Società | Reportage

Vom Kampf mit der Vergangenheit

Ein kleiner Einblick in Georgiens nationale Identitätsfindung und das Spannungsfeld zwischen Russland und dem Westen
Militärparade 100 Jahre Unabhängigkeit Georgien
Foto: Julia Tappeiner

In manchen Ländern erkennt man die politische Einstellung der Menschen an ihrem ersten Satz. In Ländern, in denen hinter Sprache mehr steckt als Phonetik. Südtirol ist zum Beispiel so ein Land. Und auch Georgien gehört zu den Ländern, in denen Sprache politisiert ist. Ich merkte das Unbehagen bereits am ersten Tag, als ich die Verkäuferin im Laden auf russisch ansprach. Sie war im mittleren Alter, also während der Sowjetzeit aufgewachsen und somit der russischen Sprache sicherlich mächtig. Dennoch reagierte sie eiskalt auf mich und weigerte sich, mir zu antworten. Sobald ich es mit englisch versuchte, änderte sich ihre Haltung sofort, als sie  mich als Nicht Russische Touristin erkannte. Ganz so, wie wenn ein Milchbauer aus, sagen wir mal dem Sarntal, sich weigert, italienisch zu sprechen, obwohl er die Sprache versteht. Und so entdeckte ich eine weitere Bruchlinie, die sich durch die georgische Gesellschaft zieht. Jene, die Russland mögen und die Sowjetzeit verherrlichen, stehen jenen gegenüber, meist jungen Menschen, die sich Richtung Europa orientieren und Russland als Feind wahrnehmen.

Die Frage der Identität ist typisch für Länder des Postsowjetischen Raums. Insbesondere im Südkaukasus, der oft als Brücke zwischen West und Ost gilt. Eingekesselt zwischen der EU und Russland, ringen die Regierungen mit ihrer nationalen Zugehörigkeit: Wollen wir mit dem Westen kooperieren oder uns unserer russischen Vergangenheit anschließen? An einem verrauchten Abend in einer Bar in Tbilisi bringt eine georgische Bekannte, frische Jura Absolventin und Mitarbeiterin im Ministerium für EU-Beziehungen die Lage auf den Punkt: „Unser Präsident Margwelaschwili fährt einen pro-westlichen Kurs. Wir wollen Teil der Nato werden und sind gerade dabei, EU-Recht bei uns umzusetzen. Aber gleichzeitig hat der Präsident sehr starke wirtschaftliche Beziehungen zu Russland und investiert dort viel.“ Die Umsetzung des EU Rechts beruht auf dem Assoziierungsabkommen, das die EU mit Georgien unterzeichnet hat. Jenes Dokument, das in der Ukraine vor wenigen Jahren die Situation zum überlaufen gebracht hat und schließlich zum Ukraine Konflikt führte, da sich deren Präsident in letzter Minute weigerte, es zu unterzeichnen. Und hier beginnt das Dilemma der Region. Auf diesem Gebiet beginnt das Ringen zweier Mächte, der EU und Russland, um einen wichtigen Absatzmarkt und Transitzone für Gaslieferungen.

Die Vorgängerregierung des ehemaligen georgischen Präsidenten Saakaschwili, die nach der Rosenrevolution an die Macht kam, fuhr einen extremen Anti-Russland Kurs. Jegliche Überreste aus der Sowjetunion wurden vernichtet, Symbole, Denkmäler und Statuen abgerissen. Die Fakultät für Slawistik an der Uni wurde gestrichen und dafür mehrere private amerikanische Hochschulen gebaut. Ein Versuch, die Geschichte auszuradieren? Den Ursprung der früheren Geschichte findet man in Südtirol am Siegesdenkmal. Dort ist eine dunkle Ära in Stein gemeißelt, doch hat man, wie ich finde, eine gute Lösung gefunden: Aus schmerzhafter Erinnerungssymbolik wurde eine Mahnmal geschaffen, ein neutrales Museum, das erzählt, was passiert ist und zeigt, wie eine Lösung friedlich errungen werden kann, ohne die Vergangenheit zu vergessen oder zu verharmlosen. In Georgien findet man diesen Ort am Liberty Square, dem zentral gelegenen Freiheitsplatz. In der Mitte befindet sich eine hohe Säule, an dessen Ende eine Statue eines Mannes auf einem Pferd thront. Es ist der Heilige Georg, Schutzpatron des Landes. Er wird als Drachentöter bezeichnet und steht  symbolhaft für den Kampf gegen das Böse, in diesem Fall gegen den russischen Imperialismus. Früher stand an genau dieser Stelle eine Lenin Statue. Aber, und hier zeigt sich die Widersprüchlichkeit der georgischen Politik, war der Architekt der neuen Freiheitsstatue Herr Zereteli, russischer Hofarchitekt in Moskau, der für den Kreml arbeitet und sehr ideologische Denkmäler baut wie etwa eines von Peter dem Großen.

Werden die Georgier, die so sehr auf eine Mitgliedschaft der EU hoffen, irgendwann enttäuscht sein, wenn sie merken, dass es nicht dazu kommen wird, denn die EU spricht sich eindeutig dagegen aus? Oder wird sich Russland früher oder später bedroht fühlen, vom Heranrücken der EU an ihren Einflussbereich und militärisch vorgehen? Die Leute haben vor der zweiten Möglichkeit definitiv Angst. Zu nahe liegt der Krieg 2008, bei dem russische Truppen in Südossetien einmarschierten. Südossetien ist eine Region an der Grenze zu Russland, in der viele Russen leben. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, den Krieg begonnen zu haben. Georgien bezeichnet es als eine Invasion Russlands. Russland nach hingegen, hätten Georgische Truppen den Erstschlag gestartet, woraufhin russische Soldaten Südossetien bloß verteidigt hätten. Heute ist es eine abtrünnige Region, unbereisbar, in der immer wieder Kampfhandlungen stattfinden. Der Konflikt gilt als eingefroren.

Besonders erlebte ich diese Angst vor dem russischen Aggressor am Feiertag der 100 jährigen Unabhängigkeit Georgiens. Auf dem Liberty Square versammelten sich Tausende Menschen. Der Präsident der europäischen Kommission Juncker hielt eine Rede über die Freundschaft mit dem Westen, über westliche Werte, über Demokratie und Menschenrechte. Auch Präsidenten einzelner EU-Staaten und der Nachbarländer waren anwesend und sprachen von Unabhängigkeit und Freiheit. Nur Russland war nicht eingeladen. Der Feind. Anstatt miteinander zu reden, redet man lieber übereinander. Die Menschenmassen versammelten sich auf dem gesamten Platz und schlenderten über den Rustaveli Boulevard. Ständchen mit Musik und Theatervorführungen, Luftballone mit der georgischen Flagge überall in der Stadt. Ich ging durch die Menschenmasse und betrachtete neugierig deren Gesichter. Alle waren fröhlich und entspannt. Schließlich gedachten sie ihrer ersten Unabhängigkeit 1918. Auch wenn diese nur zwei Jahre dauerte, bis die Bolschewiken die Macht übernahmen, bedeutet diese erste Nationenbildung sehr viel für die heutige nationale Identitätspolitik. Und dass die Angst vor einer erneuten Aggression immer noch präsent ist, sah ich auch auf den Plakaten, die auf der Straße ausgestellt wurden:

Das militante Denken, die Angst vor Aggressionen und permanente Verteidigungshaltung werden wohl nicht so schnell aus den Köpfen der Menschen verschwinden. Zumindest einem Teil der Menschen. Denn es gibt noch Orte, in denen sehnsüchtig auf alte Zeiten zurück geblickt wird und man sich mit Russland identifiziert. Dorthin fuhr ich Tags darauf, in die Geburtsstadt von Josef Stalin.

Die wenigsten Menschen wissen, dass Stalin Georgier war und in einer kleinen Stadt namens Gori, wenige Kilometer nördlich von Tbilisi geboren ist. Während der Fahrt nach Gori wurde mir klar, dass ich mich allmählich aus der Hauptstadtinsel entfernte. Im Umland läuft es anders wie in Tbilisi, die Infrastruktur verschlechtert sich rapide, die Mentalität der Menschen ändert sich. Relikte aus der UdSSR, wie man sie sonst häufig in ehemals sowjetischen Ländern findet, fand ich in Georgien kaum. Ich dachte mir, wenn ich irgendwo im Land Hammer und Meißel Symbole finden würde, dann wohl in Gori. Ich kam aber acht Jahre zu spät. 2010, unter bereits genannter Regierung von Saakaschwili, wurde eine riesige Stalin Statue vom Hauptplatz der Stadt entfernt. Die Operation verlief allerdings weniger geschmeidig wie in Tbilisi, erzählte mir die nette Dame des Gasthauses, in dem ich übernachtete: „Sie kamen einfach irgendwann Nachts. Keiner hatte damit gerechnet. Sie kamen aus Tbilisi und rissen einfach unsere Stalin Statue ab. Am nächsten Tag wachten wir auf, und sie war plötzlich weg. Die Regierung wusste, dass keiner hier Saakaschwili's antisowjetische Politik unterstützte. Aus diesem Grund mussten sie die Statue in einer Nacht und Nebelaktion entfernen.“ Dafür öffnete die Stadtverwaltung ein Stalin Museum. Darin befindet sich im Innenhof eine Miniaturstatue des ehemaligen Diktators. Mit ausdrucksloser Mine betrachtet der eiserne Stalin die Straßenhunde, die sich zu seinen Füßen hinlegen und um den Innenhof schnüffeln. Oder beobachten eher die Hunde ihn? Die Lustlosigkeit, mit der das Museum geführt wird enttäuschte mich. Eine Dame saß auf einem Stuhl und schaute gelangweilt, eine andere kehrte den Treppenabsatz, eine dritte saugte den roten Teppichboden. Englische Führungen waren keine zur Verfügung. Die vier Räume des Museums sind wahllos mit Stalin Fotos und Portraits geschmückt. Ab und an ein Schild mit einem Stalin Zitat auf russisch. Einige alte Schulbücher von ihm, um seine Kaligraphie bestaunen zu können, Fotos seiner alten Lehrer. Dann, Kriegsbilder. Keine einzige Infotafel, die geschichtliche Hintergründe und Umstände erklärt, kein Wort über Stalins Gräueltaten. Eine einzige Lobeshymne an den heroisch gewonnen Krieg. Es ist eine Geschichtsaufarbeitung der anderen Extreme. Von totaler Ausradierung zu patriotischer Huldigung. Einen Mittelweg scheint es in Georgien nicht zu geben.

Schade, dass die Stadt ihr touristisches Potential nicht nutzt. Denn geographisch gesehen liegt Gori in einer Goldgrube. Neben dem stalinistischen Mehrwert, befindet sich 10 km weiter Uplisziche, eine 3000 Jahre alte Höhlenstadt. Sie war ein beliebter Stop für Händler entlang der antiken Seidenstraße und zählt heute zum Unesco Weltkulturerbe. Die Höhlen der ehemaligen Stätte sind in den Felsen eingemeißelt und dienten als Wohnräume. Bereits von weitem, wenn man darauf zufährt, strahlt der Ort etwas Mystisches aus.

Nach Uplisziche führte uns ein junger Bewohner Goris namens Schota. Er steht sinnbildhaft für den Geist der Stadt. Er war mir bereits am Tag zuvor am Busbahnhof begegnet, wo Fahrer der gesamten Stadt sich versammeln, um die wenigen Touristen für ihren Fahrdienst zu umwerben. Schota erzählte mir, wie wenig in Gori investiert wird, dass es keine Arbeit gebe. Warum er nicht nach Tbilisi gehe? „Ich mag keine großen Städte“, war seine Antwort. Im Sommer bringt er Touristen zu den umliegenden Sehenswürdigkeiten. Dort verdiene er recht gut, meinte er, da er englisch spräche. Somit gebe es für ihn kaum Konkurrenz am Bahnhof, wo alle Fahrer nur auf russisch ihre billigsten Preise herausschreiben, wie auf einem Markt. Ich fragte ihn, ob er in der Schule englisch gelernt hätte. Schota lachte: „Nein, am Bahnhof.“ Dieser Ort scheint wie ein zuhause für ihn zu sein. Warum er nicht als Guide im Museum arbeite, fragte ich ihn. Darauf hätte er keine Lust, antwortete er. Eine Leidenschaft von ihm wurde im Laufe der Fahrt dennoch sichtbar: Hip-Hop Musik. Er legte eine CD ein, Eminem dröhnte aus den Autoboxen. „Magst du Eminem?“ Fragte er, und strahlte, als ich bejahte. Als ich darum bat, das Autofenster zu öffnen, antwortete Schota nicht, zu tief war er versunken in Eminem's You better lose yourself in the music, the moment you own it, you better never let it go. You only get one shot, do not miss your chance to blow. This opportunity comes once in a lifetime. Sein Blick schweifte über die sanften grünen Hügel, die an Schottland erinnern. Vielleicht dachte er an seine Chance, die vielleicht irgendwann auch nach Gori kommen wird. Einmal im Leben.