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„Es stockt bei der Mentalität“

Bischof Ivo Muser über die fehlende Regie bei Notunterkünften hierzulande, die Krise der Kirche, Abtreibung und Zölibat. Priester würde er auch heute noch werden wollen.
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Foto: Othmar Seehauser
salto.bz: Herr Muser, wieso haben Sie sich entschieden Priester zu werden?
 
Ivo Muser: Die Welt des Glaubens und der Kirche hat mich schon als Kind fasziniert und angezogen. Mit dem Älterwerden kommen dann wichtige Fragen. Ist es für mich das Richtige? Wie wird es sein ohne Familie und ohne Kinder? Ich habe gemerkt, wenn ich dazu innerlich nicht Ja sage, dann geht mein Leben nicht in die richtige Richtung. Das spüre ich bis heute. Das ist mein Weg und das, was ich aus meinem Leben machen möchte. Ich hoffe, dass ich am richtigen Platz bin und die Kraft dazu habe. Heute bin ich seit 35 Jahren Priester und sehr dankbar dafür, mich so entschieden zu haben.
 
Wahrscheinlich waren Sie einer der wenigen unter Ihren Gleichaltrigen, die sich für das Priesteramt entschieden haben.
 
Ja, es waren nicht so viele. In meiner Zeit haben sich noch ein wenig mehr, die Frage gestellt, Priester zu werden.
 
 
Stichwort Priestermangel und halbleere Kirchen: Welche Strategien verfolgt hier die Diözese Bozen-Brixen?
 
Ich glaube nicht, dass es mit Strategien getan ist. Es ist eine Entwicklung, die uns langfristig begleitet. Menschen werden in ihren religiösen Empfindungen und Gedanken immer individualistischer und subjektivistischer. Für viele hat die eigene Glaubensüberzeugung nicht unbedingt etwas mit Gemeinschaft zu tun. Das trifft den Nerv des Christseins. Denn Christsein bringt uns immer in eine Gemeinschaft. Wenn der Aspekt in Krise gerät, kommt auch die Kirche in Krise.
 
Also befindet sich die Kirche in einer Krise?
 
Ja, auf jeden Fall. Menschen möchten nicht mehr in erster Linie in Gemeinschaft glauben. Gemeinschaft ist immer auch anstrengend und hat mit Kompromissen zu tun.
 
Ist die Individualisierung der einzige Grund dafür, dass die katholische Kirche an Beliebtheit verloren hat?
 
Nicht der einzige Grund, das wäre zu vereinfacht. Aber in einer sehr subjektiv gefärbten Auffassung vom Leben halte ich mich meistens heraus und fühle mich nicht mehr als integriertes Mitglied. Das erlebe ich auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Ich träume nicht von einer perfekten Gesellschaft und auch nicht von einer perfekten Kirche. Das war sie nie und ist sie auch heute nicht. Wenn Fehler passieren, dann müssen sie bekannt und zugegeben werden. Das ist oft mühsam und fällt auch schwer.
 
Wie wird heute in der Kirche mit sexuellen Missbrauchsfällen umgegangen?
 
Es ist eine schmerzliche Wunde, mit der wir in der Gesellschaft und auch in der Kirche konfrontiert sind. Zum Zugeben und Aufarbeiten gibt es keine Alternative. Es ist kein Problem der Kirche allein, sondern ein zutiefst menschliches und gesellschaftliches Problem. Hier muss man sich an die Seite der Opfer stellen, einen Weg der Versöhnung suchen und dazu beitragen, dass so etwas viel weniger geschehen kann.
 
 
Was unternimmt die Kirche, wenn ein Priester heute zum Täter wird?
 
Wenn das heute vorkommt, muss er angeklagt werden und sich selbstverständlich der weltlichen Justiz stellen.
Was mich besonders nachdenklich macht, ist, dass es Obdachlose gibt, die bei uns arbeiten.
Wieso wurde von der Diözese Bozen-Brixen bisher noch keine Studie zu vergangenen Missbrauchsfällen in Auftrag gegeben?
 
Die Studie ist auf dem Weg und wird von unserem Beauftragten Gottfried Ugolini begleitet werden. Wir arbeiten dafür mit dem ehemaligen Kinderschutzzentrum in Rom an der Gregoriana (das Zentrum an der Päpstlichen Universität heißt nun “Istituto di Antropologia. Studi interdisciplinari sulla dignità umana e sulla cura delle persone vulnerabili”, Anmerkung d.R.) zusammen. Wir wollen uns anschauen, was bei vergangenen Fällen schiefgelaufen ist und was man hätte besser machen sollen, um bessere Präventionsarbeit leisten zu können. Die Studie ist über einen längeren Zeitraum angelegt. Es wird wichtig sein, immer wieder Ergebnisse und Erkenntnisse daraus der Öffentlichkeit und den Medien mitzuteilen.  
 
Der Tod eines Flüchtlings in Bozen vor zwei Wochen erinnert wiederholt daran, dass die Migrationspolitik unzureichend ist. Welchen Beitrag kann hier die Kirche leisten?
 
Die katholische Kirche soll sich selbstverständlich nicht heraushalten. Die Regie für diese Herausforderung darf aber nicht die Kirche übernehmen, sondern das muss in der Hand der politischen Autorität bleiben. Die CAS-Strukturen zur Aufnahme von Menschen müssen wieder eröffnet werden. Die Caritas hat in verschiedenen Strukturen 345 Menschen aufgenommen und betreut sie. In Bozen gibt sie zurzeit jeden Tag mehr als 300 warme Mahlzeiten aus. Das reicht aber leider nicht. Die Anfrage steigt wieder sehr, sehr stark. Das ist ein Phänomen, das die Freiwilligen und die Kirche sicher nicht allein bewältigen können. Es braucht eine konzertierte Aktion unter Führung der Politik, wo kirchliche und nicht-kirchliche Hilfsorganisationen miteingebunden werden. Heute ist eine intelligente und strukturierte Hilfe notwendig.
 
Wie beurteilen Sie die mangelnde Bereitstellung von Schlafstätten?
 
Was mich besonders nachdenklich macht, ist, dass es Obdachlose gibt, die bei uns arbeiten. Ohne Unterkunft besteht aber die große Gefahr, dass sie die Arbeit wieder verlieren. Das geht nicht. Zudem müssten die Notunterkünfte im Winter nicht erst im Dezember geschaffen werden, sondern im Mai. Dabei sind wir alle gefordert, Gemeinden sowie die Kirche, aber die Regie von dem Ganzen muss unbedingt die Politik übernehmen. Damit sind auch juridische und Sicherheitsfragen verbunden.
 
Die Politik ist bei der Migrationsfrage allerdings nicht einer Meinung und die Koordinierung gerät ins Stocken.
 
Wo es stockt, ist bei einer weit verbreiteten Mentalität, von der wir vielleicht alle nicht frei sind. Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Die Flüchtlingsbewegungen werden aus unterschiedlichen Gründen wahrscheinlich zunehmen. Wir müssen uns diesem Problem stellen. Ich weiß, dass es für die Politiker hier oft sehr schwierig ist. Wenn sie eine Entscheidung, in die eine oder andere Richtung treffen, dann werden sie sicher von einem Großteil der Menschen auch in unserem Land kritisiert. Den einen ist alles zu wenig und den anderen alles zu viel.
Abtreibung kann nach christlichem Verständnis nie gerechtfertigt werden.
Wieso werden die Kirchen teilweise nur wenig geheizt?
 
Unsere Pfarrgemeinden haben zum Teil nicht mehr das Geld, die Kirchen auf eine warme Temperatur aufzuheizen. Angesichts der hohen Energiekosten versuchen viele von ihnen halbwegs über die Runden zu kommen.
 
 
Wie beurteilen Sie die katholische Bewegung für das Leben in Südtirol, die sich gegen Abtreibung positioniert?
 
Die Position der Kirche ist hier klar: Abtreibung kann nach christlichem Verständnis nie gerechtfertigt werden. Die wichtige Frage bleibt hier, ob wir in Not geratenen Frauen helfen, damit sie sich für das Leben entscheiden können.
 
Also kann Abtreibung aus Ihrer Sicht in keinem Fall moralisch gerechtfertigt werden?
 
Wenn Leben heilig ist, dann ist Leben auch unverfügbar – ohne jemanden verurteilen zu wollen.
 
Wieso wurde 2021 von der Diözese die Arbeitsgruppe „Glaube und Homosexualität“ gegründet?
 
Es gibt Menschen, die homosexuell sind und gleichzeitig einen Weg des Glaubens gehen möchten. Mit diesen Menschen in Kontakt zu sein und gemeinsam mit ihnen diesen Weg zu gehen, das ist der Sinn der Arbeitsgruppe.
 
Wie beurteilen Sie die Forderung, dass Frauen das Priesteramt ausüben dürfen?
 
Dieser Wunsch ist auch in unseren Breiten und in unserer Diözese sehr stark vorhanden. Man muss aber sagen, dass Papst Franziskus diese Frage in aller Deutlichkeit für entschieden erklärt hat. Das heißt nicht, dass Frauen weniger wertvoll sind, weil sie nicht Priesterinnen werden können. Das hat damit absolut nichts zu tun.
Wenn ich aber zur evangelischen Kirche schaue, wo die Fragen der Ehelosigkeit und der Frauen ganz anders gelöst sind, dann haben sie durchaus große Nachwuchssorgen.
Wollen Sie sich hier keine persönliche Meinung erlauben?
 
Doch, ich denke, dass der Hintergrund hier die Heilige Schrift und die 2000-jährige Tradition der Kirche ist. Und vor allem können Fragen nicht so gelöst werden, dass die Kirche auseinanderbricht. Momentan wäre es so, dass sich in der weltweiten Gemeinschaft der Kirche an dieser Frage sehr große Fronten auftun würden.  
 
Was halten Sie von der Aufhebung des Zölibats?
 
Das wäre jederzeit möglich, weil da die Kirche große Kompetenz hätte. Es könnte verheiratete Priester geben, es gibt sie auch schon im ostkirchlichen Kontext. Der Zölibat müsste nicht sein, ich persönlich sehe einen großen Wert in dieser Lebensweise. Es ist die Lebensweise Jesu. Und wenn der Zölibat versucht wird gut zu leben, schenkt er uns einen großen Freiraum für die Seelsorge und für die Verkündigung des Evangeliums.
 
Könnte die Kirche mit der Aufhebung des Zölibats nicht mehr Priester für sich gewinnen?
 
Der eine oder andere würde sich sicher daraufhin dafür entscheiden. Wenn ich aber zur evangelischen Kirche schaue, wo die Fragen der Ehelosigkeit und der Frauen ganz anders gelöst sind, dann haben sie durchaus große Nachwuchssorgen. Die evangelische Kirche ist diesbezüglich und deswegen keineswegs lebendiger oder attraktiver als die katholische Kirche.
 
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gorgias Dom, 12/25/2022 - 15:59

Die Kirche baut ab, weil sie an Glaubwürdigkeit verliert. Bei den Missbrauchsfällen wird weiter mit Hinhaltetaktik gearbeitet. Aber überall in der Gesellschaft will die Kirche mitmischen und abkassieren.

Die Zukunft der Kirche in Südtirol ist wohl auch vorgezeichnet:
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-12/kirchenaustritte…

In Deutschland gehört die Mehrheit zu keiner der großen Konfessionen an:
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/kirche-katholisch-oder-eva…

In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird die Gruppe der Konfessionslosen jene der Christen übersteigen.
Die Kirche in Südtirol wird auch in Südtirol seine Relevanz nur noch als Immobilienverwalter behalten.

Dom, 12/25/2022 - 15:59 Collegamento permanente
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Dietmar Nußbaumer Dom, 12/25/2022 - 18:57

Kürzlich, in einem weihnachtlichen Interview, erwähnte Gregor Gysi, dass er zwar nicht an Gott glaube, sich aber vor den Gottlosen fürchten würde. Und erzählte auch, dass er einmal gebeten wurde, von der Kanzel herab eine Predigt zu halten, wobei er Auszüge aus der Bergpredigt interpretierte. Mir hat imponiert, dass Gysi, obwohl bekennender Atheist, sich nicht darauf reduziert, blind zu kritisieren (was z.Z. ja recht in ist, darf ich auch als einer sagen, der seine aktive Zeit mit dem Ministrantenkittel abgelegt hat, übrigens ohne je schlecht behandelt worden zu sein).

Dom, 12/25/2022 - 18:57 Collegamento permanente
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Johann Georg B… Lun, 12/26/2022 - 09:53

Die Kirche ist wie die SVP verliert täglich.
Wenn Jemand den Artikel gegau gelesen hat, dann steht das Ich an erster stelle.
Ich und wieder Ich. Die Kirche ,it Ihren ghenzen Imobilien hat platz für Notleidenede , leider siebt sie dieses Poblem den Gemeinden zu.
Die Bettlerei der Kirche ist nicht mehr zu ertragen.
Scheinheilig wie immer presentierten sich die Herrn Gottes.

Lun, 12/26/2022 - 09:53 Collegamento permanente