Cronaca | Entgegnung

Hilfeverweigerung

Geht’s noch, Herr Mayr?
to drown
Foto: (c) unsplash

Ist jetzt der Tiefpunkt zivilisierter Diskussion erreicht? Vor drei Monaten habe ich hier geschrieben, „die Direkte Demokratie hat ihre Unschuld verloren“. Es war, als Stephan Lausch auf den Bozner Talferwiesen bei der Großkundgebung der No-Vax-Bewegung für sein Referendum warb und den ausgewiesenen Narren am Rednerpult Beifall klatschte. Heute muss ich sagen: Nicht nur die direkte Demokratie, die demokratische Diskussion insgesamt ist perdu. Was Wolfgang Mayr auf salto.bz unter dem Titel „Für die Triage gegen Impfverweigerer und den Umgang mit diesen schreibt, ist Hetze. Und weil er vorgibt (vermutlich zu Recht) für eine Mehrheit im Land zu sprechen, mich eingeschlossen, ist es doppelt verwerflich. 

Wolfgang Mayrs salto-Beitrag unterbietet an Menschenverächtlichkeit noch das, was von Impfverweigerer-Seite bislang zu hören war

Die Hass-Rede, die wir biser der widerstrebenden Minderheit der Impfverweigerer angelastet haben, ist definitiv nicht mehr deren Alleinschuld. Auch die Mehrheit der Impfbefürworter kann Hass. Und Wolfgang Mayrs salto-Beitrag unterbietet an Menschenverächtlichkeit noch das, was von Impfverweigerer-Seite bislang zu hören war. Er belässt es nicht dabei, die Gegenseite zu beschimpfen. Es reicht ihm nicht, sie der Verantwortungslosigkeit zu zeihen und auch nicht, ihnen vorzurechnen, was ihre Starrhalsigkeit die Gesellschaft und jede und jeden von uns einzelnen kostet. 

Damit könnte ich einverstanden sein. Doch nein, reicht ihm nicht. Er will Vollstreckung. Er beginnt seinen Beitrag mit der Frage, ob Impfverweigerer überhaupt noch „Anspruch auf Behandlung“ hätten. Aber geht’s noch! Ist diese Frage in unserer Zeit (sagen wir: nach jener finsteren, unaussprechbaren Zeit) je öffentlich gestellt worden? Sind wir so weit, dass die Frage wieder stellbar ist? Es ändert nichts an der Schwere, dass Mayr derlei Fragen gern irgendwelchen Berühmtheiten in den Mund legt. Er fragt. Und er fragt Unfragbares.

Als Journalist kennt Mayr den Zunftsatz „Es gibt keine dummen Fragen, es gibt nur dumme Antworten“. Er selber bedient sich ausgiebig dieses Freispruchs und gibt zu seiner dummen Frage die noch dümmeren Antworten. Verbotene Antworten, müssten man statt dümmeren sagen. Dankbar nimmt er einen angeblichen Sager der No-vax-Fanatiker auf: „Lieber stehend sterben statt kniend leben!“ Ein alter Terroristen-Gassenhauer, angewandt halt auf den Corona-Feldzug. Und prompt fordert (fragend natürlich) der Journalist, „warum Covid-erkrankte Impfverweigerer im Krankenhaus aufnehmen?“. Die Krankenhäuser sollen das nicht, Arzt- und Pflegepersonal haben so „schon genug zu tun. Nehmen wir keine Rücksicht mehr auf diejenigen, die auch keine Rücksicht auf uns nehmen“. 

 

Wolfgang Mayr nimmt für sich in Anspruch, für „unsere liberale Gesellschaft und den liberalen Rechtsstaat“ zu sprechen. Eine schöne liberale Gesellschaft und ein schöner Rechtsstaat wären mir das! Verweigerung von Hilfeleistung ist das. Schlimmer noch: Aufhetzung dazu. Und das ist zweifach eine Straftat. Der übelste Verbrecher hat Recht auf Hilfeleistung. Nicht nur unsere Verfassung sieht das so. Und wem das christliche Gebot der Feindesliebe zu kitschig ist, der denke an die Antike. In Sophokles’ Antigone steht schon, dass kein Feind am Feld liegen gelassen bleiben darf. „Schließt die Intensivstationen für impfverweigernde Covid-Erkrankte!“ ist noch so ein geifernder Aufruf aus Mayrs Pamphlet. Ich höre auf, Flegeleien zu zitieren. 

Wolfgang Mayr hat vermutlich in guter Absicht geschrieben. Es ist ihm nicht mildernd anzurechnen. Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut, und diesmal ganz bestimmt. Ich bin sicher, er hat seiner (meiner, unserer vieler) Sache einen Bärendienst erwiesen. Wir Impfbefürworter können jetzt definitiv nicht mehr unsere Gegner (Gegner in diesem Fall) der Hass-Rede, des Gesetzesbruchs, der Verantwortungslosigkeit zeihen. Wir sind nicht besser. Wir schrecken, wenn es hart auf hart kommt, vor den übelsten Verurteilungen nicht zurück. Die liberale Gesellschaft und der Rechtsstaat werden nicht durch die gegenwärtige Politik  des Gesprächs „gelähmt“, wie Mayr unwissend schreibt. Rechtsstaatverletzend und antiliberal ist, was er fordert. 

Wenn es einen zivilisatorischen Fortschritt gibt, sehen wir zu, dass wir nicht erst am Friedhof zu solcher Einsicht finden

Der traurige Vorfall erinnert mich an ein schönes Gegenbeispiel. Ich habe es in der Abgeordnetenkammer zu einem bestimmten Anlass erzählt und damit einigen Eindruck gemacht. Im Herbst 1977 begingen die Köpfe der Baader-Meinhof-Bande (Rote Armee Fraktion) im Hochsicherheitsgefängnis Stammheim bei Stuttgart Selbstmord. Die Stimmung in ganz Deutschland war nach der vorangegangenen Ermordung des Unternehmerpräsidenten Martin Schleyer total aufgeheizt. Die Menschenmassen hätten die Leichen der Terroristen geschändet, wären sie ihrer habhaft geworden. Da war es der damalige Oberbürgermeister Manfred Rommel (CDU), Sohn des legendären Wehrmachtsgenerals Erwin Rommel, der gegen den geballten Volkszorn anordnete, dass die Terroristen ordentlich am Stadtfriedhof beerdigt wurden. „Mit dem Tod hört die Feindschaft auf“, beschied der Oberbürgermeister.

Das nenne ich liberal und rechtsstaatlich. Und humanistisch. Auf heute und die so sehr beklagte „Spaltung der Gesellschaft“ angewandt: Wenn es einen zivilisatorischen Fortschritt gibt, sehen wir zu, dass wir nicht erst am Friedhof zu solcher Einsicht finden. 

  

 

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Peter Gasser Mer, 12/08/2021 - 12:27

In risposta a di Hermann Aichner

Sie erlauben den Hinweis, dass ich damit „jeder selber entscheiden kann ob er übermäßig Alkohl trinkt oder nicht, ob er sich gesund ernährt oder mit Fastfood krankisst“ keine anderen Mitmenschen gefährde, es sich bei Covid-19 hingegen um eine ansteckende Seuche handelt, wobei ich auch andere gefährden kann, also auch diese meine Wirklichkeit gegenüber dem Mitmenschen mit in die Risikoanalyse aufnehmen muß?
Die Abwägung Risiko/Nutzen im Hinblick auf Infektion/Impfung ist gemäß Fachwissen ab dem 12. Lebensjahr, so die aktuelle Daten- und Faktenlage, eindeutig auf Seite der Impfung: man kann dies nun persönlich und als Laie ignorieren bzw. anders sehen - warum man dies aber nur bei der Corona-Impfung im Gegenpol zur Fachkenntnis macht, und nicht etwa auch bei Beinbrüchen, Herzinfarkt, Blutvergiftung, ist mir ein Rätsel. Sie benutzen auch den Computer, obwohl es nachgewiesene Morbiditäten an Wirbelsäule, Augen, Handsehnen verursachen kann: hier wird dieser absolute Ansatz nicht angewendet - warum diese unterschiedliche Vorgehensweise, frage ich mich in diesem Zusammenhang.
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Ich stimme Ihnen aber zu: nicht „Impfgegner“ versus „Impfbefürworter“ sollen Basis der Diskussion sein, sondern ausschließlich der Gegenstand selbst: die Corona-Pandemie, der exponentielle Seuchencharakter, die Impfung, die Hospitalisierung.
Auch hierzu eine Frage: trägt man neben seinem individuellen Anrecht „als mündiger Bürger“ auch die Pflicht, sich an der demokratischen Mehrheitsentscheidung der Gesellschaft zu beteiligen, mit?
Ich bin Ihnen freundlich gesinnt.

Es sei aber gestattet, dass man dies aufzeigen darf, und den fatalen Unsinn, der hierbei vielfach betrieben wird:

https://www.suedtirolnews.it/italien/erschreckend-impfgegner-mit-vitami…

Mer, 12/08/2021 - 12:27 Collegamento permanente
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Sepp.Bacher Mer, 12/08/2021 - 14:07

In risposta a di Hermann Aichner

Herr Aichner! Ich würde Ihre Haltung voll unterschreiben, wenn es nur um die eigene persönliche Risiko-Nutzen Analyse ginge, denn in diesem Falle haben Sie recht. Sie machen aber einen entscheidenden Denkfehler, denn es geht bei einer ansteckenden Krankheit und vor allen bei einer Pandemie in erster Linie um Verantwortung gegenüber dem Nächsten, der Familie, der Dorfgemeinschaft, dem Land und dem Staat; also gegenüber der Gesellschaft. Sie können nicht nur persönlichen Nutzen und eigenes Risiko abwägen, sondern müssen eben die anderen mit einbeziehen.
Leider ist diese Logik heute nicht mehr sehr populär, deswegen müssen Sie mindestens die Vorgaben der medizinisch und politisch Verantwortlichen respektieren und sich nach denen richten. Diese handeln nicht nach Willkür, sondern aus Verantwortung gegenüber der Bevölkerung. Können Sie das nachvollziehen? Demokratie heißt, sich nach der Mehrheit zu richten!

Mer, 12/08/2021 - 14:07 Collegamento permanente