Cultura | Interview

“Die Kunst muss ihre Stimme erheben”

Die Schriftstellerin Waltraud Mittich über ihre Beziehung zur Ukraine, ihren Text “Ein Russe aus Kiew” und Kunst, die kein Recht hat, “Dienerin eines Systems” zu werden.
Waltraud Mittich
Foto: Privat

“Du warst ein Russe aus Kiew. Aussage meiner Mutter. Du warst die längste Zeit und ganz einfach seit ich denken kann - sagen wir seit 1956 - ein Russe. Ich hatte einen russischen Vater. Und dann, ganz auf einmal, war der Russe ein Ukrainer, seit 1990 ist er es.” Seit Ende 2021 steht der Text, in dem Waltraud Mittich diese Zeilen schreibt. “Ein Russe aus Kiew”, so der Titel des Essays, das von Krieg, Konflikt und der Auseinandersetzung mit der Identität eines Landes und in einer Familie handelt. Der Text sollte ursprünglich im heurigen Frühjahr publiziert werden. Aus Angst vor pandemischen Beschränkungen hat ihn Mittich zurückgehalten. “Das war falsch”, meint die 76-jährige Pusterer Schriftstellerin heute. Am 24. Februar, dem Tag, an dem der russische Präsident Wladimir Putin den Befehl zum Krieg gegen die Ukraine gegeben hat, schreibt Mittich auf Facebook: “Mein Text kommt zu spät. Nicht dass er den Wahnsinnigen hätte hindern können an seinem wahnsinnigen Tun, aber Literatur kann Empathie auslösen, so meine vielleicht naiv-weibliche Annahme. Diese Testosteron- und weiß nicht was sonst Gesteuerten, die Geschichte geschrieben haben und schreiben, wir werden sie trotz aller jetzigen Ohnmacht zur Hölle schicken.”

Waltraud Mittich beschäftigt sich seit Längerem mit der Ukraine, dem Ringen nach Unabhängigkeit, dem Konflikt mit dem postsowjetischen Russland – und sagt: “Ich glaube fest daran, dass Kriege heute nicht nur durch hohe Diplomatie und Waffen entschieden werden, sondern auch durch Menschen, die sich dagegen engagieren und die Bilder, die davon um die Welt gehen.”

salto.bz: Frau Mittich, Sie waren am Wochenende in Bozen, um ein Zeichen für den Frieden in der Ukraine zu setzen. Welche Botschaft haben Sie für die vom Krieg betroffenen Menschen dort?

Waltraud Mittich: Ich bin eine einfache Bürgerin, wie Millionen von solchen Menschen habe ich die Kundgebung besucht, um mein Mitgefühl und mein Interesse für Land und Leute zu bekunden und auf diesen Aggressionskrieg zu reagieren.

Sie waren selbst in der Ukraine. Wie haben Sie Menschen und Land kennengelernt?

Leider war ich nur einmal dort, 2018 zum Festival für Paul Celan in Czernowitz, in den letzten beiden Jahren hat mich die Pandemie daran gehindert, die Reise dorthin anzutreten.

Schon seit Längerem haben Sie befürchtet, dass der Konflikt, ausgehend vom Osten des Landes, eskalieren könnte. Wie sind Sie zu dieser Einschätzung gelangt?

Ich informiere mich und lese seit drei Jahren zum und über das Land, bin verschiedenen Gruppen beigetreten, zum Beispiel Ukraine verstehen. Dass der Konflikt eskalieren würde, war mir deshalb seit Längerem klar. Den brutalen Überfall in dieser Form aber hätte ich nicht erwartet, wie viele kompetente Osteuropa-Experten wie zum Beispiel Andreas Umland übrigens auch nicht. Dass die Ukrainer ihr Land, diesen neuen Staat, aber bis zur Selbstaufgabe verteidigen würden, das habe ich recht schnell verstanden.

Ein Europa, das zu einem Krieg an seiner Außengrenze im Donbass seit acht Jahren schweigt, halte ich für verantwortungslos

Haben Sie derzeit Kontakt mit Menschen in der Ukraine?

Ich stehe in Verbindung mit meinem Verleger in Czernowitz, mit Oxsana Matiychuk, Germanistin an der Uni Czernowitz, deren Einschätzung der Lage kürzlich in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war. Bis vor Kurzem hatte ich auch Verbindung mit Daniela Prugger, der Freelance-Journalistin aus Olang, die seit drei Jahren in Kiew lebt. Auch Andrei Kurkow, Schriftsteller aus Kiew, lese und höre ich auf Facebook. Am Wochenende habe ich mit meiner Übersetzerin Chrystyna Nazarkewtsch gesprochen. Sie hält sich nicht mehr in Czernowitz auf, sondern ist in Lwiw, dem alten Lemberg im Osten des Landes. Dort scheint es etwas ruhiger zu sein als in Kiew oder Charkiw (Stand Montag Morgen, Anm.d.Red.). Die Menschen in der Ukraine nehmen die unglaubliche Solidarität der Menschen weltweit und die seltene politische Einigkeit wahr und sehen sie auch als Hoffnungsschimmer.

Kunst hat nicht das Recht, sich in einen Elfenbeinturm zurückzuziehen

Im September soll Ihr Essay “Ein Russe in Kiew” erscheinen. Wovon handelt es?

In dem Essay, das kein Essay ist, wenn schon ein erzählendes, eine Mischung aus Erzählung und autofiktionalem Bericht, erzählt ein weibliches Ich seinem ukrainischen Vater, Offizier der Roten Armee. Sie erzählt ihm seine heutige Ukraine, sie erzählt ihm auch in zwei Kapiteln – Sonnenburg und Brunnenburg – ihr Land, Südtirol, sie erzählt ihm in Teilen ihr eigenes Leben, aber auch die Vatersuche eines großen Autors wie Joseph Roth, der aus Brody, ehemals Kronland Galizien, stammt. Brody ist das Mantra, das die Erzählerin ein Leben lang begleitet.

Was hat Sie zu dem Werk veranlasst?

Der Text ist, wie gesagt, autofiktional. Ich wollte nicht, dass der Text in russischer Sprache erscheint. Das ist als Statement zu verstehen für das Recht der Ukrainer auf ihre Sprache, die von Russland oft als Bauernsprache abgetan wurde.

Ich habe recht schnell verstanden, dass die Ukrainer ihr Land, diesen neuen Staat, bis zur Selbstaufgabe verteidigen würden

Sie haben es angedeutet: Auf Ukrainisch soll “Ein Russe in Kiew” auch erscheinen. Könnte das irgendwie verhindert werden?

Wenn Putin Erfolg haben sollte und eine russische Marionettenregierung in Kiew eingesetzt würde, hätte das wohl das Verbot der Literatur in ukrainischer Sprache zur Folge.

Wer oder was wird den Krieg und die aggressive Expansionspolitik Putins stoppen? Glauben Sie, dass zivilgesellschaftlicher Protest, auch im eigenen Land, ihn einlenken lässt?

Die Expansionspolitik Putins kann primär durch Waffenlieferung und Sanktionen gestoppt werden, aber auch der Einsatz und das Engagement der Zivilgesellschaften der ganzen Welt können einen wesentlichen Beitrag leisten, um den Aggressor zu isolieren. Auch in Russland beginnen langsam die Proteste, dort geht es darum, den Menschen Zugang zu alternativen Informationen zu verschaffen.

Ich wollte nicht, dass der Text in russischer Sprache erscheint

In einem Kommentar auf salto.bz haben Sie Anfang des Jahres festgestellt: “Europa stirbt aber auch im Osten der Ukraine. Dieser Stellungskrieg ist Europas offene Wunde. Wir reden darüber aber nicht.” Gibt es ohne Ukraine kein Europa?

Ein Europa, das zu einem Krieg an seiner Außengrenze im Donbass seit acht Jahren schweigt, halte ich für verantwortungslos, es verrät sich selbst und all das, woran es vorgeblich glaubt.

Was kann Literatur, Musik, Malerei, was kann Kunst Krieg entgegensetzen?

Dass die Kunst ihre Stimme erhebt, erheben muss, versteht sich für mich von selbst. Sie hat nicht das Recht, sich in einen Elfenbeinturm zurückzuziehen oder Dienerin eines Systems zu werden.