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“Es gibt einen Cannabis-Hype”

Vielen Patienten kann es das Leben erleichtern: Der renommierte österreichische Anästhesist und Schmerztherapeut Rudolf Likar spricht über Cannabis in der Medizin.
Rudolf Likar
Foto: Salto.bz

Seit über einem Vierteljahrhundert beschäftigt sich Rudolf Likar mit einer Substanz, die immer noch als Droge stigmatisiert wird: Cannabis. Likar ist Prim. Univ-Prof. Dr. MSc und als Chefarzt der Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum Klagenfurt tätigt. Zugleich fungiert er als Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft und des Vereins “Palliative Betreuung und Fürsorge”. Am Samstag war Likar in Bozen, um gemeinsam mit Fachkollegen über Cannabis als medizinische Alternative in der Krebs- und Schmerztherapie zu referieren.

“Nicht jeder, der vorbeigeht, ist ein Patient für Cannabis”, stellt der renommierte Mediziner deutlich klar. Aber – und das ist nachgewiesen –, gezielt und unter ärztlicher Aufsicht eingenommen, “hilft Cannabis, mit Schmerzen leichter umzugehen”.

Die Hürden beim Einsatz von therapeutischem Cannabis sind so zahlreich wie die offenen Fragen über die Wirksamkeit der in der Cannabis-Pflanze enthaltenen Wirkstoffe. Andererseits nehmen die Fälle von Patienten, die positive Erfahrungen mit Cannabis machen, zu. Der früheste Fund von medizinischem Cannabis wird übrigens auf das Jahr 500 v.Chr. datiert: Im Grab einer jungen Prinzessin in Sibirien, die an Brustkrebs litt, wurde ein Säckchen mit Cannabis gefunden. Es diente wohl zur Linderung der chronischen Schmerzen. Heute wird es auch in Südtirol bei älteren Patienten genauso angewandt wie bei ganz jungen.

 

Rudolf Likar hat erst vor Kurzem hat eine Fallserie zum Einsatz von Cannabis bei Hirntumorpatienten publiziert, von der er in Bozen berichtet: “Die Schmerzen dieser Hirntumor-Patienten gehen zurück, ihre depressive Verstimmung und die Schlafqualität bessern sich eindeutig und auch die chronische Erschöpfung lässt nach. Darüber hinaus lassen die neuesten Daten darauf schließen, dass bei dieser Patientengruppe nicht nur die Lebensqualität verbessert wird, sondern dass sie auch eine längere Überlebenszeit haben.”

In Italien gibt es rund 20.000 Apotheken, etwa 3.000 davon stellen selbst Arzneimittel her. Doch nur 7-800 arbeiten auch mit Cannabispräparaten. In Südtirol ist die Bereitschaft unter Ärzten, Cannabis als Arznei anzuerkennen, nach wie vor gering. Am Bozner Krankenhaus sind es weniger als eine Handvoll, die es zu Therapiezwecken verschreiben. Dazu kommt ein enormer bürokratischer und finanzieller Aufwand bei der Beschaffung. Es mangelt an Information und Fortbildung für Ärzte, Pfleger, Konzerne und Gesellschaft.

Was tun, um den Vorurteilen den Garaus zu machen, die Akzeptanz zu steigern, den Zugang zu erleichtern? Mit diesen Fragen beschäftigte sich die Tagung “Chronisch unheilbar krank”, organisiert vom Cannabis Social Club Bozen, am Samstag. “Wir müssen Fälle sammeln, es braucht mehr Daten und Studien – ohne ist es schwer, Cannabis in der Wissenschaft eine Wertigkeit zu geben”, plädiert Rudolf Likar.

salto.bz: Herr Prof. Likar, wann sind Sie als Arzt zum ersten Mal mit Cannabis in Kontakt gekommen?

Rudolf Likar: Als Mediziner bin ich schon 1992 drauf gestoßen. Wir haben mit synthetischem THC gearbeitet, das es in Österreich damals gab. Das Problem war, dass wir anfangs nicht wussten, dass die Therapie nach dem Prinzip “Start Low, Go Slow” erfolgen sollte – und die Patienten haben Halluzinationen bekommen. Wir wussten nicht, wie umgehen, aber wir sind – noch in den 90er Jahren – draufgekommen, dass man die Dosis reduzieren muss. In Tablettenform gab es THC nur in einer Dosis von 1 Milligramm. Wir mussten von der Apotheke eine niedrigere Dosis herstellen lassen.

Bei der Abhängigkeit muss man die Kirche im Dorf lassen.

Wie ist es nach den 90er Jahren weitergegangen?

Es kehrte wieder Ruhe ein, auch international hat sich zu Cannabis nichts getan. Inzwischen wird THC nicht nur synthetisch hergestellt, sondern direkt aus der Pflanze gewonnen. Und mit CBD haben wir heute eine zweite sehr interessante Substanz.
Anders als zum Beispiel in Italien ist in Österreich die Pflanze Cannabis Medicinalis, aus deren Kraut oder Blüten Extrakte gewonnen werden, nicht zugelassen. Sondern wir haben nur Reinsubstanzen wie CBD und THC, mit denen wir sehr viel arbeiten.

Welche Anwendungsbereiche gibt es für medizinisches Cannabis?

Da muss man differenzieren, je nach Substanz und Krankheitsbild. Bei Tumor- und Palliativpatienten wird THC bei Übelkeit und Erbrechen eingesetzt. Als Add-on-Therapie. Sprich, zuerst werden andere Antiemetika (Medikamente, die Übelkeit und Brechreiz unterdrücken sollen, Anm.d.Red.) eingesetzt – wenn die keinen Erfolg mehr bringen, wird zusätzlich THC gegeben. Bei leichter und mäßiger Appetitlosigkeit wird THC als First-Line-Therapie, als Mittel der ersten Wahl verwendet, denn dort gibt es nicht viele andere Möglichkeiten. Eine ist Megrestol, ein Östrogen, das den Appetit steigert, bei Männern aber zu Impotenz führt.
Auch Tumorpatienten kann THC zur Schmerzlinderung gegeben werden. Aber erst, wenn Opiate nicht wirken. Zuerst muss man mit den Opioiden arbeiten – wenn diese nicht adäquat wirksam sind, zusätzlich mit THC.

Wo setzen Sie CBD ein?

Bei Tumorpatienten kommt das CBD dazu. Bei Hirntumoren sehen wir, dass das Wachstum vermindert wird, die Überlebenszeit der Patienten länger, die Lebensqualität besser ist. CBD ist sicher eines der interessantesten Forschungsgebiete der Zukunft. THC hat das Problem der Nebenwirkungen wie Halluzinationen und Verwirrtheit. Bei CBD gibt es die nicht. Im Gegensatz zum THC mit seinen auch negativen Wirkungen ist CBD nicht psychotrop und wird auch in Entzugsbehandlungen verwendet. Doch der Einsatz geht weit darüber hinaus. CBD wird in der Parkinson-Therapie eingesetzt und kann bei epileptischen Anfällen verwendet werden.

80-, 90-Jährige kommen und sagen: Ich will Cannabis.

Wie wirken diese Substanzen? Heilen sie Krankheiten?

THC wirkt im Gehirn, auf den anterioren cingulären Cortex oder im Bereich des limbischen Systems, das unter anderem der Verarbeitung von Emotionen dient. THC wirkt nicht direkt auf den Schmerz, aber auf die affektive, emotionale Komponente. Es ist also insofern schmerzlindernd, als dass der Schmerz zwar noch da ist, es mir aber weniger ausmacht. Davon abgesehen hat Cannabis antispastische Wirkungen, zum Beispiel bei Multipler Sklerose. CBD wirkt unter anderem antiinfiammatorisch, entzündungshemmend. Wie es auf den Tumor bzw. das Tumorwachstum wirkt, wissen wir noch nicht. Aber es dürfte auch dort Auswirkungen haben.

Gibt es für die Verwendung von medizinischem Cannabis Kontraindikationen? Wer darf es nicht einnehmen?

Bei CBD gibt es relativ wenige Kontraindikationen, weil es nicht psychotrop wirkt. Bei THC gibt es sie sehr wohl: Aufzupassen ist bei Patienten mit Herzinsuffizienz, Angstzuständen, Halluzinationen oder einer Psychose – da muss bis zur Verwandtschaft ersten Grades geschaut werden.

Wie groß ist die Suchtgefahr bei Cannabis?

Bei der Abhängigkeit muss man die Kirche im Dorf lassen. Bei Cannabinoiden gibt es schon eine Abhängigkeit – von der Substanz THC, von CBD nicht –, aber die ist im Verhältnis zu Alkohol oder Nikotin relativ gering. Die Abhängigkeitsrate liegt bei Cannabionoiden insgesamt bei circa 9 Prozent. Beim Rauchen bei 40 Prozent.

Ohne das Cannbinoid-System überleben wir nicht.

Welche Erfahrungen machen Sie in der Praxis? Wie reagieren Patienten, wenn Sie Ihnen sagen, “Ich würde Ihnen Cannabis verschreiben”? Gibt es Vorbehalte?

Nein, nein. Das Problem ist vielmehr das Gegenteil. Es gibt eher einen Hype – dass 80-, 90-Jährige kommen und sagen: Ich will Cannabis. In meinen Augen muss man aufpassen, dass das nicht in die falsche Richtung geht, dass nicht zu viele Erwartungshaltungen für etwas geweckt werden, das die Substanz noch nicht hergibt. Und noch etwas finde ich bedenklich: Wenn man hergeht und sagt, man muss die Cannabis-Therapie für den Patienten maßschneidern – so wie in der Homöopathie –, dann wird die Wissenschaft dünn. Wie soll ich eine maßgeschneiderte Therapie mit abweichender THC- und CBD-Dosis wissenschaftlich untersuchen? Ich muss schon nachweisen, dass es wirkt.

Wie ist die aktuelle Studienlage?

Die Studienlage belegt, dass Cannabis bei Übelkeit, Erbrechen – auch bei chemoinduzierter Übelkeit und Erbrechen – sowie Appetitlosigkeit wirkt. Auch bei Tumor gibt es eine wirklich starke Evidenz – was schon nicht so schlecht ist.

Was vermutlich weniger bekannt ist: Der eigene Körper produziert selbst Cannabinoide.

Ja, klar! Der Körper produziert eigene Endocannabinoide.

CBD ist eine Substanz, die für die Zukunft extrem interessant wird.

Bei welchen Vorgängen werden diese Cannabinoide freigesetzt?

Wenn ich glücklich bin – manche kennen das vom Sport oder beim Essen. Ich brauche das Cannabinoid-System, um zu überleben. Wenn es nicht wirkt, verfalle ich in schwerste Depressionen, dann funktioniert die Psyche nicht.

Wie wirkt das medizinische Cannabis auf dieses körpereigene Cannabinoid-System?

Das ist natürlich die Frage: Wie viel vom eigenen Cannabinoid-System unterdrückt man mit der Verabreichung von Cannabis? Das wissen wir alles nicht, das haben wir nicht gemessen. Es gibt nur Hypothesen. Die müssen wir erst beweisen.

Haben Sie selbst schon einmal medizinisches Cannabis an sich angewandt?

Nein. Aber das werde ich noch tun (lacht).