Politica | Interview

Ethik oder Religion?

Der Landtag stimmt diese Woche - im Rahmen des Begleitgesetz Haushalt - über ein verpflichtendes Alternativangebot zum freiwilligen katholischen Religionsunterricht ab.
Achammer, Philipp
Foto: LPA

Salto.bz: Herr Landesrat Achammer, der Südtiroler Landtag stimmt diese Woche darüber ab, ob es ein verpflichtendes Alternativprogramm zum freiwilligen Religionsunterricht geben soll. Wie soll das aussehen?

Philipp Achammer: Ich möchte vorausschicken, dass bei uns die Bestimmungen anders sind als im restlichen Staatsgebiet. Während man sich im restlichen Staatsgebiet bei Schuleinschreibungen ausdrücklich für den Religionsunterricht anmelden muss, muss man bei uns ausdrücklich erklären, dass man darauf verzichtet. Wir haben eine Quote von etwa 12 %, die im Moment auf den Religionsunterricht verzichtet. Dabei gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Schulstufen und den einzelnen Gebieten. Einige Schulen - in denen die Verzichtrate bei 40-50 % liegt - bemühen sich bereits jetzt darum, fakultative Alternativprogramme im Bereich Wertebildung und - vermittlung und Dialog anzubieten. In Bozen und Meran Untermais zum Beispiel. Im Wesentlichen sind diese Alternativprogramme Formen von Ethikunterricht.

 

Wir haben eine Quote von etwa 12 %, die im Moment auf den Religionsunterricht verzichtet.

 

Ethikunterricht und Religionsunterricht werden in einer gewissen Weise also gleichgesetzt. Drehen wir die Frage mal um: Inwiefern kann denn ein Religionsunterricht den Ethikunterricht ersetzen?

Der Religionsunterricht ist lang nicht mehr der, den einige als Vermittlung von Glaubenssätzen in den Köpfen haben. Auch wenn es noch immer ein katholischer Religionsunterricht ist, hat er sich über die letzten Jahre stark weiterentwickelt - auch deshalb, weil viele Kinder mit anderen Konfessionen in den Klassen sitzen. Heute beinhaltet der Religionsunterricht vor allem einen Austausch über zentrale Lebensfragen, gegenseitigen Respekt und Toleranz gegenüber anderen Konfessionen. Er kommt der momentanen Situation also gerecht. Wenn jetzt 12 % von ihrem Recht Gebrauch machen, nicht am Religionsunterricht teilnehmen zu wollen - was natürlich eine freie Entscheidung ist - finden wir es mehr als bedauerlich, dass ein Kind über die ganze Schulzeit hinweg nicht die Möglichkeit hat, sich mit diesen Themen zu befassen. Natürlich können diese Themen auch in anderen Fächern aufgegriffen werden. Die gezielte Möglichkeit, über Werte, Toleranz, Respekt, friedliches Zusammenleben, Orientierung oder die Grundrechte unserer Verfassung zu sprechen, fehlt aber.

Das heißt, jene Kinder, die den Religionsunterricht besuchen, sind vom Ethikunterricht befreit?

Richtig. Es geht um ein verpflichtendes Alternativangebot für jene, die auf den Religionsunterricht verzichten.

Sie sprechen die Grundrechte der Verfassung an. Diese und ähnliche Inhalte sind sicherlich auch für jene Kinder und Jugendliche interessant, die den verpflichtenden Religionsunterricht weiterhin besuchen.

Ich glaube, dass der Religionsunterricht das heute schon macht. Ich habe vor einigen Jahren eine Veranstaltung organisiert, in der die Organisation der Religionslehrpersonen den Religionsunterricht vorgestellt hat. Dabei hat sich gezeigt, dass viel über elementare Grundrechte, Gleichberechtigung und Respekt diskutiert wird. Zudem hat das morgige Unterrichtsfach Ethik sicherlich mehrere Schnittmengen auch mit Fächern gesellschaftlicher Bildung oder Philosophie. Die Inhalte sind also nicht völlig losgelöst.

 

Im heutigen Religionsunterricht wird viel über elementare Grundrechte, Gleichberechtigung und Respekt diskutiert.

 

Ich kann mir vorstellen, dass an einigen Schulen nur sehr wenige auf den Religionsunterricht verzichten. Wird für sie eine eigene Lehrperson an die Schule geholt? Wie können wir uns das konkret vorstellen?

Das muss noch genau diskutiert werden. Unsere Absicht ist jene, dass Lehrpersonen, die dieses Alternativangebot unterrichten, entsprechend darauf vorbereitet und ausgebildet werden. In Grundschulen könnten eventuell auch die Klassenlehrer diese Aufgabe übernehmen. Aber die organisatorischen Aspekte - und die Inhalte - müssen noch genau definiert werden. Hier werden wir auch auf die Erfahrungen, die einige Schulen gesammelt haben, zurückgreifen.

Ist ein verpflichtendes Ethikprogramm anstelle des Religionsunterrichts verfassungsrechtlich überhaupt möglich?

Es ist durchaus ein Ausloten von Spielräumen. Prinzipiell ist die Grundlage für den Religionsunterricht in Südtirol das Autonomiestatut. Wir haben also eigene Vereinbarungen, die auch zusammen mit der Kirche getroffen wurden. Der Staat hat jedoch bereits mehrmals versucht, ein verpflichtendes Alternativprogramm für den Religionsunterricht vorzusehen; es gab aber einige gerichtliche Urteile, die besagen, dass auch die Abwesenheit von der Schule anstelle des Religionsunterrichts eine Möglichkeit darstellen muss. Ich glaube aber, dass wir Argumente haben, um ein verpflichtendes Alternativangebot durchzusetzen und habe diesbezüglich auch bereits einige Vorgespräche mit Rom geführt. Weil es sich um ein nicht konfessionelles Alternativangebot handelt, kann nicht von vornherein gesagt werden, dass die Möglichkeit der Abwesenheit bestehen muss. Trotzdem ist der entsprechende Gesetzesartikel sicherlich ein Vorpreschen. Aber es ist ein Vorpreschen aufgrund von einer Notwendigkeit, die auch von den Schulen erkannt wird.

 

Es ist ein Ausloten von verfassungsrechtlichen Spielräumen.

 

Man hört immer wieder von Fällen, wo die Schulen den Austritt aus dem Religionsunterricht durch Auflagen organisatorischer Art erschweren. Können sie diese Sachlage bestätigen?

Das ist mir in dieser Form nicht bekannt. Fakt ist, dass der konfessionelle Religionsunterricht - egal ob Anmeldung oder Verzicht - immer eine bewusste Entscheidung bleibt. Unsere Zahlen zeigen, dass es auch dementsprechende Abmeldungen gibt.

 

Bild
Profile picture for user Georg Schedereit
Georg Schedereit Ven, 12/17/2021 - 12:55

Sehr gute Initiative! Nicht als Konkurrenz zum Katholizismus, sondern damit auch die Abgemeldeten diese Schulstunde nicht einfach zu "schwänzen" haben. Sondern damit sie vom Aha-Erlebnis überrascht werden, wie stark sich die wesentlichsten theoretischen Werthaltungen und lebenspraktischen Empfehlungen aller acht großen Weltreligionen UND der meisten -auch agnostischen oder atheistischen- Weisen aller Kulturkreise letzlich ähneln. Und wie zentral im Leben, wie nützlich und wichtig es sein kann, auf ein solches geistig-ethisches "Geländer" zurückgreifen zu können. Vor allem auf die überall unterschiedlich formulierte, aber letztlich allen gemeinsame Goldene Regel: "Was du nicht willst, was man dir tu', das füg' auch keinem andern zu."

Ven, 12/17/2021 - 12:55 Collegamento permanente