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Die Nacht als ich sie sah

Drago Jancars Roman erzählt die Geschichte einer schillernden jungen Frau, die in den Wirren des Zweiten Weltkrieges verschwindet und von fünf Personen erinnert wird.

In einer Nacht, kurz nach Neujahr 1944, führt eine Gruppe von Tito-Partisanen Veronika Zarnik und ihren Mann Leo aus ihrem Schloss in Slowenien ab, von da an verlieren sich ihre Spuren. Aus den Erinnerungen von fünf Personen setzt sich das Bild einer schillernden jungen Frau zusammen: Pilotin, Liebhaberin von Papageien, Alligatoren und Pferden. 
Der Offizier, die Mutter, der deutsche Wehrmachtsarzt, die Haushaltshilfe, der Partisan berichten von einer unbändigen Lebensfreude, die jenseits des politischen Geschehens ein privates Idyll aufrechtzuerhalten sucht. Bis der Strom der Geschichte diese Illusion mit sich fortreißt.

Von der französischen Literaturkritik zum besten fremdsprachigen Roman 2014 gekürt. Übersetzung aus dem Slowenischen Daniela Kocmut und Klaus Detelf Olof. Erschienen im Folio Verlag.

 

Die Nacht als ich sie sah


Heute Nacht hab ich sie gesehen, als stünde sie lebendig vor mir. Sie kam durch den Gang in der Mitte der Baracke, zwischen den Stockbetten, wo meine Kameraden im Schlaf ruhig atmeten. Sie blieb an meinem Bett stehen, sah mich eine Zeitlang nachdenklich an, irgendwie abwesend, wie immer, wenn sie nicht schlafen konnte und durch unsere Wohnung in Maribor irrte, am Fenster stehen blieb, sich aufs Bett setzte und wieder ans Fenster ging. Was ist, Stevo?, fragte sie, kannst du auch nicht schlafen?

Ihre Stimme war leise, tief, fast männlich, aber irgendwie verhangen, abwesend wie ihr Blick. Ich war überrascht, weil ich sie erkannt hatte, es war so deutlich die ihre, diese Stimme, die sich mit den Jahren irgendwo in der Ferne verloren hatte. Ihr Bild konnte ich mir jederzeit vor mein inneres Auge rufen, ihre Augen, ihr Haar, die Lippen, ja, auch ihren Körper, der so oft atemlos neben mir gelegen hatte, ihre Stimme aber konnte ich nicht hören; von einer Person, die man lange nicht sieht, geht zuerst die Stimme, der Klang, seine Farbe und Kraft. Sehr lange hatte ich sie nicht gesehen, wie lange?, überlegte ich, mindestens sieben Jahre. Mich fröstelte. Obwohl draußen die letzte Mainacht war und der Frühling dem Ende zuging, der Frühling des schrecklichen Jahres fünfundvierzig, und obwohl sich schon alles dem Sommer zuneigte und es draußen warm war, in der Baracke hingegen fast stickig von der Wärme der atmenden und dampfenden Männerkörper, überlief mich bei diesem Gedanken ein Frösteln. Sieben Jahre. Über sieben lange Jahr, hatte sie damals gesungen, meine Veronika, über sieben lange Jahr, da gibt’s ein Wiedersehn, sie sang dieses slowenische Volkslied, das sie besonders gernhatte, wenn sie traurig war und diesen abwesenden Blick hatte, mit dem sie mich auch jetzt ansah, nur Gott im Himmel weiß, wann sieben Jahr vorbei. Ich wollte ihr sagen, schön, dass du gekommen bist, wenn auch erst nach sieben Jahren, Vranac ist noch immer bei mir, wenn du ihn sehen willst, wollte ich sagen, dort auf der Koppel ist er, zusammen mit den anderen Offizierspferden, es geht ihm gut, er kann auf der Wiese laufen, er braucht nicht im Stall zu stehen, er ist in guter Gesellschaft, obwohl auch er deine Hand vermisst … wie ich sie vermisse, wollte ich sagen, aber meine Stimme blieb mir in der Kehle stecken, etwas Gurgelndes und Dumpfes kam aus meinem Mund statt der Worte, die ich sagen wollte. Ich dachte, du lebst in der Burg am Fuß der slowenischen Berge, ich wollte sagen, und reitest du dort auch? Ich streckte die Hand aus, um ihr Haar zu berühren, aber sie wich zurück, ich gehe jetzt, sagte sie, du weißt ja, Stevo, dass ich nicht bleiben kann.

Ich wusste, dass sie nicht bleiben konnte, wie sie vor sieben Jahren nicht bleiben konnte, als sie unsere Wohnung in Maribor für immer verließ; wenn sie dort nicht bleiben konnte, wie hätte sie dann hier bleiben können, in der Baracke des Gefangenenlagers, unter schlafenden Offizieren der königlichen Armee, über die, aufgehängt an der Barackenwand dort neben der Tür, die Fotografie des jungen Königs wacht, in der Uniform eines Gardeleutnants, die Hand auf den Säbel gelegt, die Fotografie eines Königs, der ohne Königreich geblieben ist, unter seinen Getreuen, die ohne Vaterland geblieben sind. In dem Augenblick wieherte laut ein Pferd, ich hätte schwören können, dass es Vranac war, vielleicht hatte sie sich auch ihm gezeigt, bevor sie für immer gegangen war, vielleicht hatte er vor Freude gewiehert, als er sie in der Nähe spürte, als sie vielleicht, wie früher immer, die Hand auf seine Nüstern gelegt und gesagt hatte, Vranac, jetzt werde ich dich satteln.

Das war in der Nacht, nun ist es Morgen und überall im weitläufigen Lager sammeln sich die Soldaten zum morgendlichen Fahnenappell, noch immer hissen wir jeden Morgen die Fahne, eine Armee ohne Waffen, am Tor gehen englische Soldaten auf und ab und beobachten gelangweilt das morgendliche Gewimmel, die entwaffneten Soldaten der königlichen Armee, die aus den Zelten kommen, die Offiziere, die in Baracken untergebracht sind, noch immer bereit, über die slowenischen Berge zurückzumarschieren, ins Innere, in die bosnischen Wälder, wo eintreffenden Berichten zufolge der Guerillakampf gegen die kommunistischen Machthaber immer stärker wird. Und ich betrachte mein Gesicht im Spiegel und weiß, dass es nichts mehr gibt, keine Veronika, keinen König, kein Jugoslawien, die Welt ist in Stücke gegangen wie dieser gesprungene Spiegel, aus dem mich Teile meines unrasierten Gesichts ansehen. Ich habe nicht den Willen, mich einzuseifen und zu rasieren, den Gürtel strammzuziehen, mich in Ordnung zu bringen und zum Appellplatz zu gehen, ich sehe dieses Gesicht, über das sich in dieser Nacht Veronika gebeugt hat, und ich frage mich, ob sie mich überhaupt wiedererkennen konnte. Bin das überhaupt noch ich, Stevan Radovanović, Major, Kommandeur der Kavallerie-Schwadron der ersten Brigade, ehemaliger Hauptmann der Drau-Division, den in Maribor die Frau verlassen hat und dessen Soldaten sich hinter seinem Rücken über ihn lustig gemacht haben? Nun lacht niemand über ihn, es lacht überhaupt niemand über jemanden, weil niemandem zum Lachen zumute ist, jetzt sind alle irgendwie erbarmenswert, eine geprügelte Armee, die von kommunistischen, von Waffen und Taktik unbeleckten Wilden aus der Heimat vertrieben wurde, ist das überhaupt noch mein Gesicht, diese Augen, diese Nase, diese Wangen, durchschnitten von den Sprüngen im Spiegel, der an der Wand im Waschraum der Baracke hängt. Diese Augenringe von den durchwachten Nächten, die aussehen wie Blutergüsse, diese grauen Strähnen an den Schläfen, die aufgesprungenen Lippen und das schwarze Loch in der Reihe gelber Zähne. Dieses Loch, da war einmal ein Zahn, noch vor einem Monat, da ist an der Wand eines Bauernhauses das Geschoss eines Granatwerfers in den Bergen oberhalb von Idrija explodiert und mir ein Stein- oder Metallsplitter direkt in den Mund geflogen, sodass ich im Nu voll Blut war, aber es stellte sich heraus – nachdem ich zu mir gekommen war und mir das Blut abgewaschen hatte –, dass mir Gott sei Dank nur ein Vorderzahn fehlte, die Lippen waren allerdings ordentlich zerfranst, jetzt sind sie nur noch gesprungen, nur der Zahn fehlte mir dort irgendwo nahe der italienischen Grenze, gegen die wir uns zurückgezogen hatten, um uns zu reorganisieren, wie uns gesagt worden war, um zurückzuschlagen, wie uns gesagt worden war, doch dann haben wir uns vor Palmanova kurzerhand ergeben. Ergeben, was denn sonst, obwohl uns gesagt worden war, dass die Engländer unsere Verbündeten seien und dass wir gemeinsam mit ihnen auf die Kommunisten einschlagen würden. Einige Tage lang trugen wir noch Waffen, dann kam der Befehl, sie zu übergeben, das heißt, wir ließen zu, dass uns die englischen Soldaten schmachvoll entwaffneten, den Offizieren lie­ ßen sie ehrenvoll die Pistolen ohne Munition, vor wenigen Tagen nahmen sie uns auch die noch ab, noch das letzte Zeichen der Würde, wir sind keine Armee mehr, das ist das Ende, finis, du Königreich Jugoslawien, das Ende der Welt.

Vor sieben Jahren, als Veronika Maribor verließ, habe ich zum ersten Mal gedacht, das sei für mich das Ende der Welt. Aber jetzt sehe ich, dass das ein kleiner persönlicher Schmerz war, das Leben ging weiter und die Armee, der ich mit Leib und Seele angehörte, war noch immer da, ihre Ordnung und Disziplin, ihre berühmte Artillerie und Kavallerie, die Infanterie, alle Truppengattungen von der Glorie der Schlachten an der Kolubara und am Cer umstrahlt, wir waren Nachfolger und Erben des serbischen Sieges, eines der größten in der europäischen Geschichte, wir Offiziere waren geachtet und geschätzt, die Welt war noch immer heil und das Leben hatte trotz Veronikas Weggang seinen Sinn. Kaserne, Manöver – die Pflichterfüllung überdeckt schon von sich aus die persönliche Trauer, gibt einem das Gefühl der Ehre und die Verteidigung der Heimat das Gefühl einer hö­ heren Sendung, der persönliche Verlust muss sich dem unterordnen. Ich war ein mustergültiger Offizier, das muss ich von mir schon sagen, an der Akademie habe ich die allgemeinen und speziellen Prü­ fungen mit Auszeichnung absolviert, bei allen Manövern, die in jenen Jahren immer häufiger waren, erntete meine Einheit Lob.

Im Frühjahr des Jahres siebenunddreißig wurde meine KavallerieSchwadron von Niš nach Ljubljana versetzt. Soweit ich es verstand, handelte es sich um eine taktische Verstärkung der Drau-Division, die wegen der politischen Ereignisse in Deutschland zur zentralen Verteidigungsmacht der Nord- und Westgrenze des Königreichs wurde. Wie überall, fand ich mich auch dort gut zurecht. Das Leben eines Soldaten sind nicht die Städte, in denen er zeitweilig leben muss, sondern die Kaserne, der Exerzierplatz, die Armee, mein Leben, das waren die Armee und – die Pferde. Ich war, das muss ich schon sagen, der beste Reiter in der Einheit, die ich befehligte. Es ist nicht einerlei, ob ein Kommandeur aus der Schreibstube oder bei Manövern aus einem Geländewagen Befehle erteilt – ein Kommandeur, der an der Spitze seiner Einheit reitet, ist etwas völlig anderes. Von meinen Soldaten verlangte ich, was ich schließlich auch von mir selbst verlangte, regelmäßiges Exerzieren auf dem Reitplatz, Beweglichkeit, Geschicklichkeit, Pflege der Pferde, Sauberkeit, frisches Wasser, der Striegel in der Hand war für mich genauso wichtig wie der gezogene Säbel, mit dem man in den Angriff reitet, oder wie der Karabiner auf der Schulter, den man auch während des Reitens herunternehmen und durchladen muss. Die Kavallerie ist die edelste Gattung des Militärs. Die Kavallerie spuckt auf die Infanterie hinunter, pflegte Major Ilić zu sagen, wenn er gut gelaunt war. Wenn er gut gelaunt war und sagte, dass die Kavallerie auf die Infanterie hinunterspucke, fand sich immer einer, der dazusagte: und schifft auch auf sie … Wir waren gut gelaunt, wir waren stolz wie die polnischen Ulanen, die mutigste leichte Kavallerie, die die Welt kennt. Außerdem liebte ich Pferde, ich war zum ersten Mal geritten, als ich sieben war, mein Vater war Pferdehändler, ich kümmerte mich um die Pferde und redete schon seit meiner Kindheit mit ihnen, nicht zufällig landete ich in der Kavallerie. Und mit ihr, mit der Kavallerie, wenn ich jetzt darüber nachdenke, vermutlich auch nicht zufällig in Ljubljana. 

Dort bin ich Veronika begegnet. Zu ihr brachte mich – ihr Mann. Und zu ihrem Mann brachte mich mein Kommandeur, Major Ilić. Ich kann mich genau an jenen Vormittag im Sommer erinnern: Es war heiß, im Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln beaufsichtigte ich auf dem Reitplatz eine Übung im Wenden auf der Stelle. Dann ließ ich die Rekruten Volten reiten und die letzten Minuten mit lockerem Zügel zu den Stallungen traben. Und jetzt, sagte ich, die feuchten Stellen am Pferderücken, vor allem unter dem Sattel, mit sauberem Wasser waschen. Dann der Striegel, klar? Ich vergaß nie, das zu befehlen, denn ich wusste, dass sie Faulpelze waren, alle Rekruten sind Faulpelze, sie würden das Pferd im Stall abstellen und sich selbst auf die erstbeste Wiese hauen, in den Schatten an der Stallwand, auch wenn dort der Dung liegt, ganz gleich wohin. Ich wollte ihnen noch erklären, warum Pferdepflege so wichtig ist, als ein Kurier kam, salutierte und sagte, Major Ilić lasse mich ins Hauptquartier rufen.

Mit ernster Stimme fragte er mich, ob ich bereit sei, eine ganz besondere Aufgabe zu übernehmen. Ich war immer bereit, jede Aufgabe zu übernehmen. Die Frau seines Freundes, eines hiesigen hohen und vornehmen Herrn, eine junge Dame, habe einen englischen Hackney geschenkt bekommen und würde nun auch gerne reiten lernen. Ich sah, dass sich der Ordonanzoffizier und der Schreiber, die mich aufmerksam ansahen, kaum das Lachen verkniffen. Statt dich mit dummen Rekruten herumzuschlagen, sagte Major Ilić, wirst du eine Zeitlang Reitlehrer spielen. Ich hatte keine Abneigung gegen die Arbeit mit dummen Rekruten, die sich unter meiner Führung am Ende fast alle in ausgezeichnete Reiter verwandelten, ich empfand Abneigung gegen den Gedanken, einer verwöhnten und reichen jungen Dame Reitunterricht zu geben, ich hatte ja schließlich alle allgemeinen und speziellen Prüfungen an der Akademie deshalb mit Auszeichnung bestanden, damit ich dem König und dem Vaterland dienen konnte. Auch auf diese Weise kann man dem König und dem Vaterland dienen, sagte Ilić, als hätte er meine Gedanken gelesen, außerdem ist es nur für zwei Monate, bei den Herbstmanövern führst du wieder die Schwadron an. Ich sagte, ich stehe zur Verfügung, was soll ein Soldat anderes sagen. Dann sah mir Ilić eine Zeitlang in die Augen. Stevan, mein Sohn, sagte er mit väterlicher Stimme, als würde er mich in eine Schlacht schicken, ich lege dir etwas ans Herz. Offiziersehre, sagte er. Du weißt, was Offiziersehre ist. Ich verstand, was er meinte. Dass mit der Dame mit pflichtschuldigem Respekt umzugehen sei. Ich weiß, sagte ich. Dann ist ja alles in Ordnung, schmunzelte Major Ilić. Und der Ordonanzoffizier, der sah, dass der offizielle Teil des Gesprächs beendet und der Major gut gelaunt war, setzte hinzu: Und pass auf, dass dich ihr Alligator nicht beißt. Jetzt lachten alle drei. Was für ein Alligator? Wirst schon sehen, sagte Ilić, rühr dich, du kannst gehen. 

 

Der Autor Drago Jančar, geboren 1948 in Maribor, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Sloweniens. 1974 wurde er wegen „feindlicher Propaganda“ inhaftiert. Zahlreiche Preise, u. a. Prešeren-Preis 1993, Jean-Améry-Preis für Essayistik 2007, Prix Européen de Littérature 2012. Seine Romane, Essays und Stücke wurden in viele Sprachen übersetzt. Bei Folio: Die Erscheinung von Rovenska (Erzählungen, 2001), Brioni. Und andere Essays (2002), Luzias Augen (Erzählungen, 2005), Katharina, der Pfau und der Jesuit (Roman, 2007), Der Baum ohne Namen (Roman, 2010). Nordlicht (2012), Der Galeerensträfling (2015).

Die Nacht, als ich sie sah. Folio Verlag. Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut und Klaus Detlef Olof. Reihe TransferBibliothek CXXV. ISBN 978-3-85256-670-2

Platz 1 – ORF-Bestenliste im Dezember

Buch des Monats im Oktober 2015 – Darmstädter Jury

Bester fremdsprachiger Roman 2014 in Frankreich