Società | kein platz

Opfer seiner selbst

Philipp Burger soll an einer Diskussion über Antisemitismus und die Schoah in Deutschland teilnehmen. Nach massiver Kritik wird der “Frei.Wild”-Sänger ausgeladen.
Mauer mit Rissen
Foto: Henry & Co. on Unsplash

Sie überlebte den Holocaust, weil sie Akkordeon spielte. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1960 setzte sich Esther Bejarano unermüdlich dafür ein, dass die Verbrechen der Nazis, die sie als jüdisches Mädchen im KZ Auschwitz miterlebt hat, nicht vergessen werden. In Schulen, unzähligen öffentlichen Auftritten, Interviews und Büchern erzählte die kleine grauhaarige Frau von ihren Erlebnissen während und nach dem Zweiten Weltkrieg und setzte sich resolut gegen Hass und Ausgrenzung, für Menschlichkeit, Miteinander und radikalen Antifaschismus ein. In einem offenen Brief schrieb Bejarano 2020 an die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier:

“Plötzlich gab es keine Nazis mehr, damals, 1945 – alle waren verschwunden. Uns aber hat Auschwitz nicht verlassen. Die Gesichter der Todgeweihten, die in die Gaskammern getrieben wurden, die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Albträume in den Nächten. 
Wir haben das große Schweigen nach 1945 erlebt – und wie das Unrecht – das mörderische NS-Unrecht – so akzeptiert wurde. Dann erlebten wir, wie Nazi-Verbrecher davonkommen konnten – als Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regie­rung Adenauer. Wir lernten schnell: Die Nazis waren gar nicht weg. (…)
Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren. Wir wollen uns nicht gewöhnen an Meldungen über antisemitische, rassistische und menschenfeindliche Attacken (…).”

Am 10. Juli 2021 starb Esther Bejarano mit 96 Jahren in Hamburg.

Im Gedenken an die unermüdliche Kämpferin findet am heurigen 22. September in Gelsenkirchen (Bundesland Nordrhein-Westfalen) eine Veranstaltung statt, bei der zunächst aus “Nie schweigen!” – das letzte 2022 in Buchform erschienene Interview mit Bejarano – gelesen wird und anschließend diskutiert werden soll. “Über Antisemitismus und die Schrecken der Shoah”, wie der Veranstalter ankündigt, soll auch Philipp Burger sprechen. Der Sänger der Brixner Band “Frei.Wild” steht auf der fünfköpfigen Teilnehmerliste der Diskussionsrunde, die am Sitz der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen stattfindet. Besser gesagt: Burger stand auf der Teilnehmerliste. Denn nach massiver Kritik hat der Veranstalter reagiert.

 

“Esther hätte es nie zugelassen!”

 

Bei der Veranstaltung im Gedenken an Esther Bejarano am 22. September “diskutieren namhafte Persönlichkeiten über die Zunahme politisch motivierter Kriminalität, rechte Gewalt und Antisemitismus. Das Bundeskriminalamt hat im vergangenen Jahr insgesamt 55.048 Straftaten erfasst, die den einzelnen Phänomenbereichen der politisch motivierten Kriminalität zuzuordnen sind. Dies entspricht einer Steigerung um 23,17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und einer Verdoppelung in den letzten zehn Jahren. Die Zahl politisch motivierter Straftaten hat damit 2021 einen neuen Höchststand erreicht. Wie lässt sich diese Entwicklung stoppen? Radikalisieren sich immer mehr Teile der Bevölkerung? Kann man den alltäglichen Antisemitismus überhaupt noch in den Griff bekommen?”. So die Ankündigung. In Gelsenkirchen geladen sind: Abraham Lehrer, Vizepräsident Zentralrat der Juden in Deutschland, Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes, der Psychologe Ahmad Mansour, die Antisemitismusbeauftragte von NRW Sabine Leutheusser-Schnarrenberger – und Philipp Burger, Musiker und “Frei.Wild”-Sänger.

 

“Einfach völlig absurd” sei es, dass “selbsternannte Patrioten mit Nazi-Vergangenheit zur Diskussion in eine Synagoge eingeladen” würden. So und ähnlich reagieren viele User in den sozialen Medien als bekannt wird, dass Philipp Burger in Gelsenkirchen zu Gast sein wird. “Esther Bejarano hat sich immer (!) gegen die Anschlussfähigkeit rechten Gedankenguts an die gesellschaftliche Mitte gewandt – auch und besonders als man sie in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit für ihren Antifaschismus verleumdet, diffamiert und ausgegrenzt hat”, hält der Journalist Stephan Anpalagan fest. Der Musiker Kutlun Yurtseven, mit dem Bejarano jahrelang befreundet war und auf der Bühne stand – als Mitglieder der deutsch-türkisch-italienischen Rapgruppe “Microphone Mafia” – schreibt in einem Statement: “Eine Lesung zu Ehren Esthers in allen Ehren, aber nicht mit diesem ‘Line Up’ (…) Wir als MM (Microphone Mafia, Anm.) stehen außen vor, aber wir wissen so viel: Esther hätte es nie zugelassen!

 

Opfer und Verharmloser

 

Woran konkret sich die Empörung entfacht, bringt der Politologe und Journalist Timo Büchner auf den Punkt. Büchner forscht insbesondere zu Rechtsextremismus und Rechtsrock. Neben Philipp Burgers Vergangenheit in der Rechtsrockband “Kaiserjäger” und völkisch-nationalen Frei.Wild-Liedtexten befasste sich Büchner bereits 2015 ausführlich mit dem “starken Freund-Feind-Denken” und dem “Opfermythos der Band”. Jetzt analysiert er:

Der Opfermythos hat System. Er ist seit Jahren das Erfolgsmodell der Band – und mündet in die Verharmlosung der Shoah. Feind:innen sind diejenigen, die ‘Frei.Wild’ kritisieren. Das sind primär Journalist:innen, die kritisch über die Band schreiben, sekundär Antifas, Bands, Parteien, die sich kritisch zur Band äußern. Ein Beispiel für das Feindbild Presse liefert der Song ‘Schlagzeile groß, Hirn zu klein’ (2012). Es heißt: ‘Für die Quote gegen Absatzschwäche / Scheißt ihr auf die Wahrheit und die Grundgesetze / Euer Lügen, euer Hassen / Sind der Antrieb weiterzumachen«. Der Song ‘Zeig große Eier und ihnen den Arsch!!!’ (2013) verbreitet den Verschwörungsmythos, es herrsche eine rot-grüne Pressediktatur: ‘Manipuliert, regiert von vielen Schreibernarren / Mit blutroter Tinte lenken Sie hier den Karren / Und auch ein grüner Käse überschwemmt das Land / Erstickt die Stimme aus der Mitte / Denn was nicht links ist, das ist rechts, habt ihr es erkannt?’ Der Begriff ‘Faschismus’ wird immer wieder im Zusammenhang mit der (angeblichen) ‘Nazikeule’ und Meinungsdiktatur verwendet. Die Kritiker:innen der Band werden als Faschist:innen diffamiert, die Band inszeniert sich als Opfer des Faschismus. Ein Beispiel liefert der Song ‘Akzeptierter Faschist’ (2015). Es heißt: ‘Du verurteilst, richtest über mich / Andere Meinungen akzeptierst du nicht / [...] / Und erkennst nicht, was Du wirklich bist / Ein akzeptierter Faschist’. ‘Frei.Wild’-Sänger Burger singt in ‘Zensurfaschismushasser’ (2021), der im Rahmen seines Soloprojekts erschienen ist: ‘Wer nicht blind zur Herrschaftsmeinung steht / Dem wird der Saft schnell abgedreht / [...] / Ich bin ein Zensurfaschismushasser’. Der Opfermythos mündet in die Verharmlosung der NS-Diktatur. Es heißt im Song ‘Wir reiten in den Untergang’ (2012): ‘Nichts als Richter, nichts als Henker / Keine Gnade und im Zweifel nicht für dich / Heut' gibt's den Stempel, keinen Stern mehr / Und schon wieder lernten sie es nicht’. Keinen Stern mehr? Einen Stern gab's im NS. Das war der ‘Judenstern’. Die angebliche Verfolgung der Band durch die Presse wird mit der tatsächlichen Verfolgung der Juden und Jüdinnen durch die Nazis gleichgesetzt. Das ist eine Verharmlosung der Shoah und eine Verhöhnung der Opfer der Shoah.”

Zu Wort meldet sich auch die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, deren Ehrenvorsitzende Bejarano bis zu ihrem Tod war: “Ein Mensch, der über die Liebe zu Volk, Nation und Heimat singt und nationalistische Phrasen über Identität drischt, soll auf einer Veranstaltung sprechen dürfen, die den Namen Esther Bejarano im Titel trägt, auf der ‘über Antisemitismus und die Schrecken der Shoah’ gesprochen werden soll. Gegen diese plumpe Vereinnahmung des Andenkens an Esther Bejarano sprechen wir uns als VVN-BdA in aller Deutlichkeit aus. Gegen die Normalisierung rassistischer, faschistischer und völkischer Positionen hat Esther immer gekämpft.”

 

Der Veranstalter reagiert

 

Auf Nachfrage der Plattform ENDSTATION RECHTS, warum Burger zu einer Diskussion über Antisemitismus geladen wurde, meinte der Veranstalter der Lesung und der Diskussionsrunde in Gelsenkirchen – die Agentur “Lamalo Consulting GmbH” –, dass an dem Abend auch der Anstieg von politisch motivierter Kriminalität erörtert werden solle und die Frage, welchen Einfluss Internet und Musik dabei auf junge Menschen habe. “In dem Rahmen werde sich der Frei.Wild-Sänger zu seiner Biographie und zur Ausrichtung der Band ‘Fragen stellen müssen’”, zitiert ENDSTATION RECHTS den Veranstalter. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung hat hingegen bei der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen nachgefragt, die ihren Sitz für die Veranstaltung zur Verfügung stellt. Die Vorsitzende Judith Neuwald-Tasbach habe sich zunächst selbst über Philipp Burger informieren müssen, berichtet die WAZ am Freitag Vormittag, und dann erklärt, “dass sie nun erstmal in Erfahrung bringen wolle, ob alle anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Diskussionsrunde damit einverstanden sind, dass Philipp Burger eingeladen ist. Sollte dies nicht der Fall sein, werde die Veranstaltung in Gelsenkirchen entweder ohne den umstrittenen Frei.Wild-Frontmann stattfinden oder die verantwortliche Eventagentur werde sich einen neuen Veranstaltungsort suchen müssen”.

Nur wenige Stunden später teilt die “Lamalo Consulting GmbH” der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde und über die Social-Media-Kanäle mit: Die Veranstaltung im Gedenken an Esther Bejarano wird wie geplant stattfinden. Allerdings ohne den “Frei.Wild”-Sänger. Wörtlich heißt es in dem Statement: “Nach reiflicher Überlegung und mit Blick auf die öffentliche Kritik, haben wir uns entschlossen, auf die Teilnahme von Philipp Burger an der Diskussion im Nachgang zur Lesung ‘Nie schweigen’ in Gelsenkirchen am 22. September zu verzichten.” Burgers Name und Foto sind bereits von der Veranstaltungsankündigung entfernt worden. 

 

 

Bild
Profile picture for user Dietmar Nußbaumer
Dietmar Nußbaumer Sab, 08/13/2022 - 21:44

Tatsache ist, dass frei.wild in Deutschland neben Reinhold Messner bekannter ist als der ganze Rest zusammen (oha, die Spatzen natürlich auch). Ich könnte mir vorstellen, dass der Betroffene das etwas lockerer sieht. Dabei lebt eine Diskussion eigentlich von gegensätzlichen Meinungen (Meinungsfreiheit kann eben auch nerven).

Sab, 08/13/2022 - 21:44 Collegamento permanente
Bild
Profile picture for user Karl Gudauner
Karl Gudauner Lun, 08/07/2023 - 12:35

Die Eventagentur ist die Antwort schuldig, welche Kompetenz Burger als Diskussionsteilnehmer qualifiziert hätte und welche Kompetenz sie selbst dafür qualifiziert, Veranstaltungen zu so geschichtsträchtigen Themen zu organisieren. Und was hat sich jene nicht genannte Körperschaft dabei gedacht, die den Auftrag an die Agentur vergeben und das Konzept gutgeheißen hat?

Lun, 08/07/2023 - 12:35 Collegamento permanente