Società | Nachwuchs

Kleinkind sucht Platz

Prekäre Arbeitsbedingungen und rare Betreuungsplätze in der Kleinkindbetreuung zeigen unterm Brennglas: Für Frauenarbeit und Kinder gibt es wenig Geld.
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Foto: Marcus Neto on Unsplash
Wer will heute noch Eltern werden? Laut einer 2017 durchgeführten europaweiten Online-Umfrage können sich 75 Prozent der italienischen jungen Erwachsenen vorstellen, auch ohne Kinder glücklich zu sein. Durchschnittlich beträgt der Prozentsatz in den elf europäischen Staaten, in denen die Umfrage durchgeführt wurde, 57 Prozent.
 
 
Italien ist hier mit 75 Prozent Spitzenreiter und hatte im Corona-Jahr 2020 laut ISTAT eine Geburtenrate von 1,17 Kinder pro Frau, eine der niedrigsten Geburtenraten Europas. Die Provinz Bozen sticht hier wie in den Jahren zuvor mit einer weitaus höheren Geburtenrate heraus. Im Jahr 2021 beträgt die Geburtenrate in Südtirol laut ASTAT 1,71 Kinder pro Frau und ist laut ISTAT die höchste in ganz Italien.
Im Jahr 2021 kündigten laut Daten der Gleichstellungsrätin in Südtirol 1.100 Eltern wegen der Geburt ihres Kindes ihren Arbeitsplatz, 884 davon waren Frauen.
Doch auch in Südtirol bremsen die unsicheren Zukunftsaussichten und die hohe Inflation die Lust aufs Elternsein. Die Zahlen bestätigen bis jetzt allerdings nur eine sehr leichte rückläufige Tendenz: Wurden im Jahr 2015 noch 5.491 Kinder im Land geboren, waren es 2021 noch 5.176. Vor allem Frauen gehen mit der Geburt eines Kindes das Risiko ein, keine Lohnarbeit mehr ausüben oder weniger Zeit dafür aufwenden zu können.
 

Familiengründung als Fallstrick

 
Die 2022 veröffentlichte ASTAT-Familienstudie untermauert das: „Die Kinderbetreuung ist nach wie vor hauptsächlich Sache der Mütter“, resümiert der Bericht im ersten Teil, der im Mai publiziert wurde. Der zweite Teil der Familienstudie wurde im September veröffentlicht und geht auf die Familiensituation mit Kindern unter 20 Jahren ein.
 
 
Für viele Familien entstehen laut ASTAT durch die Arbeitszeiten der Eltern und den Öffnungszeiten von Betreuungseinrichtungen wie Tagesstätten, Kindergärten und Schulen Zeitkonflikte. Über 60 Prozent der befragten Eltern mit Kindern unter 20 Jahren wünschen sich daher flexiblere und längere Öffnungszeiten von Tagesstätten und Kindergärten sowie mehr Betreuungsdienste für Kinder und Jugendliche während den Schulferien.
Wenn immer weniger Menschen Kinder machen, verstärkt sich die Überalterung der Gesellschaft weiter - Christa Ladurner
Passiert ist letzthin das Gegenteil: Mit September wurde der nationale Bonus für Kindertagesstätten ausgesetzt, weil dem italienischen Staat dafür das Geld fehlt. Der Kita-Bonus beträgt je nach Einkommen der Eltern zwischen 1.500 und 3.000 Euro pro Jahr. Laut dem Landtagsabgeordneten der Freiheitlichen, Andreas Leiter Reber, können neue Ansuchen für den Bonus wohl erst im neuen Jahr bearbeitet werden.
„Es ist skandalös, dass die Arbeit zuhause und die Betreuung der Kinder, die unsere Zukunft sind, null abgesichert ist und auch nicht als Arbeit angesehen wird“, sagt Christa Ladurner, Koordinatorin der Fachstelle Familie beim Forum Prävention und Vertreterin der Südtiroler Interessensvertretung „Allianz für Familie“. In Tscherms ist sie zudem als Parteimitglied der SVP Gemeindereferentin für Familie, Bildung, Soziales und Mobilität.
 

Demografischer Wandel

 
„Wenn immer weniger Menschen Kinder machen, verstärkt sich die Überalterung der Gesellschaft weiter“, so Ladurner. Das wiederum macht die Frage dringlicher, wer die Renten der Älteren bezahlt. „Hier funktioniert nichts mehr“, resümiert die Lokalpolitikerin und Sozialpädagogin. Sie fordert deshalb genügend Kinderbetreuungsplätze, aber auch eine Absicherung jener Personen, die ihre Kinder zuhause betreuen wollen.
 
 
Wer für sein Kleinkind unter drei Jahren einen Betreuungsplatz in Südtirol sucht, muss fürchten keinen zu finden. „Die Eltern tun gut daran, sich den Platz in der Kindertagesstätte schon zehn Monate oder ein Jahr vor Eintritt in die Berufswelt zu sichern“, erklärte etwa Stefan Hofer, der Obmann der Sozialgenossenschaft Coccinella, die landesweit 15 Kindertagesstätten führt, in einem Interview mit der Tageszeitung Anfang September.
 

Frauen als Leidtragende

 
„In den Familien steigen die Kosten, unter anderem durch die hohen Energiepreise, und ein einzelnes Einkommen für die ganze Familie reicht oft nicht mehr aus. Deswegen versuchen viele Frauen wieder auf den Arbeitsmarkt zu kommen“, erklärt Ladurner. „Verschlechtert sich die wirtschaftliche Situation werden die Frauen wie bei der Corona-Pandemie wieder die Leidtragenden sein“, warnt sie.
„Gerade viele junge Eltern stehen finanziell an der Wand, sie haben meist einen Kredit für das Eigenheim abzuzahlen, oft sind beide gezwungen Vollzeit arbeiten zu gehen, um ihre Familie versorgen zu können“, sagte auch Leiter Reber kürzlich gegenüber der Tageszeitung.
„Es gebe die Notwendigkeit, wieder in den Beruf einzusteigen, aber aufgrund verschiedener Gründe müssen viele junge Frauen zuhause bei den Kindern bleiben“, erklärt Ladurner. Entweder sei kein Platz für das eigene Kind verfügbar oder die Betreuungszeiten lassen sich nicht mit den Arbeitszeiten der Frau vereinbaren, beispielsweise wenn sie in der Pflege, der Gastronomie oder im Verkauf arbeitet. Denn viele Tagesstätten bieten die Betreuung nur bis zum frühen Nachmittag an.
Das hat Folgen: Im Jahr 2021 kündigten laut Daten der Gleichstellungsrätin in Südtirol 1.100 Eltern wegen der Geburt ihres Kindes ihren Arbeitsplatz, 884 davon waren Frauen. Als Grund für die Kündigung gaben 34 Prozent der Frauen an, keine helfenden Familienangehörigen wie etwa Großeltern zu haben. Für 15 Prozent waren die Arbeitsorganisation oder die Arbeitsbedingungen mit der Kinderpflege nicht vereinbar. Bei den Männern gaben hingegen 71 Prozent an, aufgrund der Vaterschaft gekündigt und erfolgreich Arbeitgeber gewechselt zu haben. Außerdem arbeitet fast die Hälfte der erwerbstätigen Frauen (44 %) in Teilzeit und kann sich in der restlichen Zeit Haus und Kindern widmen, während das nur 6 Prozent der Männer machen.
 
 

Schwache Familienpolitik

 
Der (teilweise) Abschied von der Lohnarbeit vieler Frauen und die niedrige Geburtenrate sind für Ladurner in Anbetracht der unzureichenden Familienpolitik Italiens keine Überraschung. Im Vergleich zu Deutschland, Österreich und nordeuropäischen Ländern haben Mütter hier keinen Anspruch auf Renteneinzahlung und Erziehungsgeld. Sie müssen nicht selten vom Arbeitslosengeld leben, um zuhause bei den Kindern zu bleiben. Diese Entscheidung hat Konsequenzen für den Ruhestand der Frau, da sie für einen längeren Zeitraum nicht wie ihr Partner einer Lohnarbeit nachgehen kann und daher später eine kleinere Rente bezieht oder bis ins hohe Alter arbeiten muss.
Tendenziell sind Frauenberufe gesellschaftlich und finanziell betrachtet weniger wert als Männerberufe - Christa Ladurner
Zudem gibt es im Gegensatz zu Deutschland in Südtirol kein Recht auf einen Betreuungsplatz für Kleinkinder unter drei Jahren, dieses Recht gilt erst ab dem Kindergarten. Somit ist die öffentliche Hand auch nicht verpflichtet, ausreichend Betreuungsplätze für Kleinkinder von null bis drei Jahren bereitzustellen.
 

Niedrige Bezahlung

 
Ein weiterer Grund für die sehr knappen Betreuungsplätze in Südtirol ist die niedrige Bezahlung der Kleinkindbetreuer:innen, durchschnittlich verdienen sie in privaten Einrichtungen 1.300 bis 1.500 Euro netto pro Monat. Trotzdem sollen sie die gleiche Ausbildung wie pädagogische Mitarbeiter:innen in Kindergärten mitbringen, die als öffentlich Bedienstete mehr verdienen und weitere vertragliche Vorteile haben.
„Frauen arbeiten vielfach in unteren Lohnsegmenten, zum Beispiel in der Pflege, der Kinderbetreuung oder im Verkauf. Tendenziell sind Frauenberufe gesellschaftlich und finanziell betrachtet weniger wert als Männerberufe. Und in der Familie machst du es sowieso gratis, das ist eh klar“, meint Christa Ladurner von der Allianz für Familie. „Eigentlich müssten pflegende Berufe, die für das Weiterkommen einer Gesellschaft Sorge tragen, hoch dotiert sein.“
 
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Silke Raffeiner Mar, 09/27/2022 - 13:28

Das Problem der fehlenden Betreuung endet nicht mit dem Eintritt der Kinder in den Kindergarten! Gerade auch für Kinder im Volksschulalter gibt es in Südtirol einen eklatanten Mangel an Nachmittagsbetreuungsangeboten sowie adäquater Mittagsverpflegung! Von der Sommerbetreuung ganz zu schweigen... Von Standards, wie es sie in anderen europäischen Ländern gibt, ist Südtirol meilenweit entfernt. Ich glaube, zu dieser Problematik auch schon einmal einen sehr pointierten Beitrag von Barbara Plagg gelesen zu haben, kann den Link aber nicht mehr finden.

Mar, 09/27/2022 - 13:28 Collegamento permanente
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Martin Sitzmann Mer, 09/28/2022 - 10:14

In risposta a di Silke Raffeiner

Nun ja, mehr fordern kann man immer.
Aber wer Kinder hat, sollte sich schon auch überlegen, ob es Sinn macht, sie den ganzen Tag fremdbetreuen zu lassen. Ich weiß, Wiedereingliederung der Frauen in den Arbeitsprozess usw. Alles gut und recht.
Aber die Verhaltensbiologie schert sich seit Jahrhunderttausenden herzlich wenig um political correctness. Für eine sichere Bindung und gute Entwicklung ist es immer noch das Beste, wenn sich die leibliche Mutter oder der leibliche Vater oder zumindest eine stabile Bezugsperson um das Kind kümmert - sofern sie das Kind mag und sich gerne darum kümmert! Ein Weiterreichen von Kitas oder Kindergarten oder Grundschule in Nachmittagsbetreuung usw. ist suboptimal. Da muss jeder/r selber wissen, wie er die Prioritäten setzen will. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein schönes Schlagwort, kann vielleicht auch organisatorisch irgendwann verwirklicht werden. Ob es im Sinne der gesunden Entwicklung der Kinder ist, ist eine andere Frage.
Ich weiß, dass ich mich damit bei den politisch Korrekten in die Nesseln setze. Aber ich fände es denkbar blöde, wenn wir Menschen uns immer weiter von der Natur entfernen und auch gegen unsere eigene Natur arbeiten, anstatt die Umgebung den Bedürfnissen unserer QArt anzupassen. Was ich damit meine:
-Kinderbetreuung daheim extrem aufwerten,
Eltern, die daheim bleiben, öffentlich rentenversichern und die Zeiten anerkennen.

Mer, 09/28/2022 - 10:14 Collegamento permanente
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Peter Gasser Mer, 09/28/2022 - 11:57

In risposta a di Martin Sitzmann

... dem Kinde gerecht wird eben nicht die “political correctness”: wie Politik und Wirtschaft inzwischen gesicherte Verhaltensforschung und Bindungsforschung ignorieren, ist beinahe fahrlässig.
Menschen ohne gesunde soziale Entwicklung werden weder der Politik noch der Wirtschaft von Vorteil sein.
.
Wer Kinder “weggibt”, erzeugt eben Kinder, die später die Alten auch “weggeben”...
Gesunde Bindung entsteht durch gemeinsam verbrachte Zeit, so einfach ist das.

Mer, 09/28/2022 - 11:57 Collegamento permanente
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Christian I Mer, 09/28/2022 - 13:41

Una amica del Trentino che lavora nella sanità pubblica mi ha raccontato che a differenza dell'Alto Adige non può rimanere a casa per 2 o 3 anni percependo una parte dello stipendio. E quello che le dispiace ancora di più è che non le danno nemmeno un part time! E quindi il suo bimbo di 10 mesi dovrà stare lontano dalla mamma (e dal papà) per 8 ore al giorno. Mi chiedo se questo sia l'impegno della politica per far fronte al calo delle nascite... Almeno da questo punto di vista l'Alto Adige ha delle normative molto più favorevoli per le famiglie.

Mer, 09/28/2022 - 13:41 Collegamento permanente