. Für Paula war klar, dass sie den Sohn von Mengele in Tramin gesehen hatte. Ich habe Paula aber gleich entgegnet, dass er es nicht gewesen sein kann.
Es ist gerade auch das neue Buch von Phillippe Sands Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht. Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit erschienen. Darin wird auch ein Treffen mit dem Historiker Gerald Steinacher beschrieben, dessen Aufarbeitung zur Rattenlinie auch für meine Recherchen sehr wichtig war. 

Wenn Paula heute den Milchkrug in Händen hält, tauchen vor ihren Augen all die Menschen auf, die ihr in schwerer Zeit Rettung waren.

Sie waren auch in Baden bei Wien, wo die Paula mit Ihrer Familie während der Optionszeit hingekommen war…

Diese Reise war sehr anstrengend. Wir kamen noch in das Haus hinein, wo sie gelebt und viel erlebt hat. Da kamen viele Dinge wieder hoch. Auch Semmering, dieser Ort hat sie sehr aufgewühlt.

Wie war Paulas Heimkehr nach Südtirol?

Das Heimkehren war für Paula eine wahnsinnige Enttäuschung. Die Großmutter und die Tante, die sie einst geliebt hatte, die wollten sie nicht mehr haben. Die Leute haben einfach geweint, das war unfassbar für die Kinder.

 

Sie verzichten in ihrer Nacherzählung zu Paulas Geschichte auf Südtirolismen, außer bei einem Lokal-Begriff staunt der Leser: "Falott".

Ein durchtriebener Kerl. Diese Wort hab ich hier gelernt. Paula hat es oft verwendet, auch im Zusammenhang mit den Briefen ihrer Mutter, die Falott auch häufig verwendet hat

Der Gebirgskamm Mendel ist hingegen sehr präsent...

Paulas Vater war bei der Mendelbahn angestellt. Und die Mendel ist in der Familiegeschichte der Morandell sehr verankert. Aber ich glaube, das ist bei fast jeder Kalterer oder Traminer Familie so.
Wir waren mehrmals auf der Mendel, um uns umzusehen. Das Haus ist ja mittlerweile verschwunden. Paula hat mir die leere Stelle gezeigt. Sehr seltsam, wenn man da heute auf die leere Stelle schaut, wo der Wald schon reinwächst. Aber das ist Geschichte.


Was fanden Sie noch an Verdrängtem?

Die Geschichte zur Explosion eines Pulverturms in Kaltern im Jahr 1946. Dazu las ich in den Briefen von Paulas Mutter. Die Explosion ereignete sich bei einem Sprengstofflager auf dem Militärgelände am Kalterer See und es kamen einige Menschen ums Leben. 

Bei Ihrem offenen Zugang zu Geschichte verwundert es, dass Sie bei manchen Namen im Buch Kürzel verwenden…

Ich wollte diesen Wunsch von Paula respektieren. Ganz anonym bleiben Sie ja doch nicht… 

Wie werden die Leserinnen und Leser auf das Buch reagieren?

Ein Kalterer Herr des Adels, der bislang kaum mit Paula geredet hatte, ging mit ihr einen Kaffee trinken und sagte ihr: "Ich habe gehört, du hast ein Buch über die Option gemacht. Das ist doch nicht nötig. Es gibt ja schon genug." Ich finde eine solche Aussage unglaublich. 

 

Vielleicht sollte man in Sachen Aufarbeitung zum Zweiten Weltkrieg mal bei den Adeligen nachhaken? 

Auch bei der Geschichte zur Explosion des Pulverturms am See; dazu fand ich eine Geschichte einer Adeligen, die dort in der Nähe gewohnt hatte. Wie die in diesem Zeitzeugendokument erzählt, finde ist sehr arrogant. Das ist in meinen Augen keine Zeitzeugenschaft, sondern Verlogenheit. 

Kommen wir am Schluss unseres Gesprächs an den Anfang. Der titelgebende Milchkrg taucht erst sehr spät im Buch auf...

Das war immer unser Arbeitstitel gewesen. Am Ende wollten wir ihn ändern, aber der Verlag wollte den Arbeitstitel beibehalten. Das passiert eher selten.


 

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Hartmuth Staffler Mer, 09/30/2020 - 17:39

Ich habe das Buch mit Begeisterung gelesen. Man merkt zwar, dass die Autorin keine Historikerin ist, so dass ihr manche Ungenauigkeit unterläuft, aber sie erzählt gut und, in Zusammenhang mit der Hauptperson, sehr ehrlich. Zur Option hätte sie sich allerdings etwas besser dokumentieren können. Tatsächlich sind nicht die meisten, sondern nur knapp 5000 der insgesamt 75.000 ausgewanderten Südtiroler in eroberte Gebiete gekommen (der Großteil landete ja in Nordtirol), und in Slowenien wurden zwar Slowenen von ihren Höfen vertrieben, um sie für Südtiroler freizumachen, aber es handelte sich fast immer um Höfe, aus denen nach 1918 die deutschen Besitzer vertrieben worden waren. Die Nazis hielten sich dabei an die altösterreichischen Grundbücher. Das hätte sie zumindest erwähnen können.

Mer, 09/30/2020 - 17:39 Collegamento permanente