Società | Salto Gespräch

Ist Ihnen der Name ein Begriff?

Johannes Ortner sammelt die Flurnamen und deren Geschichten in ganz Südtirol. Ein Gespräch über die Frage, warum diese Namen auch heute noch von Bedeutung sind.
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Foto: unknown

Klemmsecklegg. Sas de la polenta. Huntiskirche. Orschpoppn. Firtigbandl. Ölberg, wo keine Oliven und Weinberg, wo kein Wein wächst. Südtirols Flurnamen haben alle ihre ganz eigene Entstehungsgeschichte. Manchmal sind es im Volksmund übertragene Anekdoten, andere Male gehen sie auf 4.000 Jahre alte Siedlungsgeschichten zurück.

Johannes Ortner, Flurnamenforscher, Obmann des Heimatschutzvereins Meran und Gemeinderat der Grünen in Meran, spricht mit Salto.bz über das Sammeln von Flurnamen, die sich im weiteren Sinn, nicht nur auf Wiesen und Felder (Fluren) beziehen, sondern auch all jene Namen beinhalten, die auf einen Hof, ein Haus oder einen Berggipfel Bezug nehmen. Kurz: jeder geografische Referenzpunkt, der einen Namencharakter hat. Seine Publikationen werden in Zusammenarbeit mit den Bildungsausschüssen und den lokalen Heimatpflegeverbänden erarbeitet.

 

Salto.bz: Herr Ortner, Sie sammeln seit Jahren die Namen von Wiesen, Feldern und Höfen in Südtirol und halten diese dann auf Landkarten fest. Ein sonderbares Berufsbild. Wie sind sie dazu gekommen?

Johannes Ortner: Durch Zufall eigentlich! Ich hatte 1999 gerade eben fertig studiert, Zivildienst abgeschlossen und war soeben Vater geworden. Bekannte haben mich dann auf ein Projekt der Universität Innsbruck aufmerksam gemacht, bei dem es darum ging eine Flurnamensammlung für Südtirol zu erstellen. Dabei wusste ich zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht, was Flurnamen sind! Es schien mir ein wirklich interessantes Projekt zu sein. Und so bin ich mit 30 weiteren Studentinnen und Studenten mit Stift und Landkarte hinausgeschwärmt und habe zuerst in meinem eigenen Umkreis und später auch in anderen Gemeinden Namen und Geschichten gesammelt und mundartlich aufgeschrieben. Dabei haben wir uns vor allem auf die Bauern und älteren Menschen in den Dörfern verlassen.

Was macht diese - vielfach vergessenen - Flurnamen heute noch relevant?

Einerseits sind diese Namen wichtig, um uns zu orientieren. Die Flurnamen funktionieren wie eine Landkarte im Kopf: Die Namen sind prägnante Formeln, die ich im Kopf mit Bildern verbinde. Und sie verbinden. Wenn ich die Namen aller Orte in der Umgebung kenne, dann gehöre ich dazu. Ich habe eine gewisse Verankerung vor Ort und in einer Gesellschaft. Der Ort bekommt so eine größere Qualität. Es ist nicht mehr nur ein Stein, sondern der Stein.

Dies könnte auch im Sinne des Umweltschutzes bedeutsam sein.

Ich denke schon, dass Menschen eine intensivere Beziehung zu ihrer Umgebung entwickeln, wenn sie ihre Namen kennen. Stichwort Öko-Regionalismus. Flurnamen sind Dinge, die die älteren Generationen mit der Muttermilch zusammen aufsaugt haben. Man wusste genau, wie die einzelnen Orte heißen, wo die Schafe weiden und so weiter. Wenn diese Menschen jetzt älter werden und sehen, wie sich alles verändert - hier ist jetzt ein Skigebiet und dort ist alles verbaut - dann werden die alten Erinnerungen wieder geweckt. Diese Menschen sind heute federführend in der Ausarbeitung von Flurnamenprojekten.

 

Abgesehen davon haben viele Flurnamen auch eine wissenschaftliche und sprachgeschichtliche Bedeutung. Können Sie diese etwas näher erläutern?

Flurnamen sind Denkmäler der Sprachgeschichte, sie sagen viel über die Vergangenheit aus. Wir können an ihnen beispielsweise archäologisch interessante Stätten entdecken; “Gschleier” oder die “Pippe” zum Beispiel. Jeder Archäologe wird bei diesen Namen hellhörig - und meistens auch fündig! Geografische Namen mit einem sehr hohen Alter sagen viel darüber aus, wie unsere Vorfahren die Landschaft bewertet haben. Aus vielen Flurnamen lassen sich Rückschlüsse über die Siedlungs- oder auch die Vegetationsgeschichte ziehen. Der Name “Oacha” weist beispielsweise darauf hin, dass dort früher die Flaumeiche in ungewöhnlichen Höhen zu finden war.

Wie wird denn die Bedeutung der einzelnen Namen zurückverfolgt?

Ich bin eigentlich sprachwissenschaftlicher Laie. Das Wissen habe ich mir mithilfe der einschlägigen Fachliteratur so langsam angeeignet. Aber auch die Geschichten, die die Bauern erzählen, sind wichtig. Sie sind die Experten auf diesem Gebiet. Ich gehe zu ihnen hin und lass mir ihre Geschichten erzählen. Warum heißen die Orte, wie sie heißen? Diese Geschichten vergleiche ich dann mit meinem Wissen zur Etymologie. Das sind zwei verschiedene Ebenen, sie sind aber beide wichtig.

 

Die Flurnamen haben sinnlich gerochen!

 

Ich kann mir vorstellen, dass die Geschichten, die im Volksmund erzählt werden, oft ganz andere sind als deren historischer Kern erahnen lässt?

Manchmal sind sie ein Hinweis auf die Etymologie, manchmal sind sie humorvolle Anekdoten, augenzwinkernd erzählt. Zu Pinzon im Unterland gibt es beispielsweise eine ganz lustige Geschichte. Sie spielt zu Zeiten der biblischen Sintflut: Als sich das Wasser nach der Sintflut langsam zurückzog, erspähte Noah zuerst den Kirchturm von Pinzon. Da rief ihm einer zu: “bind’s on!” - er solle die Arche am Kirchturm festbinden. Und so sei der Name des Dorfes dann entstanden (lacht). In anderen Fällen haben die Geschichten aber einen gewissen historischen Gehalt.

Zum Beispiel?

Bei der “Feuerschwente” in Sand in Taufers zum Beispiel. Der Name weist auf eine Rodungstechnik, das Feuerschwenten hin, bei der das betreffende Waldstück dann abgebrannt wird. Es kann dabei kurzfristig fruchtbarer Ackerboden gewonnen werden. Gleichzeitig weist der Name aber auch auf das Interesse der Bevölkerung zu einer bestimmten Zeit hin: Rodungsnamen wie „Greit“, „Brünst“ oder eben „Gschwent“ können beispielsweise ein Hinweis auf ein Bevölkerungswachstum sein, wegen der es mehr Ackerflächen brauchte. Im Hochmittelalter zum Beispiel. Andere Namen beziehen sich auf längst vergangene Kulturtechniken oder darauf, dass Sicherheit und die Kontrolle der Weidetiere wichtig war. Umzäunungsnamen wie die häufige „Peinte“ zum Beispiel, diese kommt von germanisch „biwentia“, wörtlich das „rings Umwundene“.

 

Bei Namen, die aus dem deutschen Sprachraum stammen, ist diese Rückverfolgung natürlich einfacher. Die Geschichte der Flurnamen in Südtirol ist aber nicht nur eine deutsche Sprachgeschichte.

Das ist viel komplexer, als man denkt. Ein Flurname ist ja kein Wort. Wenn wir miteinander sprechen, dann hat jedes Wort eine Bedeutung, die wir ganz genau kennen. Ein Name braucht aber keine Bedeutung mehr. Namen sind eingefrorene Wörter, fossilisierte Wörter. Das heißt, dass sie auch viel zählebiger sind und sich kaum mehr verändern. Wir zwei zum Beispiel sprechen zusammen in süddeutscher Mundart bairischer Ausprägung – Namen können aber aus dem Althochdeutschen oder dem Alpenromanischen stammen.

Welche zum Beispiel?

Patscheid im Vinschgau oder Pineid in Truden zum Beispiel. Pineid oder Patscheid sind Namen nichtdeutscher Herkunft. Das kann man schon allein daran erkennen, dass sie endbetont sind. Bei der Haarrease, der Peinte oder der Schwente handelt es sich zwar noch um deutsche Namen, – aber ich versteh sie nicht mehr. Für den Benutzer ist das völlig egal, weil es sich nicht mehr um Wörter, sondern eben um Namen handelt.

Das heißt, jeder Orts- und Flurname kann auf eine ursprüngliche Bedeutung zurückgeführt werden. 

Fast immer, ja! Bei den deutschen und den romanischen Namen ist es relativ einfach – die italienische, deutsche und ladinische Sprache können dabei helfen. Aber alles, was vor dem Römischen war, ist schwieriger. Es gibt einfach kaum historische Belege, die alt genug sind. Frühe Belege für Ortsnamen stammen beispielsweise aus dem 9. und 10. Jahrhundert – viele Namen, gerade Ortsnamen, sind da aber schon 2000 Jahre alt! Sie stammen, wie zum Beispiel die Vinschger Ortsnamen Mals, Laatsch, Tschars, Eyrs usw. aus der Prähistorie, wahrscheinlich aus der alpinen Bronzezeit. Damals waren die Alpentäler besiedelt und es wurden natürlich auch schon Namen geprägt. Die Namen haben sich etwas verändert, im Kern aber sind sie dieselben geblieben. Dieser Kern, das Etymon, muss rekonstruiert werden.

 

Geht durch die wissenschaftliche Aufarbeitung und schriftliche Festlegung dieser Namen nicht ein Teil des Charakters der mündlich überlieferten Flurnamen verloren?

Die Flurnamen haben sich über den Lauf der Geschichte natürlich extrem verändert. Um die Etymologie zu verstehen, muss man versuchen, möglichst alte Belege zu finden. Hier ist ein Buchstabe weggefallen, hier hat sich ein Wort verändert… Dabei sind zum Beispiel die italienischen Gebiete bei Salurn interessant. Es gibt dort die Winterris, man sagt aber “l'aventeris” - der Name ist als Klang noch immer gegeben, wurde aber angepasst. Aber ich denke, dass der Prozess der Flurnamenbildung heute im Großen und Ganzen abgeschlossen ist.

Das war’s?

Nein, natürlich, es entstehen auch neue Namen und alte werden vergessen. Einige Jäger aus dem Pfossental in Schnals haben mir einmal erzählt, dass es bei ihnen einen Bergvorsprung auf über 2.900 m gibt. Auf diesem Bergvorsprung tauchen immer Steinböcke auf, die es dort erst seit den 1960er-/1970er-Jahren vermehrt gibt. Dort haben sie ein Steinmandl draufgesetzt, das im Dialekt „Wårtr“ heißt. Daraus ist dann der „Stuanbockwårtr“ entstanden. Das sagen zuerst fünf, sechs Jäger, dann sagen es alle und dann wird es zu einem Namen. Das ist oft keine bewusste Tätigkeit: Man fasst etwas in eine griffige Formel und jeder weiß sofort, was gemeint ist. Gleichzeitig gibt es heute auch neue Namen, die ganz anders klingen. Kitschromanisch! So klingen manche neuen Hotelnamen: mires, arua, avelina. Weiche, wohltönende Klänge mit einem Schuss Lokalkolorit sollen den Verkauf von Wein oder den Tourismus fördern. Das „San Luis“ in Hafling wäre noch so ein Beispiel.

Heute werden Straßen und Ortschaften nach Persönlichkeiten benannt. War das früher bei uns auch schon so? 

Ja, das kam vor! Es gibt im Etschtal und im Überetsch beispielsweise eine Häufung an Ortsnamen, die auf „-an“ enden. Eppan zum Beispiel. Da steckt in der Endung der Hinweis drin, dass der Ortsname aus spätrömischer Zeit stammt. Er leitet sich von praedium Appianum „Landgut des Appius“ ab. Auch Terlan oder Bozen sind so entstanden. Bei Meran ist es ähnlich. Die Endbetonung bei Meran weist darauf hin, dass der Name erst nach etwa 1050 eingedeutscht wurde, da es sich damals um keinen wichtigen Ort, sondern lediglich um eine Flur handelte.

 

Wie viel Interesse gibt es vonseiten der Bevölkerung für das Thema?

Vor allem, wenn Flurnamenkarten erstellt werden, ist das Interesse sehr groß. Ich halte aber auch ab und zu Vorträge zu den Flurnamen in einzelnen Gemeinden und es gibt auch Projekte an Grundschulen, wo die Kinder die Großeltern oder Eltern fragen, wie bestimmte Örtlichkeiten heißen. Das Schöne daran ist, dass Flurnamen Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen zusammenführen - konservative und alternative können sich hier ganz gut finden! Jede und jeder verbindet mit den Flurnamen seiner Umgebung eine bestimmte Geschichte und kann ihnen etwas Besonderes abgewinnen.

Was fasziniert Sie an dieser Arbeit?

Was mir besonders gefallen hat und immer noch gefällt, ist der soziale Aspekt. Ich war überrascht, wie viele Geschichten an den einzelnen Namen hängen! Für jeden haben die Namen eine andere Bedeutung und eine andere Geschichte.

Man trägt also genug Stoff für einen Roman zusammen.

Ja, teilweise wusste ich abends nicht mehr, wo mir der Kopf steht! Als ich 1999 mit der Flurnamensammlung angefangen habe, habe ich die Bauern oft im Stall angetroffen, wo sie mir beim Melken ihre Geschichten erzählt haben. Damals roch es in vielen Ställen noch nach Mist und Ammoniak. Irgendwann hab ich gemerkt, dass die Rollen, auf denen ich die Namen und Informationen notiert habe, nach Stall riechen. Durch diese Düfte kommen die ganzen Erinnerungen an meine erste Sammlung wieder zurück. Die Flurnamen haben wirklich sinnlich gerochen!

 

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Albert Hofer Dom, 02/13/2022 - 10:09

Der gute Mann liefert auch immer schöne, lesenswerte Beiträge für das AVS-Mitgliedermagazin, kann ich jedem empfehlen :-)

Nur eine kurze Anmerkung zu einer Aussage, bei der er meines Erachtens leider daneben liegt: "Dieser Kern, das Etymon, muss rekonstruiert werden." Diese Fixierung auf eine zwanghafte Suche nach einem Etymon, das man bei einer völlig unbekannten Sprache aus der Bronzezeit ja (man möchte fast sagen: offensichtlicherweise) eigentlich weder rekonstruieren noch deuten kann, ist eine ungute Tradition der Innsbrucker Schule der Ortsnamensforschung. Dort hat man sich sogar mehrere allein aus Ortsnamen "erschlossene", ansonsten völlig unbelegte indogermanische Sprachen "rekonstruiert", um Etymone von Ortsnamen dann auch deuten zu können, was natürlich ein Zirkelschluss ist und außerhalb der Innsbrucker Ortsnamen-Bubble auch praktisch niemanden von der Existenz dieser vermeintlichen Sprachen überzeugt hat... Zur kritischen Besprechung seien Diether Schürrs Beiträge anempfohlen (speziell "Der Tartscher Bichl und die Deutung von Ortsnamen im Obervinschgau" und "Zum Ursprung von Tramin – Termeno"), die die Fehlkonstrukte recht gut durchleuchten. Ansonsten hat, wie gesagt, die übrige Indogermanistik oder gar Sprachwissenschaft die Innsbrucker Konstrukte praktisch überhaupt nicht mal zur Kenntnis genommen. Johannes Ortners Beiträge würden nur gewinnen, wenn sie auf Etymologien basierend auf "Ostalpenindogermanisch A" oder "Ostalpenindogermanisch B" usw. usf. verzichten würden.

Dom, 02/13/2022 - 10:09 Collegamento permanente
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Sepp.Bacher Dom, 02/13/2022 - 13:50

Ein interessantes Thema. Es hat mich veranlasst, mich an die Wiesen- und Flurnamen vom Hof, auf dem ich aufgewachsen bin, zu erinnern. Ich komme auf: Buite, Angerle, Throte, Rosseindl, Kommerlond, Plotze, Ohnewond und Ruan. Einzelnen kann ich eine Bedeutung abgewinnen, bei den anderen wäre interessant zu erfahren, wie und wann sie entstanden sind und welche Bedeutung sie enthalten.
Die meisten sind durch die Errichtung von Wohnsiedlungen verloren gegangen, bis auf einen: eine Siedlung heißt jetzt Kammerland.

Dom, 02/13/2022 - 13:50 Collegamento permanente